Tanzstundenball 1961

Dokumentation zum Thema Jugend

von  Bergmann

Tanzstundenball 1961

für Ekki

Am Abend des Tanzstundenballs im Schwarzwaldstädtchen Neuenbürg an der Enz holte ich meine Tanzstundendame ab. Ich war 16 und hatte gerade erst gelernt, den Schlips zu binden. Der Vater meiner Tanzdame (die Mutter ließ sich nicht blicken) bot mir einen Kaffee an. Oder einen Schnaps, fragte er, bis die junge Dame fertig ist? Ich war ein Mann und sagte: Schnaps.

Die Eltern saßen im Gasthaus „Zum Bären“ alle oben auf einem Podest, wir nannten es die „Drachenburg“. Ich musste eine Sektflasche öffnen. Der Korken knallte an die Decke, ich erschrak und vergoss Sekt auf das Kleid meiner Abschlussballdame, ein Malheur, das jeden Schmetterlingseffekt überbot. Der Schaden war optisch gering, nach einer Weile unsichtbar, aber in der Mädchenseele überschlugen sich die Sturmwellen. Beim Tanz trat ich dem Mädchen, das sich erbarmt hatte, mich als Tanzstundenpartner zu akzeptieren, laufend auf die Füße. Ich hatte Stress ohne Ende. Das steigerte sich noch. Denn der Höhepunkt des Abschlussballs war nicht die Sektpanne, sondern die  Tanzstundenzeitung, die ich zu einem großen Teil verfasst hatte. Das Heft wurde zum Essen ausgeteilt. Alle lasen darin. Dann ging die Bombe hoch. Der Direktor verstand das letzte Gedicht der Zeitung als Obszönität. Das Gedicht, das ich aus der Tanzstundenzeitung meines Vaters geklaut hatte, hieß „Der Kuss“ und handelte von verschiedenen Arten, sich zu küssen. Der letzte Vers über die Küsse lautete: „... den längsten nennt man Dauerbrenner.“ Dem Direktor war schon das Durchdeklinieren der Küsse zuviel, jetzt erkannte er auch noch Pornographie.

Jedenfalls wurde mein Vater schon am nächsten Tag, es war Sonntag, mit mir zusammen zum Direktor nach Hause bestellt. Dort ging es lange hin und her, am liebsten wollte der Direktor mir das consilium abeundi erteilen, so nannte er den Rauswurf aus der Schule, wir hatten ja von Sexta an Latein.

Mein Vater erreichte, dass der Direktor mir eine Chance gab. Bei der geringsten Kleinigkeit wollte er mich aber von der Schule verbannen; vielleicht stand er unter dem Druck seiner Kollegen oder seiner Zeit. Der Witz war, dass ich vollkommen naiv war in Sachen Liebe, ich hatte keine Freundin, ich war viel zu schüchtern. Ich hatte allerdings aus der Sicht der Lehrer eine ziemlich große Klappe, auch schriftlich. Der jungen Lehrerin Dr. Einberger, die neu an der Schule war und deren Englisch-AG ich besuchte, schrieb ich – nach dem Tanzstundenball – ein Gedicht, halb verliebt:


Der sehnlich Geliebten

Hinweg mit euch, ihr lästigen Vokabeln -
o heilig ist mein Drang und meine Wut,
mein Herz erbebt, de Seele lebt in Fabeln,
mein Geist ist Feuer, meine Augen Glut!

Denn eine Sonne brennt und strahlt,
und froh erscheint mir jede Stunde
und jedes Wort aus ihrem schönen Munde
und die Gestalt erscheint mir wie gemalt!

O laß der Liebe zartes Band ergrünen -
Dich liebe ich mit allen Qualitäten,
ich tu für Dich, was andre niemals täten,
o sag, wie kann mein Herz Dir dienen?

Dein toller Teint, Dein Charme, Dein Chique -
o sei umschlungen, holde Form!
Mich fesselt stets Dein Zauberblick,
mit einem Wort: Du bist enorm!

Ach, endlich strahlt im Schulgebäude
mal unerreichte Eleganz,
es brennt und flammt Dein Feuerglanz
und täglich schenkst Du neue Freude!

Auf in den Liebeskampf, mein Herz!
Ich fühle, schon durchdringt es mich -
und gibt's auch noch so großen Schmerz:
Du bist mein Stern - ich liebe Dich!

Ihr Anonymus


Ich steckte das Gedicht in ein Kuvert und warf den Brief, adressiert an Frl. Dr. Einberger, vor Zeugen in den Briefkasten vor dem Gasthof „Zum Bären“ gegenüber der Bushaltestelle, an der wir Schüler nach der Schule immer noch eine ganze Weile standen, um zu quatschen und das Städtchen aufzumischen. Die waren Zeugen meiner Mutprobe. Die leicht ironisch Angehimmelte aber ließ nie verlauten, ob sie meinen Liebesbrief erhalten hatte. In den nächsten Stunden der Englisch-AG übersah sie mich – wie immer.

-


Anmerkung von Bergmann:

s. meine Kolumne 30.4.2010 mit etwas anderem Schluss.

Ich vergaß zu berichten, dass unser Französischlehrer Dr. Schönthaler (der eine baskische Grammatik als Dissertation schrieb) vor der Klasse erzählte, dass Frl. Dr. Einberger mein Gedicht im Lehrerzimmer vorgelesen hat. Schönthaler zu mir: "Ha, Uhli, du bischd ja under die Dichter gange!"

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (17.10.21)
Da ich Sie ein wenig näher kenne, bin ich überrascht, wenn ich lese, was Sie so beim Tanzstundenball "getrieben" haben. Umso mehr gefällt mir dass großartige Gedicht. LG

 Bergmann meinte dazu am 18.10.21:
Bedenken Sie, dass ich als Junglehrer in Mechernich auch unliebsam aufgefallen war ...
Haben Sie in Bonn schon LEONORE 40/45 gesehen? Ich gestern. Eher ein Musical-Stoff, denke ich.
Ende Oktober dann ARABELLA.
Nachdem ich nun immerhin auch viermal in Bayreuth war: Im März 2022 sehe ich den Ring in 5 Tagen in der Leipziger Oper, wo ich im September eine hervorragende TRAVIATA erlebte.
LG

 AZU20 antwortete darauf am 19.10.21:
Nach zwei Hüftoperationen habe ich mich entschlossen, erst im kommenden Jahr wieder in Bonn einzusteigen. Weiteres wird sich dann wohl auch ergeben, Bayreuth eingeschlossen. LG.

 W-M (18.10.21)
immer wieder das gleiche bei solchen tanzstundenbällen: man dreht sich im kreise und tritt den leuten auf die füße ... "und dann und wann ein weißer elefant" ... der auch noch liebesgedichte schreibt! gerne gelesen. meiner englischlehrerin wollte ich keines schreiben. lg, werner

 Bergmann schrieb daraufhin am 29.10.21:
Es war eine Zeit, die heute vergangen ist, besser gesagt: Gleiches oder Ähnliches geschieht heute in anderer Weise. Ich kenne ja immerhin auch die andere Seite (die Lehrer).
LG Uli

 AlmaMarieSchneider (29.10.21)
Wunderbar erzählt. Eine Geschichte, die viele Erinnerungen weckt. Nicht die gleichen aber viele.
Dein Gedicht ist herrlich. Also dass diese Englisch-Lehrerin nicht vom Stuhl gefallen ist, das wundert mich doch sehr.

LG
Alma Marie

 Der_Rattenripper (28.11.21, 21:41)
Du schlimmer Finger Uli,

ist interessant mal was über deine Jugendzeit zu lesen, auch wenn ich normalerweise kein Freund von autobiographischen Erzählungen bin. Was hat denn der Vater Zuhause gesagt? Gab es dafür drakonische Strafe, oder hat er dir nur ins Gewissen geredet?

Schönen Gruß

Der Rattenriper

 Reliwette (24.12.21, 10:42)
Herrlich, lieber Uli, fühle mich an meine Jungenzeit erinnert, z.B. auf dere Hallig Süderoog, wo mich die Heimleitung  (ich war 15) zum Kultusminister ernannte. Deine Dichtkunst erinnert mich inhaltlich an die"Leiden des jungen Werther". Auch wenn es ein Studentenstreich war - immerhin las die Lehrerin das im Lehrerzimmer vor (um sich abzusichern). Du hast dich in jedem Fall hervorgetan, und das tust du bis in die Jetztzeit. Chapeau! Hartmut

 Bergmann äußerte darauf am 24.12.21 um 12:58:
Lieber Hartmut, 
deine Worte sind ja ein Weihnachtsgeschenk! Ich danke dir sehr, lieber Kunstmeister und schriftstellerischer Zeitkritiker! Mit deinem Humor bereicherst du immer wieder kv, diese exquisite Literaturseite! 
Konntest du deinen Beuys-Garten wenigstens zum Teil wiederherstellen? Oder ist der Garten verloren?
Ich wünsche dir eine schöne Weihnachtszeit und ein gutes neues Jahr!
Herzlichst: Uli

 Reliwette ergänzte dazu am 25.12.21 um 11:55:
Ach ja, wir haben ja Weihnachten Allen, die das hier lesen, wünsche ich einige Stunden der Besinnung. Und zum J.B.-Labyrinth: Es gibt ihn noch, den Garten, aber bis auf einen verzweigten Gang zum Innersten sind alle  Gänge zugewachsen. Vielleicht gibt es in der Zukunft ein Ereignis, dass ich mich veranlasst sehe die Gänge wieder freizulegen ?
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