Warum den Jungen noch was vorheulen?

Essay zum Thema Fortschritt

von  eiskimo

Sie sind inzwischen Teil unseres Lebens. Niemand hat nach ihnen gefragt oder wollte sie wirklich haben. Jetzt sind sie einfach da, diese neuen Begleiter  – angeblich zu unserem Wohl....
Eine erste Art dieser ungebetenen Wohltaten erreicht uns durchs  Essen.
Da genießen wir  – wie gesagt, ohne es bestellt zu haben – immer mehr prachtvolles Obst und Gemüse aus südlichen Gefilden, schön in Zellophan verpackt, in Optik und Haptik Eins A..... aber leider völlig aromafrei. Tomaten, die nach nichts schmecken, völlig geschmacklose Erdbeeren, mehlige Aprikosen, selbst die simplen Kartoffeln ….. zum Vergessen.
Von industriell gefertigtem Fast-Food, überzuckerten Süßigkeiten und übersalzenen Fertigspeisen noch ganz zu schweigen. Wer steckt eigentlich  hinter dieser ferngesteuerten Neuausrichtung des Marktes? Warum lassen wir uns ausgerechnet bei unseren Lebensmitteln so viel Minderwertiges unterjubeln?
Nach den Eingriffen in unseren Geschmacksinn, jetzt zu unserem Gehör. Auch da werden wir mit Minderwertigem abgespeist, Stichwort: Verständlichkeit. Egal bei welcher Sendung oder Anstalt: Die Akteure nuscheln und schnoddern mehr und mehr vor sich hin, so, als hätten sie von Sprachtraining noch nie gehört. Natürlich wollen die Produzenten eines Tatorts oder der Samstagabend-Show authentisch ´rüberkommen. Aber die Inhalte des Gesagten sollte man schon mitbekommen.
Aber auch im Radio werden inzwischen die Texte in ein sogenanntes Musikbett gelegt, Nachrichten auf diese Weise künstlich „dramatisieret“ -  welche Hörergruppe will denn so etwas?  Und warum dieses Ablenken vom Eigentlichen?
Dass der Fortschritt dem Gehör auch immer mehr „Nebengeräusche“ zumutet, von Fluglärm über den hohen Geräuschpegel von Auto-und Eisenbahntrassen bis hin zu den unvermeidlichen Gartepflege-Geräten, das sei hier nur ergänzend erwähnt - nicht ohne den Hinweis, dass diese akustische Belastung Anrainer krank macht.
Kommen wir zu den Augen. Da treibt es der moderne lifestyle mit seiner visuellen Überfrachtung  inzwischen besonders bunt.  Bilder, Bildschirme und Displays begleiten uns von früh bis spät. Von den Leuchttafeln und Reklamewänden an der Bushaltestelle über animierte Werbetafeln am Straßenrand über die Manga-Clips im Smartphone des Mitreisenden - es flimmert und zappelt in einem fort. Immer aggressiver werden die Reize, die unsere Augen überfordern, und immer mehr stumpfen wir ab.  Hat irgendeiner je nach mehr Animation und Buntheit in unserem täglichem Umfeld verlangt? Wollte wirklich jemand die Bildschnitte bei TV-Filmen verkürzen?  Weil länger als drei, vier Sekunden empfände der Zuschauer ja als „langweilig“. Folge:Es gibt kaum mehr Pausen für die Augen. Der ganze Planet leidet mittlerweile unter Licht-Verschmutzung.
Fehlt noch das Thema „Gefühl“. Zum Beispiel unser Gefühl für Geld, für den Rang und den Wert von Bargeld. Die einzelnen Münzen aus dem Portemonnaie zu kramen und damit ganz konkret den Gegenwert eines Kaufes zu „fühlen“, das ist etwas anderes als mit der „Karte“ zu „wischen“. So schön einfach es sein mag:  Bargeldloses Zahlen verringert das Kaufbewusstsein und damit auch die Kontrolle über die Menge der getätigten  Einkäufe.
Auch hier ist wieder diese „nicht aufzuhaltende Entwicklung“ im Gang, die uns über kurz oder lang  „befreien“ wird von der Last der lästigen Münzen.  Das Online-Shoppen, das durch Corona so populär geworden ist, hat da nur den Anfang gemacht. Auch der persönliche Einkauf vor Ort wird bald nur noch bargeldlos ablaufen können. „Fortschrittliche“ Länder wie Schweden praktizieren das schon – auch die 50 Cent fürs Klohäuschen zahlt man da schon per Karte.
Es mag hygienischer sein, es mag viel Zeit und Personal sparen. Aber es bewirkt vor allem ein Stück De-Humanisierung. Service-Leistungen, die früher Anlass boten für ein Pläuschchen, also für eine menschliche Begegnung, vollziehen sich jetzt non-verbal, als Transaktion am Automaten. Das Einkaufen beim Discounter erledigen wir .. stumm! Wie sollen da Kinder noch ein „Gefühl“ entwickeln für Begegnung und spontane Kommunikation?
Die vielgepriesene Digitalisierung wird immer mehr Lebensbereiche „entmenschlichen“, uns also weiter entfremden.
Frage: Wollen wir das wirklich? Hat man diesen Wandel je thematisiert?  Gibt es weitere Risiken, vielleicht dramatische Nebenwirkungen?
Nein, es ist nicht einfach, als älterer Mensch dieses immer dichtere, stets weiter optimierte Leben mit permanenten Neuerungen als Gewinn wahrzunehmen. Man ist ja mit der früher gebotenen einfachen Kost aufgewachsen: Kartoffeln, die nur nach Kartoffeln schmeckten, ein Mal in der Woche abends im Bett noch heimlich am Radio einem Hörspiel lauschen,  tagelang auf einen  im Urlaub fotografierten Film warten, auf den Postboten, den man noch mit Namen kannte....
Wie soll man das den jungen Leuten vermitteln?  Soll man es ihnen überhaupt vermitteln? Die wissen ja gar nicht, wie gute Kartoffeln schmecken. Was Langeweile ist. Zweckfreie Begegnung Warum ihnen also – falls sie überhaupt zuhören -dieses traurige Gefühl eines Verlustes vorheulen?
Schweigen wir lieber.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (14.07.21)
Etwas arg langarmige Konsumrkritik. Konkretes mit diesen Bezug zu lesen wäre interessanter.

 eiskimo meinte dazu am 14.07.21:
Danke für das Feedback. Habe die "langarmige" Version gegen eine kurzärmelige getauscht...Konkreter ging es aber nicht.

Antwort geändert am 14.07.2021 um 22:23 Uhr

 AZU20 (14.07.21)
Du hast den Kern wieder getroffen. LG

 Graeculus (14.07.21)
Seit Tausenden von Jahren klagen die alten Leute über den Verfall der Sitten. Wir aber sind die erste Generation, die damit recht hat.

 eiskimo antwortete darauf am 14.07.21:
Das Tempo des sog. Fortschritts nimmt ja auch enorm zu, bei 8 Mrd. Menschen hat das schon Wucht...

 EkkehartMittelberg (14.07.21)
hallo eiskimo,
aus meiner Sicht hast du mit jedem Kritikpunkt recht. Das Fatale ist, dass der sog. Fortschritt offensichtlich a way of no return ist.
LG
Ekki

 eiskimo schrieb daraufhin am 14.07.21:
Oh, yes... es scheint so! Aber ich habe hier einen Gärtner getroffen, einen älteren Herrn, der hat noch alte Obst- und Gemüsesorten. Er mag auch reden und zuhören. Und er nimmt gerne noch Bargeld. Mir ist geholfen.
LG
Eiskimo
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