Nachruf für ein Rufzeichen

Satire zum Thema Egoismus

von  tastifix

Nachruf für ein Rufzeichen

Ein wirklich bedauernswertes Ding.
Man hatte es gerade auf brutalste Art und Weise aus dem von ihm in dessen Aussage so liebevollst verstärkten Satz entfernt.Per technischem Radiergummi „back space“ einfach zunichte gemacht. War das der Dank für seine äußerst zuverlässige Hilfe all die Jahre, den Aussagen des Menschen, der es dereinst erfunden hatte, eine kolossale Bedeutung zu verleihen? Hatte es das etwa verdient?
Jedes Ding trägt einen Namen. Also nennen wir es bei seinem. Damals war ihm tatsächlich „Augustchen“ angehängt worden. Ein Rufzeichen namens „Augustchen“? Wer das fertig gebracht hatte, war nicht mehr nachweisbar. Dafür lag der Tag seiner Taufe schon zu lange zurück. Sprach aber Bände, was das Intelligenzniveau jenes menschlichen Individuums betraf. Denn das hätte sich bei der Namenswahl vor Augen halten müssen, welch bedeutende Position dieses Kind seiner Schreibkunst dereinst einnähme. Doch lassen wir Gnade walten: Billigen wir ihm mildernde Umstände zu. Denn jener Mensch hatte ja damals noch keinerlei Erfahrung im Umgang mit Schriftzeichen.
Wie dumm! Eines war diesem Anteil der Zeichensetzung nicht gegeben: Sich gegen eine solch scheinbar herabwürdigende Geschmacklosigkeit in Sachen Namensgebung zu wehren. Da war es ratlos. Zum Glück hatte sein Erfinder ihm direkt nach seiner Geburt den Stempel „selbstsicher“ aufgedrückt. Zudem ein kluges Schriftzeichen, gelang es ihm mit der Kraft seines Ichbewusstseins, sich wegen „Augustchen“ in Selbsttherapie Trost zuzusprechen. Gleichwohl sein Gedankengang dabei ein ziemlich verwinkelter war. So um circa mindestens 30 Ecken herum. Doch das ist Schriftzeichen unbedingt nachzusehen. Sie sind eben keine Menschen.
„Na ja“, sagte sich also unser Augustchen, murmelte quasi zum Angewöhnen wieder und wieder seinen doch mit einen gewissen Ruf behafteten Namen vor sich hin. Zog dabei, während es angestrengt, ja extrem konzentriert, seinen diesbezüglichen Gedanken nachhing, dessen drei Silben beinahe unendlich in die Länge. Ungefähr so: „Auuuuguuuustcheeen“. Ganz offensichtlich ein wenig verunsichert, ob es nicht mit der dann nachfolgenden, beachtenswerten Überlegung total schief läge: „Warum eigentlich sollte es mir schwer fallen, mich mit diesem Namen anzufreunden?“ Denn es gab ja nicht nur den ´dummen August` im  Zirkus. Nein, aus vielen Texten, an deren dann auffallend akzentuierter Formulierung es maßgeblich beteiligt gewesen war, kannte es „August“ in einem ganz anderen Zusammenhang. In einer Bedeutung, die alles in einem viel helleren Licht erscheinen ließ. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn der(!) August trat immer in der gleißend strahlenden Zeit der Jahresmitte in Erscheinung. Nannte sich 1/12 des Jahres, 1/3 des Sommers und hieß mit Nachnamen „Monat“. Sorgte dann meist für heißes Wetter und fröhliche Menschen. Kein Wunder. Die packten im August schleunigst ihre Koffer und fuhren bester Laune in Urlaub. Konnten den „Pflichtmist“ zuhause für ein paar Wochen vergessen. Begeistert jubelten sie dann am jeweiligen Ferienort über Mückenstiche oder sogar Bienenstiche oder im Extremfall auch sogar Wespenstiche und genossen mit ähnlichen Wonnegefühlen mehr oder weniger schwere Sonnenbrände. Im Extremfall sogar einen Sonnenstich. (Der dann allerdings zum plötzlichen Ende des Urlaubs führte.) All diese doch nicht gerade angenehmen Einwirkungen des natürlichen Daseins um sie her waren in ihren Augen immer noch besser zu ertragen als ´Arbeit`. „So“, schloss daraus unser kluges Rufzeichen, „ist ´August` trotz der letztgenannten lästigen „Randerscheinungen“ etwas Freundliches, Angenehmes, sehr Beliebtes.“ Hoch angesehen wie sogar gar nicht selten auch unser Schriftzeichen Augustchen. Je nachdem, welchen menschlichen Ausspruch es just durch seinen selbstlosen Einsatz in dessen Prestige ganz beträchtlich gehoben hatte.
So lernte Augustchen seinen Namen zu akzeptieren und sogar auch zu lieben. Dieses Schriftzeichen hatte eben Köpfchen!

Doch beamen wir uns per Tastendruck wieder zurück in die Gegenwart. Der moderne Schriftsteller, der Augustchen dermaßen kalten Herzens mir nichts, dir nichts ausmerzte, gönnte unserem armen Rufzeichen noch nicht einmal einen Wort-Sarg. Nein, Herr Schulte verbannte es per simplen Mausclicks einfach ins Weiß der vor ihm flimmernden Dokumentenseite, in das Augustchen´s schlanker Körper sich dann innerhalb von Sekundenbruchteilen verflüchtigte. Das alles geschah ohne jegliche Rücksicht auf dessen mannigfache Verdienste. Undank ist der Welt Lohn.
Nun war Augustchen für immer und ewig verschwunden. Augustchen war tot. Doch selbst post mortale wurde sein ehemals selbstloser Einsatz für die Menschheit nicht im Geringsten gewürdigt. Mit keinem Deut Dankbarkeit dafür, dass man sich Meinungen und Emotionen auf Grund seiner unermüdlichen Hilfe mit der jeweils passenden Nachdrücklichkeit schriftlich mitteilen konnte. Die Enttäuschung darüber ließ sein Inneres zwischen den weißen Flimmerfasern des besagten Dokumentenblattes nicht in Frieden ruhen. Das bewies: Selbst ein kleines Rufzeichen wie Augustchen nannte eine Seele sein Eigen. Auch, wenn es nur eine Zeichenseele war. Eben diese vermochte den Schlaf der Ewigkeit nicht anzutreten. Zu übermächtig war die Trauer wegen der Gleichgültigkeit der Menschen. Zutiefst verletzt, verselbstständigte sie sich, zwängte sich durch die inneren Schichten des Monitorbildes und kämpfte sich als schattenähnliches Geistwesen zwischen den Schriftzeichen ihres ehemaligen Satzes hindurch. Deprimiert, da zur Handlungsunfähigkeit verdammt, schaute es dem desorientierten Treiben der ihres ach so gewichtigen Zeichens beraubten Einzelteile seiner Buchstabenmannschaft zu. Völlig verwirrt tanzten diese Anteile des ehedem so geordneten Wortgefüges über den Bildschirm, riefen verzweifelt suchend laut nach Augustchen: „Wo bist Du? Du kannst uns doch nicht ohne Satzabschluss einfach hier so stehen lassen. Wir brauchen Dich. Ohne Dich sind wir nicht vollständig!“ Jammerten sie, verloren zunehmend ihre Fassung und dann auch die ihnen zugewiesene Anordnung. Ein heilloses Chaos rumpelte und polterte da über den Schirm. Urplötzlich vereinsamte Vokale suchten in tiefer Panik entsetzt nach ihren nachfolgenden Konsonanten, die wiederum ihrerseits nach den ihnen folgenden Vokalen fahndeten. Wörter schrieen in schwarz-weißer Aufregung nach ihren vermissten Silben. Verständlich, denn ohne diese waren sie ein Nichts. Je nachdem, welche ihrer Silben fehlten! Und nichts zu sein, gefiel ihnen gar nicht. Nichts zu sein bedeutete, keine Bedeutung zu haben. Für Buchstaben, Silben und Sätze endete das im weißen Tod. „Was sollen wir denn bloß tun?“ jammerte ein kleines „a“ vor sich hin, schnappte hilfesuchend mit seinem auslaufenden Endbogen den Anfangsbogen eines kleinen „c“ und klammerte sich in höchster Not krampfhaft an ihm fest. So fühlte es sich schon ein wenig sicherer. Eine Minute später hopste ein seinen Wortzusammenhalt entbehrendes “h“ vorbei. Das kam diesen Beiden gerade recht. Das „c“ piepste mit hohem Stimmchen: „Halt!“ und spielte dann Haltebogen für jenen übermütigen Hampelmann. Überglücklich genossen es das „a“, das „c“ und das „h“, wieder in ein Wort eingebunden und damit in Sicherheit zu sein. Sie seufzten erleichtert auf. Als Erstes das „a“ mit seiner Bassstimme, dann heller das „c“ in „Tenor“. Letztendlich folgte das „H“ als Bariton: „Ach, ist das schön! Wir sind gerettet. Wir sind wieder von gesteigertem Wert!“
Schriftzeichen geben Gedanken von Menschen wieder. Diese Gedanken sind Produkte der Intelligenz. Also durften sich all jene schwarzen Figürchen, die Klein- und erst recht die Großbuchstaben, aber selbst die winzigen Punkte, die etwas längeren Kommata, die noch größeren Semikolons, die elegant-langgestreckten Gedankenstriche und letztendlich die imponierend geschwungenen Fragezeichen sehr wohl auch ein ihrer Größe entsprechendes Quäntchen an Intelligenz zusprechen. Die all diese verunsicherten Geschöpfe unserer Schrift dann endlich einmal ausschöpften. Das Beispiel des nunmehr stolz posierenden „Ach´s“ vor Augen, wurden aus all den kleinen Chaoten kleine Soldaten. Formierte sich allmählich ein regelrechtes Buchstabenheer. Das Selbstwertgefühl dieser Ritter des Schriftverkehrs erholte sich zusehends. Die Großbuchstaben übernahmen wieder selbstbewusst ihre Führerrolle in den Anfangssilben der Wörter. Die Kleinbuchstaben reihten sich aneinander. Vokale entdeckten die Konsonanten. Die Konsonanten ihrerseits ketteten froh dann bereits zum zweiten Male die vermissten Vokale ihres jeweiligen Wortes an sich. Die Punkte brachten durch ihr konfuses Verhalten, sich einfach irgendwo(!) zwischen zwei Buchstaben zu platzieren, nicht länger die Regeln der Zeichensetzung durcheinander. Ebenso taten all die Kommata und die Semikolons. Ja, ihr (wenn auch minimales) Denkvermögen kam ebenfalls zum zweiten Male zum Tragen und flüsterte ihnen zu, wo sie, verflixt und zugenäht, sich gefälligst aufzuhalten hätten. All diese Zeichen kostete es ungeheure Konzentration, ja keinen Fehler zu machen, um nicht ein neues, dann noch verrückteres Chaos ins Leben zu rufen. Da fiel den apart geschwungenen Fragezeichen die neue Disziplinierung weitaus leichter. Gemäß ihrer Größe nannten die nämlich mindestens zwei Quäntchen Intelligenz ihr Eigen.
Das war ihr Vorteil. Sie nutzten ihn gründlichst. Nach bestem Wissen und Gewissen. Mehr als jemals zuvor in ihrem Dasein. Zwar in ihrem Auftreten schüchterner als ihre Kollegen, die Rufzeichen. Sie hießen ja nicht ohne Grund Fragezeichen. Waren sich in vielem nicht so sicher, stellten ja Dinge in Frage. Doch durch den Tod Augustchens hatten sie an Rang gewonnen. „Los, Leute!“ Kommandierten sie wichtigtuerisch. „Aufstellung annehmen, Haltung bewahren!“ Stöhnend befahlen sie all diese Anteile der Schrift auf die ihnen zustehenden Plätze, riefen schiefstehende Buchstaben zur Ordnung und halfen ratlos umher purzelnden kleinen Punkten und Kommata, deren passende Buchstaben- bzw. Wortlücke einzunehmen. Ernteten zum Dank ein strahlendendes, tiefschwarzes Blinken. „Himmel, ist das schwierig!“ Was sie nie vermutet hätten. Seufzten unter der Last der neuen Verantwortung. Gemäß ihrer Veranlagung richteten sie eine grüblerische - bewundernde Frage der Nachdenklichkeit gen Himmel: „Mein Gott, wie hat Augustchen das bloß alles in den Griff bekommen? Das ist ja niederkrümmend!“ Des schweißtreibenden Stresses wegen hielten sie sich nur noch mühsam, mit eisernem Willen aufrecht. Um nicht einen noch krummeren Rücken zu kriegen. Sie hatte der Ehrgeiz gepackt, zu beweisen, dass sie nicht lediglich kluge Fragen stellen könnten. Schließlich waren sie jetzt „Wer“: Immens wichtige Persönlichkeiten.
Allmählich beruhigte sich das Bild des heillosen Getümmels. Verschwand das Gewirr der Panik. Besänftigt verlor der Monitor sein nervöses Zittern und fand seine relative Ausgeglichenheit wieder. Zumindest fast. Wieso nur fast? War denn jetzt nicht alles geklärt, die alte Ordnung wieder hergestellt? Ja, und doch nein. Zwar standen sämtliche mehr oder auch weniger weisen Schriftzeichen jetzt, klug, wie Anteile des Abc`s nun einmal zu sein haben, erneut jedes auf seinem ureigenen Standplatz. In Reih und Glied verharrten sie da unbeweglich auf einer Stelle, wie es sich für diese schwarzen Gesellen geziemte. Aber in der elektrischen Luft über ihnen und um sie herum herrschte anhaltend eine gewisse Spannung. Hinterließ bei sämtlichen Groß- und Kleinbuchstaben, den winzigen Punkten und Kommata, den etwas größeren Semikolons, den elegant-langgestreckten Gedankenstrichen und den imponierend geschwungenen Fragezeichen das vage Gefühl, dass das Abenteuer für sie alle noch keineswegs ausgestanden war. Wie, was fehlte denn noch in der neuen alten Ordnung?  Schneller, als sie alle gedacht hätten, (Schriftzeichen brauchten dazu meistens etwas länger!), löste sich das Rätsel.
Es war der Großbuchstabe „H“, der mit einem jubelnden „Hurra“ seinen linken, senkrechten Balken begeistert zum virtuellen Himmel streckte und mit dieser seiner Aktion abrupt die geheimnisvolle Stimmung zerriss. Neugierig reckten sich daraufhin nicht nur die restlichen großen „H´s“, sondern sämtliche Groß- und Kleinbuchstaben, die winzigen Punkte und Kommata, die etwas größeren Semikolons, die elegant-langgestreckten Gedankenstriche sowie auch die imponierend geschwungenen Fragezeichen aufwärts. Um einen Blick nach oben zu riskieren. Die Kleinbuchstaben waren im Nachteil. Sie waren kleiner. „Was ist denn?“ piepste da ein besonders vorwitziges kleines „i“ und versuchte keck, auf das links neben ihm stehende kleine „a“ zu steigen. Der besseren Aussicht wegen. Das passte dem aber nun gar nicht. Mit einem empörten „iih!“ schubste es den kleinen Frechdachs unsanft zurück auf dessen eigenen Platz. Bekam von dem darob dann beleidigten Etwas ein gereiztes “au“ zu hören. Es hatte sich infolge an dem Häkchen des rechts neben ihm stehenden kleinen „r`s“ gestoßen. Den Schubs im Übrigen fand es überhaupt nicht fair!
Was aber hatte denn das große „H“ dazu gebracht, seine streng-geometrisch-militärische Haltung aufzugeben, in dermaßen krasser Art die neue alte Ordnung durcheinander zu wirbeln? Wir Menschen folgten seinem richtungsweisenden linken Balken, richteten unsere Augen gen den virtuellen Himmel. Uns zur Strafe jedoch blieb dem menschlichen Blick der Anblick jener schattenhaften Erscheinung dort oben, jenes kleinen Wunders, verborgen. Wieso zur Strafe? Für die von uns Menschen bewiesene Gleichgültigkeit in Sachen Dankbarkeit. Und...inwiefern „kleines Wunder?? Was war geschehen? Das „H“ hatte Augustchens Geist entdeckt und erkannt. Ihr Augustchen ließ sie nicht im Stich.
Die neuerliche Unruhe aus Freude erfasste nicht nur sämtliche große „H´s“, nicht allein alle anwesenden Großbuchstaben. Nein, auch die fast unübersehbare Schar ihrer kleinen Freunde geriet in Aufruhr, zitterte flimmernd auf dem ehemals beruhigten Bildschirm vor sich hin. „Fantastisch“ tönte ein kleines „f“. „Rasant!“ Meinte ein „r“. „Wunderbar! “staunte ein „W“. „Grandios!“ gebärdete sich ein großes „G“ euphorisch wie toll. „G“ stand für Geist. Den es jetzt bewies, indem es sich zum Reporter des fantastischen, wunderbaren, ja tatsächlich grandiosen Ereignisses machte. Damit selbst die kleinsten Schriftzeichen etwas davon hätten. Es hub an, eine mehr als bedeutungsvolle Rede zu schwingen: „Meine lieben winzigen, kleinen, etwas größeren und großen Kameraden in der weltweiten Bildschirmwelt! Jetzt sind wir im Vorteil. Menschen verhielten sich achtlos gegenüber der mannigfachen Verdienste Augustchens. Beanspruchten seine Hilfe, ermordeten und vergaßen es. Deshalb ist nur uns, die wir seiner gedachten, der Anblick dieses kleinen Wunders vergönnt. Augustchen ist um uns, verzehrt sich nach Dankbarkeit. Damit seine Zeichenseele die ewige Ruhe findet.“
Augustchens Geist nahm eine deutlichere Form an. War als Rufzeichen zu erkennen. Mit seinem Balken und dem um 180 Grad verdrehten I-Punkt. Doch die feierliche Ansprache des großen, weisen „G´s“ fand noch kein Ende. Nein, es folgte noch eine Steigerung der ausgesprochenen Dankbarkeit: „Wärest Du, unser Augustchen, nicht so selbstlos gewesen, hätten die Menschen niemals schriftlich Freude, Trauer, Tragig in angemessenem Stil zum Ausdruck bringen können. Du warst weiser als wir alle, gabst uns Bedeutung. Bedeutung bedeutet für uns Leben. Wir, Dein fast unüberschaubares Buchstabenheer, danken Dir dafür!“
Sämtliche Buchstaben, die winzigen Punkte, die kleinen Kommata, die etwas größeren Semikolons, die elegant-langgestreckten Gedankenstriche und erst recht die gar nicht mehr schüchternen Fragezeichen verharrten Augustchen zu Ehre mucksmäuschenstill, in aufrechter Haltung und Buchstaben angemessen unbeweglich auf den ihnen zugewiesenen Plätzen. Schauten in Bewunderung zum virtuellen Himmel. Fasziniert, was sie dort beobachteten.
Bei jedem weiteren Satz des großen, weisen „G´s“ hatte sich Augustchens Seele deutlicher formiert. Schwebte dort dann als klares Rufzeichen am Himmel. Die an sie gerichtete Dankbarkeit brachte sie zum Strahlen. Alle Enttäuschung ob der undankbaren Menschenwelt war verdrängt. Spielte für sie keine bedeutende Rolle mehr. Das ganze ABC heftete verehrend seinen Blick auf sie. Dort oben am virtuellen Himmel. Erstarrt vor Dankbarkeit ob der wieder gewonnenen eigenen Wichtigkeit.
Augustchens Seele blitzte in leuchtend schwarzer Seligkeit auf. War einen Moment lang als stolzes, selbstbewusstes Rufzeichen zu betrachten. Danach wurde sie schwächer und schwächer, bis sie sich letztendlich in die inneren Schichten der weißen Dokumentenseite verflüchtigte. Stille lag über dem Bildschirm. Wohlgeordnete Andacht, schier grenzenlose Verzückung!
Doch der Lohn seiner bewiesenen Dankbarkeit wegen für unser ehrfürchtig starrendes, kaum überschaubaren, weltweiten Buchstabenheeres stand noch aus. Noch(!) war der Zauber nicht gebrochen. Das Schönste folgte noch.
Ein helles Computerpiepsen, wie ein Jubelschrei des ehemals oft hoch geachteten Augustchens zerriss das Schweigen. Bevor unser vollständiges ABC mit all seiner Intelligenz dies in der richtigen Weise deuten konnte, geschah etwas Wunderbares. Etwas, was die ohnehin schon in ihrem Selbstwertgefühl gestärkten Schriftzeichen noch stärker werden ließ:
Der virtuelle Himmel auf der normalerweise blendend weißen Dokumentenseite färbte sich grau-schwarz. Aus den inneren Schichten des Bildschirmbildes bohrten sich per Balken Tausende winziger Rufzeichen an die Oberfläche. Schwebten auf das immer noch salutierende Buchstabenheer hernieder. Von Augustchens geistigem Willen geleitet, fanden sie alle den für sie reservierten Platz. Ketteten wie schon vor Jahrtausenden Worte zu wichtigen Aussagen zusammen, gewannen dadurch an Selbstbewusstsein, übernahmen wieder die Führerrolle am Satzende und retteten so das gesamte Abc vor dem dereinst drohenden weißen Tod.
Augustchens Seele hatte ihren Frieden gefunden.
Glückliches Augustchen!

Ein zweites Mal missachteten Millionen von Menschen vor ihren Computern in aller Welt kaltherzig Augustchens selbstlosen, diesmal sogar post mortalen Einsatz Empfanden keinen Deut Dankbarkeit dieser doch äußerst bedeutungsvollen Hilfsaktion wegen. Gedachten nicht im Geringsten, nicht einmal für die Dauer einer Sekunde, des von ihnen ausgenutzten, dann ermordeten und letztendlich vergessenen kleinen Rufzeichens. Sie blieben davon gänzlich  unberührt.
Menschen sind eben keine Schriftzeichen.
Armes, bedauernswertes Augustchen!

                 
                                                                                                    Gaby Schumacher, 7. Mai 2004

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