Frosch

Erzählung

von  minze

Ich bin erstaunt, dass eine so große Schule einen so kleinen Raum haben kann. Er ist mit Büchern gefüllt und ich bin bereit, sie zu lesen. Ich bin bereit, so zu lernen. Zuerst hatte ich Angst, dass ich aufs Gymnasium soll, weil ich dachte, dass die Normalen auf Haupt und Rea gehen. Dann konnte ich es mir besser vorstellen. Am Anfang waren meine Schönschreibnoten nicht so gut, aber durch Geschichten schreiben, durch Mathe und dass ich mir mehr Mühe gab, war ab der dritten Klasse alles gut. Dann war es logisch, dass ich aufs Gymnasium gehe. Ich freue mich auf die Busfahrkarten und überlege, woher man sie bekommen wird. Sie haben eine Ente, die verwischt drauf, so, als sei sie in Bewegung, kurz angehalten und schnell weiter, ihr Rücken ist ein geschwungener Bogen, nur angedeutet.

Wir sitzen bei Herrn Lange und er sagt noch, dass man die Schule auch Frosch nennt. Weil sie groß und grün sei und die großen Rohre, die rausschauen, könnten die Augen des Frosches sein. Ich habe einen Bärenpulli an, den ich für angemessen halte, er ist unifarben beige und hat zwei ordentliche Taschen auf Bauchhöhe aus Bärengesichtern. Damals komme ich auf die Idee, es wirke reif, weil so viel einfarbig ist und nur ein paar Akzente, aber es ist ein eindeutiger Kinderpulli. Ich habe ihn getragen beim Klassenphoto im Juni, als Felix noch lebte. Mama ist mit mir hier, weil sie Herrn Lange von seinem Tod erzählen will. Herr Lange räuspert sich beim Begrüßen und nach den langen Sätzen, die sie sagt. Sie kann jetzt routiniert erzählen, aber sie ist auch emotional. Ich schaue auf die Bücher, sehr konzentriert, ich möchte gerne etwas Ernstes sagen, aber ernst im Sinne von, dass ich bereit bin für die Schule. Dass es mich nicht beeinflusst oder ablenken wird, was sie sagt. Ich schaue am besten auf die Bücher oder meine Schuhe, sie sind waldgrün und aus rauen Leder, sie haben breite, sehr weiße Schnürsenkel, die jetzt noch weiß sind und jetzt auch nicht schlabbrig; jetzt gut gebunden. Womöglich sieht er nicht die Schuhe, sieht nicht die Bären, sieht nur meine Mutter. Er ist ganz gefangen in dem, was sie sagt, nur manchmal sieht er mich pflichtbewusst an, kurz, und auch wenn ich dann aufmunternd oder zumindest seinem Blick standhaltend zurückschaue, ist er sofort wieder im Erzählfluss meiner Mutter gefangen. Nur zu Anfang fragt er mich, ob und was ich gerne mache in der Schule und ich versuche, etwas zu sagen, zu Anfang bin ich aber selbst auch schüchtern, weil ich den Grund ja gut kenne, warum wir hier sind. Und da sage ich nur sehr kurz etwas, ich kann nicht abschätzen, wie ausführlich.

Der Raum wird noch enger, je mehr sie sagt, je mehr er räuspert, schluckt, nickt, räuspert und je weniger ich mich einordnen kann. Er macht es mir unmöglich, hier wieder hin zu kommen, in einer Woche. Mein Kopf will kotzen. Er hält sich an ein paar kleinen Fakten fest, die bereitgestellt sind, bereit gestellt für den Neubeginn. Es gibt eine blaue Schultausche von einer unbekannten Marke, der einige Fächer hat. Es gibt von Scout eine Federmappe, auch blau, einen neuen Füller, rot. Herr Lange sagt, die Fahrkarte gäbe es im Sekretariat, Mama geht mit mir später hin. Der Bus wird durch eine Kurve fahren, die Steigung hoch zum Frosch, die man Nadelöhr nennt. So gesehen ist es ziemlich plastisch. Ich werde bereits am zweiten Tag Erdkunde lernen und später auch Biologie. Und in Mathe habe ich Herr Lange. Er wird verständnisvoll sein, aber nicht viel sagen und ich muss ihm zeigen, dass Mathe kein Problem ist.

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Eigentlich kenne ich viele andere Kinder, sie kennen mich auch, sie wissen auch, was in den Ferien los war, aber wir reden über den Urlaub. Mein Urlaub war bereits in den Pfingstferien, das kenne ich aus den anderen Jahren; dann zuzuhören und sie erzählen zu lassen. Ich denke kurz, dass, was ich zu erzählen habe, spannender sei als ihre Urlaube. So, wie es Christian seinen Freuden verkündet hat, so drastisch möchte ich es aber nicht. Es ist mir peinlich, obwohl es sagenswert wäre. Der Urlaub und alles Neue sind viel Thema, das verschluckt mich vollkommen. In einigen Momenten muss ich benommen sein, Herr Lange hat dann kurz sein Räuspern, oder nur den Blick und ich denk mir das Räuspern. Die Reli-Lehrerin will darüber sprechen. Wir sitzen im Kreis vor der Tafel und ich darf erzählen. Ich erzähle auch und die anderen hören zu, das ist einmal, aber das eine Mal zählt, es versichert mir und den anderen, dass ich es gesagt habe. Ich kann jetzt ehrlich sein, wenn ich in Reli bin. Manchmal auch frech, ich weiß, dass ich erzählen kann und sie den Mut hat, dass man mir zuhört.

Drei Jahre später habe ich einen bestimmten Platz in der Schule und schreibe für die Schülerzeitung, meistens teste ich Produkte, sammle Witze oder schreibe über soziale Sachen. Als ich über Trauer von Kindern schreibe, will mich mein ehemaliger Deutschlehrer treffen. Er hat bei uns im Unterricht richtig über den Nationalsozialismus geheult, als wir als Hitler das rosa Kaninchen stahl gelesen haben. Er saß auf dem Pult und war so aufgewühlt, dass ich die Wucht über die Ermordung der Juden voll abbekam und innerlich so offen war, alle anderen Jugendromane darüber zu lesen. Das habe ich auch getan, auch ohne es ihm zu sagen, einfach, um den Strom nicht abreißen zu lassen und es anzusehen.
Er spricht mich an, dass er mit mir reden will. Wir treffen uns in einer Holstunde oder Randstunde, vielleicht habe ich auch dafür frei bekommen. Wir sitzen im alten Raucherlehrerzimmer, es ist glaube jetzt ohne Rauchen, aber gemütlicher und muffiger, wie ein SMV Raum für Lehrer. Tatsächlich sitzen wir auf einem braunen Sofa. Er hat eine ähnliche Gefühlslage, wie ich sie schon einmal erlebt habe, aber jetzt eingesackt und traurig. Damals haben es alle gewusst. Alle haben darüber gesprochen im Lehrerzimmer. Ich kann seine Scham nicht annehmen, kann es auch jetzt nicht entschuldigen. Ich bin dreizehn Jahre alt und er vielleicht dreimal so alt oder viermal. Ich konnte gar nichts sagen. Anstatt auf ihn einzugehen, erzähle ich ihm, welche Geschichte wir damals besprochen hatten, da er alles gewusst hat und ich nicht wusste, damals, dass er alles wusste. Die Geschichte handelte von drei Geschwistern, sie hauen ab, klauen ein Boot, sind auf dem See unterwegs. Ein Geschwister fällt hinein und droht zu ertrinken, die Geschwister wollen es retten, ziehen an seiner Hand, sie schaffen es nicht und der Bruder ertrinkt. An meiner Stelle fängt der Deutsch-Lehrer an, zu weinen. Ich weiß nicht, ob ich damals im Unterricht auch so war. Vielleicht verstockt. Es reicht mir, es zu sagen, es reicht mir auch, dass ich hier auf dem Sofa sitzen darf, in einer Holstunde und er Zeit hat. Ich bedauere, dass ich ihn nie wieder als Lehrer haben werde, weil es unüblich ist, den gleichen Deutschlehrer wieder in der Oberstufe zu haben und ich keinen Englisch-Leistungskurs wählen werde später. Ich habe mich da schon für Französisch entschieden. Und obwohl ich ihm nicht verzeihen kann, gehe ich einen Bund ein mit ihm, ich sage ihm danke.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (25.10.21)
Als Hitler das rosa Kaninchen stahl - welche Fassung?
Die von 1978 habe ich auch gesehen, die neue von 2019 jedoch nicht. Ich fand damals das thematisch ähnliche Ein Stück Himmel (1982) beindruckender.

Kommentar geändert am 25.10.2021 um 15:52 Uhr

Kommentar geändert am 25.10.2021 um 15:53 Uhr

 Dieter_Rotmund (03.12.21, 15:42)
Was ist eigentlich ein " Holstunde"? 
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