Fußball im Schatten von Tschernobyl (Drohender Punktabzug)

Text zum Thema Umwelt/Ökologie

von  Koreapeitsche

Ich hatte den Verein in schlechter Erinnerung, weil mir dort Zuschauer an die Wäsche wollten. Als 16-jähriger Jungschiedsrichter hatte ich ihrer Meinung nach schlecht gepfiffen. Jetzt gut drei Jahre später im Herrenbereich spielte ich in der dritten Mannschaft unseres Vereins. An diesem Sonntag mussten wir mit unserem Team genau an jenem Ort spielen. Doch einige Spieler hatten Angst aufzulaufen. Es war das erste oder zweite Wochenende nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Wir konnten nicht einschätzen, ob es während des Spiels regnen könnte, was radioaktiven Regen bedeutet hätte. Seit Tschernobyl war es trocken. Die radioaktive Wolke bewegte sich über Mitteleuropa. Es war absehbar, dass der nächste Regen radioaktiv sein würde. Vor dem Spiel, wir waren noch nicht umgezogen, liefen wir über den Platz und berieten die Lage.
      „Sag mal, können die das Spiel nicht einfach absagen?“
      „Meinst du, dass es während des Spiels regnen wird?“
Alle schauten nach oben. Der Himmel war bedeckt. Gerade in Schleswig-Holstein ist schwer abzuschätzen, ob es in absehbarer Zeit zu Regenschauern kommen könnte. Wir setzten und lehnten uns an einen Poller oder Balken der quer lag und berieten die Lage weiter.
„Schau mal, da hinten kommt die erste graue Wolke!“
sagte Harry und zeigt in Richtung Osten. Wir blickten nach Osten und kommentierten die Wetteraussichten.
      „Die zieht vorbei.“
      „Da wäre ich mir nicht sicher.“
      „Wir können später den Platz ja immer noch verlassen, wenn es anfängt zu regnen.“
      „Dann kriegen wir aber auch schon die ersten radioaktiven Partikel ab.“
      „Wir müssen das vorher mit dem Schiri absprechen, nicht dass der Spielabbruch am Ende gegen uns gewertet wird.“
Wir führten unentwegt Rechenmodelle durch, wie das Spiel gewertet werden könnte. Damals in den 80ern waren alle Spiele noch Zwei-Punkte-Spiele.

      „Die Mannschaft, die zuerst geschlossen den Platz verlässt, hat auch verloren. Das Spiel wird dann mit 0:2 Toren und 0:2 Punkten gewertet oder mit dem aktuellen Spielstand - je nachdem."
      „Du meinst, wenn TSV Eidertal schon mit 4:0 führt und wir vom Platz gehen, dann wird das Spiel auch mit zwei Punkten und 4:0 Toren für Eidertal gewertet?"
      „Aber die werden niemals gegen uns gewinnen. Das ist der totale Dorfverein."
      „Wir können doch aber den Regen in der Kabine abwarten und weiterspielen, wenn der Regen vorüber ist."
      „Dann ist aber der Rasen nass, und wenn wir grätschen, kriegen wir radioaktiven Partikel auf die Haut."
      „Außerdem sind die Fußballschuhe verstrahlt, und wir können die wegwerfen."
      „Das wird doch nicht die volle Dosis sein. Hier kommt doch nur ein Bruchteil von dem an, was in Tschernobyl in die Luft gegangen ist."
      „Da wäre ich mir auch nicht so sicher, bei der Informationspolitik. Hier kann sich die ganze Wolke abregnen."
      „Nun wartet erstmal ab, ob der Schiri das Spiel überhaupt anpfeift."
      „Also, ich habe mich entschieden. Ich werde nicht mitspielen." 
sagte Harry.
      „Das ist doch Scheiße. Lass uns lieber mit dem Schiri klären, dass er sofort abpfeift sobald die ersten Regentropfen fallen."
Nach dem Gespräch gingen wir in die Kabine. Alle zogen sich um – bis auf Harry. Wie akzeptierten das voll und ganz. Vor allem trug das dazu bei, dass wir die Situation sehr ernst nahmen, denn die Details der Reaktorkatastrophe kamen in den vergangenen Tagen nur häppchenweise an die Öffentlichkeit. Die Sowjetführung schätzte die Katastrophe anfangs nicht richtig ein oder versuchte, sie bewusst herunterzuspielen. Das volle Ausmaß des Reaktorunfalls war immer noch nicht absehbar. Es wurden bloß immer wieder Warnungen in den Medien ausgesprochen, keine Pilze zu essen, keine Wäsche rauszuhängen und den Regen zu meiden. Offizielle Einschätzungen gab es da noch nicht, und es wurde schon gar nicht über einen Saisonabbruch beim Fußball diskutiert. Unser Betreuer sprach vor dem Spiel mit dem Trainer der gegnerischen Mannschaft und mit dem Schiedsrichter. Er erzählt dem Schiri, dass es unter Umständen passieren kann, dass unsere Mannschaft geschlossen den Platz verlässt, sobald der erste Regen fällt, und dass die Verunsicherung bei uns groß sei.
Wir hatten viele Studenten in der Mannschaft, ebenso ein paar junge Ingenieure und Azubis. Ich besuchte gerade die Gymnasiale Oberstufe der Gesamtschule, und es sollte noch eine Weile dauern, bis sind die Schuljahreszeugnisse ausgeteilt wurden. Normalerweise hätte ich sogar zu der Zeit sogar mein Abi gemacht, wenn ich nicht zuvor sitzen geblieben wäre. Somit fiel Tschernobyl genau Tour Prüfungsphase meine ehemaligen Klassenkollegen. Das war aber kein Grund sich zu freuen. Für mich hingegen stand die Fachhochschulreife an.
Einige bezeichneten unser Team als Intellektuellenmannschaft. Deshalb sahen wir die Austragung des Spiels in Eidertal-Molfsee, südwestlich von Kiel, dementsprechend kritisch. Ich will den Verein TSV Eidertal nicht abwertend, aber diese Ortschaft aus Kreis Rendsburg-Eckernförde war das, was wir abwertend als Bauerntruppe bezeichneten, nicht nur von der Spielweise, sondern auch von der Denke. Jedenfalls sagte der Schiri, er würde das Spiel pünktlich zur angesetzten Anstoßzeit anpfeifen. Es würde auch keinen Spielabbruch wegen Regen geben. Es sollten die gleichen Maßstäbe gelten, wie zu jedem anderen Spieltag. Der Schiri gehörte zu den Leuten, die in Tschernobyl keine Gefahr sahen und nicht an radioaktiven Regen glaubten. Also zogen wir uns um – bis auf Harry. Harry stand später am Spielfeldrand in der Nähe der Umkleidekabinen. So hätte er sich schnell in Sicherheit bringen können, wenn der Regen kam.
Das Spiel verlief bei unserer Mannschaft sehr unruhig. Ob das auch bei TSV Eidertal der Fall war, kann ich nicht beurteilen, denn ich kannte die Truppe nicht. Es standen auch ein paar Zuschauer direkt am Spielfeldrand, allerdings deutlich weniger, als drei Jahre zuvor, als ich dort als Jungschiedsrichter pfeifen musste. Bloß dass diesmal nicht gepöbelt wurde und niemand mir an die Wäsche wollte. Es kann sein, dass einige Zuschauer mich wiedererkannten, auch wenn ich aktuell deutlich längere Haare trug. Die wenigen Zuschauer blieben ruhig. Nur die gegnerischen Spieler wirkten sehr kibig und hartnäckig. Das Spiel endete schließlich 2:2 unentschieden. Es brachte keinen Spaß, unter diesen Voraussetzungen zu spielen, da die ständige Angst mitspielte, dass es tatsächlich regnen könnte. Ich habe nie wieder ein Spiel erlebt, bei dem wir so sehr auf die Wetterbedingungen geachtet haben. Immer wieder blickten wir in den Himmel, um abzuschätzen, ob Regen drohte. Zwischendurch gab es mehrmals Fehlalarm:
      „Ich glaube, ich habe einen Tropfen abbekommen.“
      „Ich bisher nicht.“
Eidertal hatte einen recht guten Fußballplatz, der von Knicks umgeben war. Hinter der rechten Spielfeldseite und hinter dem gegenüberliegenden Tor befanden sich gepflügte Äcker. Die Zuschauer standen zumeist auf der linken Seite vor einem Knick und ziemlich nah am Spielfeldrand. Die Duschen und Umkleidekabinen waren eine Katastrophe. Ich kann mich an Spiele dort erinnern, nach denen wir nicht einmal duschen konnten oder die Duschen kalt waren.
In der Halbzeitpause war wieder Stress angesagt. Wir stritten weiter, was geschehen sollte, würde es zu regnen beginnen. Wir waren da wirklich gespalten. Zum Glück hat es an diesen Tag nicht mehr geregnet. Aber es sollten ja noch weitere Spiele in der unmittelbaren Nach-Tschernobyl-Zeit folgen.
Die Nachrichten kamen Schlag auf Schlag: belastete Milch, endlos lange Zugkontainer voll mit radioaktivem Molkepulver, keine Pilze mehr essen, Vorsicht in der Sandkiste, keine Wäsche raushängen, Regenschutzkleidung und Regenschirme tragen, Jodtabletten ausverkauft, und so weiter.
Jahre später hieß ist, die Evakuierung der Stadt Pripjat nahe Tschernobyl soll in gleicher Panik verlaufen sein wie die in 1941, als die Deutschen kamen.
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl fiel genau in die Phase der schriftlichen Abiturprüfung. Ich hätte in dem Jahr auch Abi gemacht, wenn ich nicht zwei Jahre vorher bereits sitzen geblieben wäre. Mir tut jeder sensible Mensch leid, der wegen Tschernobyl durchs Abi geflogen ist oder eine schlechtere Note erhalten hat, besonders in Fächern wie Bio und Physik. Die Schülerschaft war immer schon gespalten in Atomkraftbefürworter und -gegner, wahrscheinlich auch die Lehrerschaft.
Mein Schulzeugnis für die 12. Klasse wurde am 19.06 1986 ausgestellt, also knapp zwei Monate nach Tschernobyl. Ich erreichte die Fachhochschulreife nicht. Mir fehlte ein rettender Punkt im Bio-Leistungskurs, Thema Ökologie. Nach den Bio-Klausuren stand ich glatt auf vier Punkten. Das galt als Vierminus. Der Lehrer gab mir die Chance mich noch einmal mündlich während des laufenden Unterrichts zu prüfen, was mir ohnehin Spanisch vorkam. Ich sah bei dieser Prüfung auch nicht sonderlich schlecht aus. Ich sollte unvorbereitet ein Diagramm analysieren und interpretieren. Ich war der Meinung, dass dieser mündliche Test ganz gut verlaufen sei. Der Lehrer gab mir diese Chance um von den vier Punkten runterzukommen. Ich weiß nicht, weshalb ich am Ende das Klassenziel nicht erreichen sollte. Und dann auch noch bei dem Thema Ökologie, als wollte dieser Bio- und Klassenlehrer einen Selbstmord triggern. Ich hätte diesen einen Punkt verdient gehabt, auch aufgrund der Umstände, weil wir noch in der akuten Phase nach Tschernobyl waren. Denn ich tat genau das, was der Bio-Lehrer von mir verlangte. Ich interpretierte das Diagramm, und der Lehrer stellte immer wieder Fragen, die ich beantwortete. Eine Problematik aus der Ökologie war darin dargestellt. Ich sagte etwas dazu, beantwortete Fragen, ohne dass mir dabei ein Fehler unterlief.
In den folgenden Wochen stieg die Verunsicherung in der Bevölkerung, denn es kamen immer mehr Details zur Reaktorkatastrophe ans Licht. Wir sprachen in der Schule kaum darüber, als hätte es einen Maulkorberlass gegeben. Die Tagesschau und die Heute-Sendung starteten täglich mit einem umfangreichen Nachrichtenblock über Tschernobyl mit den neuesten Berichten über das Katastrophenmanagement und alle weiteren Nachwirkungen. Es gab für Bayern andere Warnungen als für den Norden. Es folgte Hiobsbotschaft auf Hiobsbotschaft und niemand konnte abschätzen wie sehr Mitteleuropa wirklich betroffen war. Am meisten redeten wir beim Fußball über Tschernobyl, denn alle waren verunsichert, wie wir uns bei Regen im Training und in den Punktspielen verhalten sollten. Wir brauchen das Training mehrmals bei aufkommenden Regen ab. Teils joggten die Spieler in die Kabine, teils sprinten sie sogar aus Angst vor radioaktivem Regen. In der Schule gab es, wenn überhaupt, frustriert abwertende Statements, als schickte es sich nicht, sachlich über den Atomunfall zu diskutieren. Wie denn auch? Nach wie vor war die Nachrichtenlage prekär und die Atom-Lobby unter den Lehrern und Schülern sah ihre Pro-Atomkraft-Argumente gefährdet.
An unserer Schule kam es am Ende dieses Schuljahres zu einer riesen Fotosession, die jedoch nicht in den Klassenräumen stattfand, sondern draußen. Jede Klasse und jeder Oberstufenkurs sollte jetzt für Klassenfotos im Park der Schule fotografiert werden. Mit den Fotos sollte später ein kostenpflichtiges Fotobuch herausgebracht werden. Das ging alles recht fix. Ich sah auf dem Foto sehr frustriert aus, ja sogar depressiv und wandte mein Gesicht leicht von der Kamera ab. Zu der Zeit hatte mein Klassenlehrer mir bereits offenbart, dass ich in Bio das Klassenziel nicht erreicht habe und trotz der mündlichen Nachprüfung nur 4 Punkte erhalten würde. An dem Tag, an dem er mir das mitteilte, machten wir mit unserem Bio-Leistungskurs statt der Doppelstunde Bio einen Spaziergang runter zum Wasser Richtung Brücke Bellevue. Niemand wusste von meinem Dilemma, niemand unterhielt sich mit mir. Als ich am Ende des Schuljahres mein Zeugnis erhielt, das besagte, dass ich die Fachhochschulreife verpasst habe, ging ich sofort zur Gesamtschule in Friedrichsort, meldete mich dort für das kommende Schuljahr 86/87 an, ging danach wieder zu meiner alten Schule und teilte meinem Klassenlehrer, dem Biolehrer, meinen Schulwechsel mit. Ich war mir noch nie eine Entscheidung so sicher, als ich meiner alten Schule den Rücken zukehrte.
Ich überreichte meinem Klassenlehrer das Schreiben, dass meinen Schulwechsel ankündigte. Er nahm es ohne ein Wort entgegen und wünschte mir auch kein Glück oder Erfolg an der neuen Schule.
Ich fuhr zu der Zeit sehr häufig in die Diskotheken in der Bergstraße, saß sehr diszipliniert am Tresen und versuchte mich in der Disco über den neuesten Stand bei der Reaktorkatastrophe zu informieren, denn wir wussten bald nicht mehr, was und woran wir glauben sollten. Doch so schnell war der Spuk nicht vorüber.


Anmerkung von Koreapeitsche:

Ich achte sonst immer auf Humor in meinen Texten. Bei der Thematik Tschernobyl ist es schier unmöglich, humorvoll zu schreiben. Da zählt nur die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (26.10.21)
gut erzählt & gern gelesen!

...tschernobyl war schon damals schlimm genug
(in !grünkohl! wies man fallout glasklar nach)
doch erst durch fukushima ward man klug
(der Super-GAU bracht' noch mehr ungemach)
und war zumindest hierzulande schicht
mit akw's – weltweit aber längst nicht...

willkommensgruß
harzgebirgler

ps: bürstenhaarschnitte haben was!
pat (36)
(27.10.21)
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