Johnny Cash

Essay zum Thema Lebensweg

von  Graeculus

Musikalisch kann man von Johnny Cash halten, was man will; darüber möchte ich nicht streiten. Aber er ist bemerkenswerterweise mehrmals in Gefängnissen aufgetreten. Nicht in solchen für die leichteren Fälle, Diebe und Drogendealer. Folsom Prison und San Quentin. San Quentin vor allem ist berüchtigt. Da saßen die richtig schweren Jungs ein: Mörder, Vergewaltiger, Kinderschänder. Da gibt es sogar eine Gaskammer, da wurden Menschen hingerichtet.

Die erste Entscheidung ist die, ob man die Leute dort verrotten läßt oder hingeht und ihnen ein Konzert gibt. Johnny Cash hat sich entschieden, dort aufzutreten.

Die zweite Entscheidung ist die, was man vor solchen Leuten auf die Bühne bringt. Was singt man dort? Idyllische Lieder sind da wohl fehl am Platze, und ich vermute, daß manche Musiker überhaupt kein Repertoire für solche Gelegenheiten hätten.
Das ist eine echte Herausforderung, vor der übrigens auch so mancher schöngeistige Literat kapitulieren müßte.

Unter anderem hat Johnny Cash ein eigenes Lied für diese Kriminellen vorgetragen:
San Quentin, what good do you think you do?
Do you think I’ll be different when you’re through?
You bend my heart and mind and you warp my soul,
And your stone walls turn my blood a little cold.

San Quentin, may you rot and burn in hell.
May your walls fall and may I live to tell.
May all the world forget you ever stood.
And may all the world regret you did no good.

San Quentin, I hate every inch of you.
Das kam gut an beim Publikum, der Saal tobte. Die Häftlinge, in ihrem Leben nicht gerade mit Verständnis und Abwechslung verwöhnt, hatten etwas, womit sie sich emotional identifizieren konnten.

Auffallend ist sowohl in Folsom als auch in San Quentin, daß, wie man bei den Filmaufnahmen feststellen kann, keine bewaffneten Wachen vor der Bühne zu sehen sind. Es gab sie sicherlich, doch sie blieben im Hintergrund. Vor der Bühne, direkt im Angesicht von Johnny Cash, saßen nur die Jungs in den gestreiften Anzügen mit den Nummern auf dem Rücken.
Er hat sich dem ohne unmittelbaren Schutz ausgesetzt.

„A Boy Named Sue“, sein Lied über einen Jungen, der von seinem Vater einer harten Welt ausgesetzt wird, durfte im Programm nicht fehlen. Aber beeindruckt haben mich vor allem diese Verse auf San Quentin:
May your walls fall and may I live to tell.
May all the world forget you ever stood.
And may all the world regret you did no good.
Ist das eine Antwort auf eine Welt von Schwerverbrechern? Ich habe mich erinnert an die Worte des Zhuangzi:
"In Tsi würde ich zu den hingerichteten Verbrechern gehen. Ich würde sie aufrichten und stützen, meine Feierkleider ausziehen und sie damit bedecken. Dann würde ich zum Himmel schreien und sie beweinen. Ihr Männer, ihr Männer! Die Welt ist in großem Elend, und ihr seid zuerst hineingeraten!“ -

Es heißt wohl: du sollst nicht rauben! Es heißt wohl: du sollst nicht töten! Dadurch, daß Ehre und Schmach eingeführt wurden, begannen die Menschen auf das zu sehen, was ihnen fehlte; dadurch, daß Gut und Geld angehäuft wurden, erblickten die Leute Dinge, um die sie sich stritten. Wenn man nun Dinge einführt, die den Menschen Schmerz bereiten; wenn man Güter anhäuft, um die die Menschen sich streiten; die Leute in Bedrängnis bringt, daß sie keinen Augenblick mehr Ruhe finden, und dennoch verlangt, daß sie sich an jene Gebote halten, will man da nicht etwas Unmögliches?

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (10.09.21)
Zum Glück war Johnny Cash Kulturschaffender. Da kann man über den prügelnden Mann schon Mal hinwegsehen.

 Graeculus meinte dazu am 10.09.21:
Sieh an! Ich hatte schon den Eindruck, daß er mit den Häftlingen sympathisiert. Er wußte, wie rasch man zum Mörder wird.
Ich meinerseits ahne es.

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 11.09.21:
So mancher prügelnder Klempner hoffte vergebens auf auf so eine vergebende Umwelt.

 Graeculus schrieb daraufhin am 11.09.21:
Ich sehe mich hier nicht in der Rolle zu vergeben; aber ich muß auch niemanden beschuldigen.

Interessant finde ich den Gedanken des Zhuangzi, der mir schon viel früher - unabhängig von Johnny Cash - bemerkenswert erschienen ist. Doch darauf ist niemand eingegangen.
Wie werden Verbrecher zu Verbrechern?

 TrekanBelluvitsh äußerte darauf am 11.09.21:
Der österreichische forensische Psychologe Thomas Müller meinet einmal (sinngemäß): "Niemand wacht morgens auf und denkt: "Heute bring ich jemanden um":" Demnach haben wir es auf jeden Fall mit einem Prozess zu tun. Und solche Prozesse laufen in der Regel über Jahre. Also fließen sehr viele Punkte mit ein. Allerdings kann man einige Punkte, die alle Verbrecher - mehr oder weniger - aufweisen, annehmen.

-) geringe Frustrationsgrenze

und damit im Zusammenspiel:

-) mangelnde Fähigkeiten mit Frustrationen umzugehen
(gemeint sind hier Fähigkeiten und Taktiken;

die die Frustrationen auflösen und die mit ihnen verbundene Problematik nur in eine andere transformieren. So ist z.B. Sucht eine Frustrationsbewältigungtaktik, die auf Dauer nicht funktioniert.
-) übertriebene Erwartungshaltungen;

gegenüber anderen Menschen, Dingen oder Organisationen = Frustrationen
-) geringes Selbstbewusstsein;

gerade das spielt ja z.B. bei Hochstaplern eine große Rolle, denen es meistens nicht allein um den materiellen Wert geht sondern in der Regel auch um die Anerkennung des sozialen Umfelds.

-) die Häufigkeit von Konflikten an sich;

viele Menschen auf begrenztem Ort = viele Konflikte = viele Verbrechen

und - GANZ WICHTIG:

-) die Gelegenheit;

den meisten Menschen ist ihr sozial abweichendes Verhalten, wenn sie ein Verbrechen begehen durchaus bewusst. Darum werden Verbrechen in Situationen begangen, in denen der/die Täter*in die Möglichkeit sieht, nicht erwischt zu werden. Dabei geht es nicht nur um die Gefahr durch "klassische" Bestrafung (Freiheitsentzug), sondern vor allem auch soziale Ächtung. Darin begründet liegt z.B. der Versuch vieler Straftäter, in Gerichtsverfahren ihren Opfern eine Art Mitschuld zu geben.

 Graeculus ergänzte dazu am 12.09.21:
Den Thomas Müller kenne ich. Der geht offensichtlich als Psychologe an die Frage heran und ignoriert den Aspekt, auf den es Zhuangzi gerade ankommt: die die Bedingungen in der Gesellschaftsstruktur. Das ist quasi (!) marxistisch 2300 Jahre vor dem Marxismus.

 TrekanBelluvitsh meinte dazu am 12.09.21:
Man darf halt nur nicht in den intellektuellen Abgrund fallen, der sich zwischen Erklärbarkeit und Endschuldbarkeit auftut.

 Graeculus meinte dazu am 12.09.21:
Das ist richtig - mit dem Zusatz, daß ich mich nicht gar so oft und speziell in diesem Falle nicht dazu berufen fühle, jemanden zu be- und zu entschuldigen.
Ich selbst neige nicht zum Prügeln und auch nicht zum Morden, ohne deshalb sagen zu können, daß mir beides völlig fremd wäre.
Agnete (66)
(10.09.21)
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 Bergmann meinte dazu am 10.09.21:
Ob die Motive Johnny Cashs rein humanitär waren oder ob eigene materielle Interessen eine Rolle spielten, ließe sich sicher durch biografische Sekundärliteratur klären.

 Graeculus meinte dazu am 11.09.21:
An Agnete:

Das ist ja die normale Einstellung. Die stellt, wie ich es verstehe, (der damals noch recht junge) Johnny Cash hier in Frage (1).
Verbunden habe ich das mit dem - wie ich meine - interessanten Gedankengang des Zhuangzi, auf den leider niemand eingegangen ist. Wie werden Verbrecher zu Verbrechern? Welches System, welche gesellschaftliche Struktur ist die Ursache dafür?
In der egalitären Urgesellschaft hat es solche Probleme anscheinend nicht gegeben.

(1) In seinen späten Liedern hat Johnny Cash sich ja häufiger auf Jesus berufen ("My Own Personal Jesus"). Kann es sein, daß Jesus eine ähnliche Einstellung zu den Parias unserer Gesellschaft hatte? Über manche Strömungen und Sekten des Christentums (Heilsarmee z.B.) kann man das sicher sagen. "Im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte."

 Graeculus meinte dazu am 11.09.21:
An Bergmann:

Daß Johnny Cash für diese Konzerte Eintritt verlangt hat, wollen wir nicht annehmen. Aber sie sind gefilmt und aufgenommen worden; es gibt LPs davon, und m.W. haben sie sich ganz gut verkauft.
Ob Cash von diesen Einnahmen etwas abgezweigt hat, weiß ich wiederum nicht.

Wie auch immer: eine Idee wird nicht dadurch schlecht, daß jemand Geld damit verdient, es sei denn, die Idee an sich widerspräche dem Geld.
Agnete (66) meinte dazu am 11.09.21:
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 Graeculus meinte dazu am 11.09.21:
Paria sind nicht zwangsläufig Schwerverbrecher, das stimmt. Im Falle Jesu waren es u.a. Zöllner (d.h. Kollaborateure mit der römischen Besatzungsmacht) und anscheinend eine Prostituierte (Maria Magdalena). Nach den damaligen Maßstäben war beides schon sehr verächtlich. Als anständiger Mensch verkehrte man nicht mit denen.

Mir fällt noch auf bzw. ein, daß die Lage ja nicht besser wird, wenn man die Schwerverbrecher in den Gefängnissen einfach sich selber überläßt. Was wird dann dort aus denen?
Daß die USA außerdem eine erstaunlich/erschreckend hohe Zahl von Häftlingen pro 1000 Einwohner haben und davon überproportional viel Schwarze betroffen sind, ist ja obendrein bekannt.

Gerade hjabe ich überlegt, ob Johnny Cash wohl auch in Guantanamo aufgetreten wäre bzw. ob man ihn dort hätte auftreten lassen?
Nicht alle Häftlinge, auch nicht die in den härtesten Haftanstalten, sind schuldig.

Die Sache wird mir immer bedenklicher.

 Graeculus meinte dazu am 11.09.21:
Um Jesus etwas in Schutz zu nehmen: Er verlangte zuvor Reue und Buße von den Sündern, über die man sich dann im Himmel so sehr freute.

Ist auch noch ein Kriterium: Wie stehen die heute zu ihrer Tat, die sie vor Jahren begangen haben?

 Bergmann meinte dazu am 11.09.21:
Graeculus:
Ich stimme dir zu - Johnny Cashs Auftritte in Gefängnissen werden durch den Nutzen, der er selbst hat, nicht diskreditiert.
-
Johnny Cashs Konzertieren in Gefängnissen war mir seinerzeit sympathisch. Das finde ich auch heute noch gut. Ich sehe nicht nur gute therapeutische Effekte für die in ihrer Schuld und Strafe Gefangenen, sondern auch in der öffentlichen Bewusstmachung.
Der Gewinn für alle ist in jedem Fall wohl höher zu veranschlagen als kritische Bedenken.

 Graeculus meinte dazu am 12.09.21:
Das denke ich ebenso und gilt mir sogar für die von Trekan erhobenen Bedenken gegen Johnny Cash als Privatperson. Ein Heiliger war er selber nicht, und möglicherweise machte gerade dies ihm sein Auditorium sympathisch. Cash wußte, wie leicht man zum Mörder werden kann.

Bemerkenswert erscheint mir auch die langjährige Freundschaft mit Bob Dylan.

 Dieter Wal (10.09.21)
JC wusste, dass er kein Spielzeug als Künstler in der Hand hatte, sondern ein Werkzeug, mit dem er machen konnte, was andere niemals vermochten. Und er handelte mutig.

 Graeculus meinte dazu am 11.09.21:
In gewissem Sinne war er da mutig, ja. Es gab keinerlei Abtrennung zwischen der Bühne und den hunderten Schwerverbrechern.
Mehr wohl noch als der Papst (war es Johannes Paul II.?), der an Gründonnerstag in ein römisches Gefängnis gegangen ist und den Häftlingen die Füße gewaschen hat.

 Quoth (11.09.21)
Hi Graeculus, Du hast viel in Deinen Text gepackt:
- Warum fühlt ein Künstler sich von den schweren Jungs angezogen und hat ein inneres Bedürfnis, ihnen was zu bieten?
- Welche gesellschaftliche Bedingungen lassen das Verbrechen entstehen?

Ein Bewährungshelfer hat mir erzählt, dass Mörder, Räuber und Schränker seine liebste Kundschaft seien - das wären alles Leute wie Du und ich, die nur getan haben, wovon wir oft genug träumen. Er fühlte sich ihnen nahe. Mit Betrügern, Vergewaltigern und Missbrauchern hingegen arbeitete er nur ungern zusammen.

Was die Ursachen des Verbrechens betrifft, zu denen sich Shuangzi recht einfühlsam äußert, kann ich nur ein eisernes Gesetz der Kriminologie wiedergeben: Mit den Weizenpreisen steigt auch die Zahl der Eigentumsdelikte. Und Wolf Biermann zitieren: "Denn was verboten ist, das macht uns gerade scharf".
Gruß Quoth

 Graeculus meinte dazu am 12.09.21:
Das ist gut, das spricht mich an: diese Unterscheidung zwischen Mördern einerseits und Betrügern sowie Vergewaltigern andererseits. Hört man selten, hat aber was.

Den gesellschaftlichen Hintergrund angesprochen zu haben, macht Zhuangzi gleichsam zu einem Marxisten avant la lettre.

Von Johnny Cashs Affinität zu Mördern ist weiter oben die Rede. Er wußte sicher aus Selbsterfahrung, wie leicht man zu einem Mörder werden kann.

 Pearl (06.12.21, 13:06)
Hallo Graeculus,

dein Text ist gut. Ich habe oftmals darüber nachgedacht. Johnny Cash ist toll und er hat ne Menge durchgemacht. Sein Einfühlungsvermögen muss groß gewesen sein, wahrscheinlich auch bedingt durch seine Erfahrungen. Zhuangzis Worte erinnern mich an einen Abschnitt des Tao Te Kings. An dessen Worte kann ich mich nicht mehr genau erinnern, doch es war so ähnlich.

Gestern sah ich ein Interview zweier unglaublich starker, mutiger, unglaublicher Frauen. Sie gehören zur Familie Turpin, wurden gefoltert, gefangen gehalten, haben unaussprechliches Leid durch ihre Eltern erfahren. Nur durch ihren Mut konnten sie sich befreien.

Diese Eltern sind Schwerverbrecher u mein 1. Gedanke war, sollen diese Verbrecher in der Hölle schmoren.

Ich glaube nicht wie Cash oder Zhuangzi, dass wir Opfer unseres Umfeldes sind. Wir sind frei zu entscheiden, welche Seite in uns wir entwickeln und wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen.

Eine der Schwestern möchte nun "Speakerin" werden. Anderen Mut machen. Sie sind in der schlimmsten Situation, die man sich vorstellen kann, aufgewachsen. Doch sie haben sich nicht davon brechen lassen.

Cash und Zhuangzi möchte ich einen Ausschnitt von Left Eyes Rap Part in dt. Übersetzung gegenüberstellen:

"Meine einzige verzweifelte Hoffnung
Gilt jenen Menschen, die nicht fertigwerden
Mit solch anhaltendem Schmerz
So dass sie im strömenden Regen bleiben
Und wer ist nun schuld
An dem wilden Blut in deinen eigenen Adern
Was für eine Schande

Du schießt und zielst auf das Hirn von jemand anderem
Dann verteidigst du dich mit Unzurechnungsfähigkeit
Und denkst an diesen Tag zurück
Als du die Beute des Verbrechens wurdest
Ich sage, das System hat dich auf dem Gewissen
Du bist ein Opfer deines eigenen Denkens"

Mein Gedanke bzgl der Eltern ist nicht mehr, dass sie in der Hölle schmoren sollen. Doch wie Agnete finde ich, dass sie hinter Schloss und Riegel gehören, ein Leben lang. Schon alleine zum (physischen und psychischen) Schutz der Kinder.

LG, Pearl

Kommentar geändert am 06.12.2021 um 13:14 Uhr

Kommentar geändert am 06.12.2021 um 13:16 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 06.12.21 um 16:48:
Wenn man an den freien Willen glaubt und darauf verweist, daß manche Menschen selbst unter ungünstigsten Voraussetzungen nicht zu Verbrechern werden (was offensichtlich der Fall ist), dann bleibt aber noch der Umstand, daß manche es besonders schwer haben, nicht zu Verbrechern zu werden, und daß manche Umstände besonders viele Verbrecher hervorbringen. Das wäre dann eine statistische Aussage.

(Eigentlich ist das dieselbe Frage wie bei einem anderen Text von mir: "I had no feelings, no emotions, I just killed". Damals in My Lai sind ganze zwei Männer einer Kompanie (ca. 100 Männer) nicht zu Mördern geworden.)

Danke für Deinen freundlichen Kommetar!
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