brandzeichen

Geschichte

von  redangel

scharlachrot, die farbe des feuers, so stellte sie sich auch die farbe des schrei`s vor. wie eine fackel sah sie ihn vor sich. sie hatte mit geschlossenen augen geschluckt, ohne hinzusehen. knallrot, er war so knallrot, wie die lippen, die manche frauen sich malten. es brannte beim hinunterschlucken im hals. stecken blieb aber nichts, denn sie spülte schnell mit einem schluck rotwein allles ganz hinunter. schreie mochten den rotwein offensichtlich, denn einen augenblick lang hörte sie ihn nicht mehr in ihren ohren. er war eingetaucht ins weinrote. sie konnte nicht weinen, der schrei oder der rotwein oder beides hielten sie davon ab. ihre lippen brannten ein bißchen, so wie wenn man sich an einem löffel voll heißer suppe den mund verbrennt, die zunge nicht mehr spürt, so ähnlich war das gefühl, einen scharlachroten schrei zu verschlucken. sie machte die augen wieder auf. spürte ihn rutschen, hinein in ihren magen fallen, dass das so glattging, lag sicher am rotwein.
er war ihm dabei behilflich. sie fragte sich erst garnicht, woher der schrei gekommen war. manchmal kamen die schreie aus dem dunkeln, einige entstanden auch bei tageslicht.sie dachte sich ihren teil. viel lieber hätte sie ein lachen verschluckt, oder dieses freche übermütige kichern. das ging ihr runter wie champagner, gab auch im magen noch keine ruhe. sie bekam meist schluckauf davon. das fand sie lustig. diesen reflex, den man dann mit luftanhalten, brotessen oder mit einen löffel zucker zu bekämpfen versuchte. aber im ungeeignetsten moment war er hicksend wieder da. peinlich aber lustig. anders als mit dem schrei. er hing in ihren ohren fest, wie ein echo. er kam immer wieder zurück zu ihr. all die anderen schienen ihn nicht zu hören. sie nahm noch ein glas rotwein und versuchte ihn einfach zu ertränken. aber scharlachrote schreie konnten ausgezeichnet schwimmen. er tauchte nur kurz unter um dann umsolauter nach luft zu schnappend wild weiter zu brüllen. sie versuchte, den schrei zu verstehen.
er hatte ihr bestimmt etwas zu sagen. sie versuchte, worte daraus abzuleiten, oder wenigstens nur eines um darauf antworten zu können. aber sie verstand ihn nicht, er war viel laut, zu kreischend, überschlug sich fast. dabei vergriff er sich ziemlich oft im tonfall. sie versuchte, ihn mit lauter musik zu übertönen. höllenmusik gegen scharlachrotes schreien. sie hatte das gefühl, er fühlte sich dabei nur noch wohler. fast konnte man meinen, er gröhlte mit.
sie nahm andere musik, traurig schwüle tangolieder. da versuchte der schrei auszubrechen aus ihrem inneren. anscheinend mochte er die traurigen texte nicht besonders, oder die schwüle aufreizende musik, die sich auf ihr herz legte und schwer auf den magen drückte.
sie spürte seinen ausbruchsversuch an den schneidenden schmerzen. als kind hatte sie dieses gefühl oft gehabt.
sie versuchte sich zu erinnern, was damals die ursache dafür gewesen war. heimweh fiel ihr ein, große unstillbare sehnsucht nach etwas unerreichbarem. ein hoffnungslos weit entfernter wunsch. unerfüllbar für die nächste zeit, etwas für immer verlorenes. die sehnsucht nach einem wunder. vielleicht war der scharlachrote schrei einfach nur die eskalierte sehnsucht, die sie immer zu unterdrücken versuchte mit vernünftigen sachlichen argumenten. wie immer, wenn man versucht, etwas wegzuschieben, kommt es einem viel schwerer vor. der scharlachrote schrei spreizte sich wie ein feuerball in ihrem magen.
plötzlich, da verstand sie ihn auf einmal. plötzlich hörte sie einen namen heraus. er fiel ihr ein. er, der ihn ersticken konnte unter seiner decke. der ihn abwürgen würde mit seinen bloßen händen. auslöschen wie mit löschpapier die rote, verschüttete tinte aufgesaugt wird. sie nahm sich ein blatt papier und begann die scharlachroten schreie, die einen namen hatten, akribisch einzeln aufzuschreiben. durchzunumerieren mit jedem wort. mit jeder geschriebenen zahl wurde die liste länger, die schreie merklich leiser und leiser. die schriftliche wiederholung schwächte den schrei offenbar ab. sie hielt kurz an, beim 77. um eine tiefrote kerze anzuzünden. wenn sie in die flamme sah, kam es ihr so vor, als wäre der schrei zum seufzer geworden in ihren ohren. nur noch ein flüstern, kein namenloses, das geblieben war, im takt mit dem tiefroten glühenden mittelpunkt der flamme.
sehnsucht ließ sich nicht katalogisieren, nicht wegschreiben, nicht auslöschen. die sehnsucht flüsterte in ihr, sie schwieg nie still. wenn sie die augen schloß, sah sie vor sich diesen einen namen, die spuren die der schrei zurückgelassen hatte. sehnsucht in leuchtbuchstaben, ihr scharlachrotes brandzeichen.


(c) redangel

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