Ganz großes Auto-Kino

Anekdote zum Thema Fortschritt

von  eiskimo

Vorspann:
Frankreichs Tankstellen-Netz, so meine jetzt mehrmonatige Erfahrung, zeichnet sich durch ein hohes Maß an Automatisierung aus. Keine Kassenhäuschen mehr, kein Dienstpersonal, nur noch Kartenzahlung an den allzeit betriebsbereiten interaktiven Zapfsäulen.
Leider ist das Menü an diesen Self-Service-Portalen nicht für alle Zeitgenossen sofort verständlich – mit der Automatisierung hapert es dann. Hier das  Protokoll einer kinowürdigen Betankung, erlebt  in einem Provinzstädtchen, das am Markttag gut besucht war... auch an besagter Tankstelle.
Hauptfilm:
Mein Vordermann in der Warteschlange war schon älter. Als er endlich seinen Renault Laguna parallel zur Tankapparatur geparkt hatte, dauerte es etwas mit dem Aussteigen. Er ging dann aber ziemlich  entschlossen in Richtung Zapfpistolen. Es gab deren drei. Eine für „Gazole“ und zwei für „Sans plomp“, nämlich die für 95 Octan und die für 95 Octan E10. Letzteres war laut Display das billigste, es schien dem guten Mann aber nicht geheuer. Er rief etwas in Richtung seiner offenen Fahrertür. Im Inneren saß seine Frau, die aber nicht begriff, worum es da ging, denn Monsieur machte eine wegwerfende Handbewegung und grummelte nur noch halblaut. Dann beugte er sich ganz langsam runter zu seinem aufgeklappten Tankverschluss, nahm die Brille ab und las, was da auf der Innenseite an Kleingedrucktem stand. Er richtete sich langsam wieder auf, las, was die Tanksäule ihm dazu versprach, beugte sich erneut runter und verglich. Es folgte das sorgfältige Wieder-Aufsetzen der Brille.
Dann griff er beherzt die Zapfpistole mit E10 und führte diese behutsam in den Tankstutzen seines Laguna. Eine quäkende Stimme unterbrach diesen weihevollen Akt – die Zapfsäule verlangte erst noch  seine Kreditkarte. „Oui,oui,oui,“  beeilte sich der Monsieur zu versichern.  Pistole zurück und dann die Suche nach besagter Karte. Natürlich lag sie noch im Auto, und natürlich hatte Madame diese in Gewahrsam.
Ganz offenbar vertraute Madame dem Fahrer nicht, denn sie stieg mit sichtlicher Mühe aus dem Laguna aus, um dann mit sichtlicher Mühe unterm Sitz die Handtasche hervor zu wühlen. Und dann die Brille aus derselben. Und dann das Etui mit der Kreditkarte. Und dann, Minuten später, erlebte ich ihr gemeinsames Suchen  nach dem  Kreditkarten-Slot am Automaten, der auch prompt wieder loskrähte – ob sie denn eine Quittung wünschten. „Oui, oui!“
Und welche Pistole war nochmal die mit E10?  Die Zapfsäulen-Stimme bewahrte die Ruhe, rief Monsieur einfach dazu auf, doch bitte die richtige Pistole zu entnehmen.
Das saugende Geräusch der dann endlich aktivierten Tankleitung löste im Gesicht unseres Tank-Helden so etwas wie freudige Begeisterung aus. Triumphierender Blick in meine Richtung, als er endlich seinem Laguna neuen Lebenssaft einflößen konnte.
Hatte er etwa bemerkt, dass da einer hinter ihm wartete? Nein.
Natürlich wollte er den Tank dann auch randvoll kriegen. Unfassbar, was so ein Laguna fasst, wenn man ihn ganz langsam befüllt.
Dass Madame am Ende noch mit einiger Mühe zwei olivgrüne Jerrycans aus dem Kofferraum hievte, die auch mit E10 abgefüllt werden wollten, sei nur noch am Rande erwähnt. Und dass ich dann tatsächlich ausstieg, auch.  Nein, nicht um vollends auszuflippen und um mich zu schlagen. Wieso auch?  Ich hatte ja längst gemerkt, dass ich da bestes Kino erlebte. Ganz großes Auto-Kino. Also habe ich den beiden so lebensnahen  Darstellern dieser Slow-Motion-Darbietung freundlich geholfen, die beiden 20-Liter-Kannister zurück in ihren hübschen Laguna zu bugsieren. Die brauchten sie für ihren Rasen-Aufsitz-Mäher, wie sie bereitwillig darlegten. Der führe ja nicht von alleine....
Abspann:
Kurz danach an derselben  Säule, da  beherrschte ich das Prozedere des Tankens natürlich viel schneller. Der gewünschte  Kraftstoff „Gazole“, Tankstutzen offen, die Kreditkarte griffbereit und zack, schon  im Slot -  doch  …..  „carte refusée!“
Nicht alle Tankautomaten in Frankreich akzeptieren deutsche Kreditkarten.  Aber es hat schon viel  "grande élégance", wenn sie einem dieses „Karte abgelehnt“ in bestem Deutsch entgegen gurren.

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Kommentare zu diesem Text


 franky (24.08.21)
Hi Eiskimo
Da hattest du ja ganz schön deine Nerven im Griff!
Und mit was hast du deine Ente dann wiederbelebt?

Grüße von Franky

 Willibald meinte dazu am 24.08.21:
Feine Textur, ohne Schenkelpatscherpassion, umso erheiternd, und der Leser freut sich mit dem Erzähler über den Film, den sie da sehen.

 eiskimo antwortete darauf am 24.08.21:
Danke für so viel Zuspruch und Miterleben!
Manchmal muss man einfach an seinem sehr subjektiven Zeitgefühl arbeiten, um Zen zu werden....
LG
Eiskimo

 AZU20 (24.08.21)
Was für ein Erlebnis. Nerven im Griff. LG

 eiskimo schrieb daraufhin am 24.08.21:
Entschleunigung ist Alles! Vielleicht war ich ja das Problem.
LG
Eiskimo

Antwort geändert am 24.08.2021 um 13:26 Uhr

 TassoTuwas (24.08.21)
Derartiges Geschehen ist auch hier regelmäßig zu erleben.
Tatort: Kontoauszugsdrucker, Täter: ältere Person, vorzugsweise weiblich.
Wie lange nach der Checkarte gesucht wird, schließlich ist es ja völlig überraschen, dass der Automat sie braucht und dann die Brillensuche beginnt, wie oft die Nase nach jedem Tastendruck an das Display rückt, wie gründlich der Auszug einer Prüfung unterzogen wird, bevor er akkurat mehrfach säuberlich gefaltet wird, wozu die Handtasche aber komplett aus- und wieder eingeräumt werden muss, bevor er darin verschwindet, aber das Gerät wird erst verlassen nach dem festgestellt wurde, dass auch wirklich nichts liegen geblieben ist.
Der Höhepunkt ist dann, mit verächtlichem Blick, auf die inzwischen angewachsene Warteschlange, seelenruhig den Tatort zu verlassen!
LG TT

 eiskimo äußerte darauf am 24.08.21:
Dein Film wäre aber auch oskarverdächtig, vor allem, wenn nicht nur das eigene Konto abgefragt wird, sondern auch noch ein zweites und drittes.
Haarig wird es, wenn man es wirklich eilig hat.
geduldgestählte Grüße
Eiskimo

 AchterZwerg ergänzte dazu am 25.08.21:
Nein,
es lebt sich nicht leicht in einer automatisierten Welt!
Deine treue Leserin muss aber an dieser Stelle bekennen, dass sie selbst schon öfter Schwierigkeiten mit Fahrscheinautomaten hatte, die allerdings nicht eben selten defekt sind.
Ach, wie schön waren doch die Zeiten der Schaffner mit ihren bildschönen Kleingeldausgabegeräten am Hals und die der freundlichen Tankwarte.
Nostalgische Grüße
der8.

P.S.: Als Bikefahrerin gibt es übrigens auch eine spannungsgeladene Methode, die Hintermänner zu peinigen. Indem man nämlich seine Reifen an der Tankstelle behutsam aufpumpt - nicht ohne die Gebrauchsanweisung zuvor gründlichst zu studieren ...

Antwort geändert am 25.08.2021 um 07:01 Uhr

 TassoTuwas meinte dazu am 25.08.21:
Lieber Zwerg, ich verrate dir was.
Irgendwann ist in mir die Erkenntnis gereift, dass ich mich in einem Alter befinde, wo ich ein Recht darauf habe den Mitmenschen mit unverständlichen Aktionen und Penetranz auf die Nerven zu gehen.
Das Problem war, wie und wo kann ich mich effektvoll dieses Tätigkeit widmen?
Da erzählte mir jemand von KV
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