Der alte Mann am Ende der Messe

Tagebuch zum Thema Leben/Tod

von  tulpenrot

Völlig planlos schalte ich heute Morgen den Fernseher an und lande zufällig bei einer Gottesdienstübertragung. Die Kameraeinstellung liefert einen Gesamtüberblick: Der hohe ehrwürdige Altarraum mit dem Priester und seinem Messdiener, die wenigen, verloren wirkenden Gläubigen in den Kirchenbänken. Die Messe ist in diesen Minuten zu Ende gegangen, nur die Orgel ist zu hören. Gerade eben verlässt ein weißhaariger alter Mann leicht gebückt als einer der Ersten – die anderen zögern noch - die Kirchenbank, stützt sich dabei auf seinen Schirm, überquert den Mittelgang,  vorbei am Altar. Er hält kurz inne, bevor er hinter einer Säule verschwindet.

Der Mann hat einen baumwollenen Einkaufsbeutel bei sich. Vermutlich will er nach dem Besuch der Messe noch kleine Besorgungen machen, denke ich. Vielleicht lebt er alleine und will auf dem Heimweg im Einkaufsviertel schnell noch beim Bäcker vorbeigehen, um Brötchen fürs Frühstück zu besorgen, könnte ich mir denken. Wir mussten früher immer nüchtern zur Messe kommen, wenn man zur Kommunion gehen wollte – und eigentlich ging man immer. Das Frühstück gab es erst hinterher.  Die heilige, geweihte Hostie durfte im Magen nicht mit dem profanen Brot zusammenkommen, war die Begründung für das Hungern vor der Messe. Ob das heute immer noch so ist? Es sind mehr als sechzig Jahre her. 

Die Kamera hat auch den Priester und  den Messdiener im Blick. Sie streben vom Altar aus im Mittelgang der Sakristei zu, die weit abseits von den Gottesdienstteilnehmern liegt. Niemand würdigt die Orgelmusik, die den Kirchenraum erfüllt. Niemand bleibt sitzen, alle sind aufgestanden und gehen nach einander hinaus. So verkommt das Orgelspiel zu einer beiläufigen Untermalung des Übergangs von der Würde der Messe zur Trivialität des Alltags.

Nur wenige Menschen haben der Messe beigewohnt. Meist ältere Menschen. Wer von den Jüngeren hat an einem Werktag schon um diese Uhrzeit Zeit für einen Gottesdienstbesuch? Aber auch an Sonntagen, also  zu anderen Uhrzeiten, sind es meist die Alten, die vor allem regelmäßig im Gottesdienst sitzen. Ein Verdacht kommt auf: „Frommsein“ ist also nur etwas für gefühlsduselige und vergreiste Menschen? Für Alte, die nichts anderes oder Besseres zu tun haben, als in die Kirche zu gehen? Da treffen sie immerhin Gleichgesinnte, andere Alte. Man wird gesehen. Und die soziale Kontrolle funktioniert hier noch. Zumindest in ländlichen Regionen. Ob gut, ob schlecht, will ich nicht beurteilen. Ist das ein hinreichender Grund für ihr Hiersein?

Jetzt bin ich inzwischen selber alt und gebrechlich. Da kommt schon häufiger das Gefühl auf, nicht mehr viel Zeit für das Leben zu haben. Aus dieser Perspektive gibt es viel zu bedenken. Dabei beschäftigt man sich immer wieder auch mit dem Lebensende, mit dem Abschiednehmenmüssen, mit Gedanken an Dinge, die den Abschied erleichtern könnten, nicht mehr mit oberflächlichen Belanglosigkeiten. Die Zeit, die noch bleibt, soll eine gehaltvolle Zeit werden, ein Atemholen und eine Stärkung für die letzte Reise. Man weiß ja nicht, wie lange sie dauert. Man will vorbereitet sein.
Daher kann ich betagte Menschen verstehen. Sie suchen Trost, Halt, weil die Schritte unsicherer werden. Wenn nach und nach Freunde und Bekannte wegfallen, sei es durch Tod oder Krankheit. Wenn es stiller und einsamer wird. Ein Gottesdienstbesuch ist daher nicht nur leichtfertige Gefühlsduselei, sondern ein tiefes Bedürfnis nach Worten und Geschehnissen, die ins Innere vordringen, die der Seele eines Menschen Nahrung geben. Nachhaltig sollen sie sein und immer wieder den Hunger stillen. So erhofft man es jedenfalls.

Wie es dem betagten Mann wohl heute ergeht? Es beschäftigt mich.

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Kommentare zu diesem Text


 franky (19.08.21)
Hi liebe Tulpe

Du beschreibst hier eine sehr düstere Stimmung,
die aber der heutigen Zeit entspricht.
Kann es gut nachvollziehen.


Liebe Grüße von Franky

 tulpenrot meinte dazu am 19.08.21:
Lieber Franky,
das ist ja weniger schön, wenn der Text düster rüberkommt. Das sollte er nicht sein. Nachdenklich ja, aber düster?
Aber danke, dass du dich dennoch damit befasst und ihm 2 Sternchen gegeben hast.
Schönen Abend noch
Angelika

 Quoth (19.08.21)
Ja, "der Mensch lebt nicht von Brot allein", Tulpenrot, und diese Erkenntnis wird in der Zeit der Berufstätigkeit und des Familienaufbaus überdeckt von dem Streben nach Brot, während im Alter die Frage nach dem Sinn sich aufdrängt: Nach dem Sinn im eigenen Lebensverlauf, nach dem Sinn im Weltgeschehen, das hast Du gut erfasst, und für manche Ältere sind die Kirchen eben der Ort, an dem sie Sinnhaftes zu finden hoffen - oft genug vergebens; mir genügt meist schon ein Blick in den Psalter. Gruß Quoth

Kommentar geändert am 19.08.2021 um 17:53 Uhr

 tulpenrot antwortete darauf am 19.08.21:
Das stimmt für viele Menschen. Aber es ist keinesfalls falsch, sich auch schon als jüngerer Mensch um diese Fragen zu kümmern. Nicht erst im Alter, wenn vieles sehr beschwerlich ist und viel Kraft kostet. Dass die Suche nach guten Gemeinden und Predigern, die einem liegen, ist manchmal auch sehr nervenaufreibend. Und manchmal ist das eigene Bibelstudium - du liest den Psalter, schreibst du - eine hilfreiche Beschäftigung.
Danke für deine Beschäftigung mit meinem Text und die Empfehlung
tulpenrot

 Quoth schrieb daraufhin am 19.08.21:
Es ist nicht nur hilfreich und nicht nur manchmal. Aber ich komme eben aus der protestantischen Ecke, wie Du Dir wohl denken kannst! Gruß Quoth

 tulpenrot äußerte darauf am 19.08.21:
Nur zur Ergänzung: Ich bin nur in meiner frühen Kindheit katholisch gewesen, während des Studiums jedoch bin ich evangelisch geworden und hab im Laufe des Lebens viele evangelische "Stilrichtungen" kennen gelernt.
"Es ist nicht nur hilfreich und nicht nur manchmal." kann ich vollkommen unterstreichen.
Viele Grüße
tulpenrot

 AZU20 (19.08.21)
Mich auch. LG

 tulpenrot ergänzte dazu am 19.08.21:
Gut, dann haben wir was zu (be)denken.
Danke und viele Grüße

 AchterZwerg (20.08.21)
Der alte Mann ist auch aus meiner Sicht der interessanteste Protagonist.
Sein Handeln ist noch in die Zukunft gerichtet (Einkaufsbeutel), gleichwohl hält er am Altar kurz inne, als ahne er bereits die Vergeblichkeit seines Tuns.
Das Orgelspiel verklingt im allgemeinen Aufbruch ungehört.

Eine sehr schöne, zarte Erzählung mit passenden Bildern.

:)

 tulpenrot meinte dazu am 20.08.21:
Ja, der alte Mann hat es mir angetan. Er stand einen kurzen Moment vorne, andächtig und ehrerbietig. (Das stand in meinem ursprünglichen Text nicht. Ich hatte ihn aus der Erinnerung geschrieben und hab dann gestern in der Mediathek noch mal die Aufzeichnung des Gottesdienstes nachgesehen und meinen Fehler bemerkt - was für mich interessant war. Wie man sich täuschen kann!)
Ich bedauere immer die Organisten, deren Können am Schluss des Gottesdienstes meist untergeht. Zum Glück ist das hier in meinem jetzigen Wohnort anders, da setzt sich die Gemeinde nach dem Schlusssegen noch mal hin und hört still zu.

Mich beschäftigt diese kurze Szene schon seit Tagen.

Vielen Dank und Grüße

 Willibald (20.08.21)
Vor einem Monat war ich in Neuburg a.d. Donau, dort in der Nähe ein Dorf namens Bergen mit einer barocken kleinen Kirche. Ich fand in der Kirche zu meiner Verblüffung eine romanische Krypta:



Mir immer wieder rätselhaft, was da den Skeptiker anspricht. Und das bei einer katholischen Kindheit mit einer Kirche, die einen beengte und Sündenangst ("Todsünde") erzeugte.

Kommentar geändert am 20.08.2021 um 11:49 Uhr

 tulpenrot meinte dazu am 20.08.21:
Es ist immer wieder erstaunlich, dass Kirchengebäude so eine Wirkung haben. Dass Menschen berührt sind von der Atmosphäre eines gottesdienstlichen Raumes. Abgesehen von der Architektur oder dem Raumklang bei Konzerten. Sie laden zum Verweilen und zum Zur-ruhe-kommen ein oder machen fröhlich.
Manche Gebäude aber wirken auch düster und daher abstoßend.
Doch "Kirche" kann sich auch in nichtsakralen Orten ereignen. Z.B. die vielen Gottesdienste, die z.Zt. im Freien stattfinden.
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