Die Jacke

Geschichte zum Thema Sinn/ Sinnlosigkeit

von  leorenita

Sie hing in der Kneipe am Haken. Ihre ursprüngliche Farbe - Spekulation. Jahre hatten ihr Patina verliehen, vieldeutig im Farbton, von brechreizender Wirkung. Niemand störte sich an ihr – keiner vermisste sie. Nutzlos hing sie und träumte: „Jemand kommt, greift nach ihr, nimmt sie herunter, hält sie auf und ein Ärmel... dann der Andere ...“
Sie liebte Wind und Wetter. Selbst in einer Pfütze oder einem Schlammloch liegend hätte sie sich wohler gefühlt als hier, wo sie morgens dem kalten Rauch und abends dicken Schwaden ausgeliefert war.
Das Schönste für sie war, einen Menschen zu umschließen, Wind Regen und Kälte auf der Außenseite und von innen seine warme Haut zu spüren. Ärgerte sich der Mensch, pulste sein Blut in harten schnellen Schlägen, so legte sie sich besonders weich um ihren Träger. Hatte sein Gemüt sich erhitzt, öffnete sie sich um ihm Kühlung zu verschaffen.
Am Liebsten hüllte sie Verliebte ein, deren Puls schlug aufgeregt aber leicht und legte immer wieder Extrahüpfer ein. Die verschafften ihr ein angenehmes  Kitzeln und wirkten belebend.
Sie war eine Herrenjacke und kurz bevor sie ihren Besitzer verlor, hatte sie das schönste Erlebnis ihres Getragenwerdens.
In einer unbeständigen Wetterperiode- also genau richtig für sie – verliebte sich ihr Besitzer. Sie wusste es schon lange, weil sie die gefühls- und hormonbedingten Herzrhythmusstörungen  hautnah mitbekam, die immer einsetzten wenn das Mädchen auftauchte, mit dem er jetzt zu einem Spaziergang verabredet war.
Er war so aufgeregt, dass sie schon befürchtete, von ihm vergessen zu werden und tatsächlich war er schon fast zur Türe hinaus, als er sich auf sie besann. Ungeduldig vom Bügel gezerrt und über die Schulter geworfen, fühlte sie schon schlechte Laune in sich aufsteigen. Warum fand er sich nur so lässig und cool, wenn er sie nicht anzog? Für sie war das nicht einmal das halbe Vergnügen.
Zum Glück blies draußen ein kühler Wind. Der rief ihrem Besitzer ihre wahren Qualitäten ins Gedächtnis und lies ihn dieses wunderbare Ritual vollziehen, welches er Anziehen nannte. Liebevoll schmiegte sie sich an und um ihn und verschloss ihre Außenseite besonders gut gegen den Wind.
Am schnellen Schlag seines Herzens erkannte sie den Treffpunkt und als  - bum bubum bubububumm - die Extrahüpfer einsetzten war auch das Mädchen da.
Sie spürte, wie der Mann um das Mädchen warb. Da kam ihm das Wetter mit einem eisigen  Wind zur Hilfe. Ohne zu zögern schlüpfte aus ihr heraus aus und legte sie dem Mädchen um die Schultern. Beglückt riegelte sie die Kälte von außen ab und verströmte nach innen die sorgfältig gespeicherte Wärme seines Körpers und seinen Duft. So streichelte sie Haut und Sinne der jungen Frau und half, sie für ihn zu gewinnen.
Sie schwelgte in dieser Erinnerung.
Nach diesem Erlebnis wurde sie lange mal von ihm und mal ihr getragen, bis zu dem Tag, an dem die Beiden sich hier in der Kneipe so furchtbar stritten, dass sie sich niemals wiedersehen wollten. Sie, das Sinnbild ihrer Liebe, ließen sie einfach hängen.
Damals- ja, damals war sie modisch, gut aussehend, warm, weich, anschmiegsam, von freundlicher Farbe. Heute... sie mochte gar nicht daran denken.
Seitdem hing sie am selben Haken. Keine Berührung hatte ihr gegolten. Als läge ein Fluch auf ihr hatte niemand sie mehr angefasst.
Als die Kneipe nach vielen Jahren einmal gründlich aufgeräumt werden sollte, standen Wirt und Wirtin vor ihr und fragten gleichzeitig: „Weißt du von wem die Jacke ist?“ schüttelten die Köpfe und sagten: “Das wollt' ich dich schon lange fragen.“
Er: „Sieht ja widerlich aus.“
Sie: "Richtig ekelhaft.“
Beide: “Wir sollten sie rauswerfen.“
Die Jacke begann zu hoffen. Sollte sie endlich mehr Frischluft bekommen als das Bisschen Zug, dass sie beim Öffnen der Kneipentür streifte?
Sie „Die hängt schon seit Jahrzehnten hier.“
Er „Gehört schon zur Einrichtung.“
Ihr Mut sank.
Sie: „ Sollen wir sie behalten?“
Er: „Uns „Zur Jacke“ nennen?"
Sie: "Vielleicht ist sie ein Glücksbringer.“
Er: „Stimmt, lief ja immer gut bei uns.“
Die Wirtin langte nach der Jacke um sie näher zu betrachten.
Sie verhärtete ihre Oberfläche, zog die Hängefalten fest und presste die Ärmel an ihre Seiten, damit sie ganz sicher unbrauchbar und hässlich aussah.
Als die Hände an ihr zogen, riss sie und entließ dabei dicke Geruchsschwaden. Die Frau verzog das Gesicht, hielt die Luft an und öffnete die Türe. Zu einem von Herzen kommenden: “ Pfui Teufel!!!“ der Wirtin flog sie aus dem Haus.
Eine übermütige Böe kam und wirbelte sie hoch in die Luft, wo sie sich vor Freude mehrmals überschlug. Heute war ihr Glückstag.. Es herrschte richtiges Jackenwetter mit Sturm und Regenschauern. Der Windstoß trug sie zu einem Park, ließ von ihr ab und sie segelte sanft zu Boden. Nein, nicht zu Boden, ein Stück über der Erde war ihr Fall zu Ende.
Sie glaubte es nicht. Sie lag auf Etwas, das atmete und einen lebendigen Puls hatte. Was war das nur? Für einen Menschen war es doch zu kalt, oder täuschte sie sich nach so vielen Jahren darin?
Der Mann zuckte im Schlaf, als sie auf ihn fiel. Er erwachte, befühlte sie und da wurde ihr klar, dass sie wirklich auf einem Menschen gelandet war. Auf einem frierenden Menschen.
Er erkannte sie als Jacke. Seine zitternden Finger suchten. Sie verstand und öffnete den einen Ärmel. Sie krochen vorsichtig hinein. Dann den Anderen. Noch weiter aufgehalten. Seine tastende Hand findet den Eingang und der zweite Arm schiebt sich in sie. Jetzt  kommt der Ruck und sie sitzt über den Schultern. Eng schmiegt sie sich an ihn, als er sie vorne schließt.  Geliebtes Ritual.









Alte Version folgt:


Die Jacke


Sie hing an der Garderobe einer Kneipe. Über ihre ursprüngliche Farbe konnte nur noch spekuliert werden. Jahre hier hatten ihr Patina verliehen, vieldeutig im Farbton, von brechreizender Wirkung. Es störte sich aber niemand an ihr – und keiner vermisste sie. Nutzlos hing sie und träumte davon wieder einmal gebraucht zu werden, von irgend jemandem:“ nur einmal wieder vom Haken genommen und aufgehalten werden, spüren wie erst ein Ärmel und dann der Andere ... – einen lebendigen Menschen umhüllen dürfen, um vor Wind und Wetter zu schützen“.
Sie liebte Wind und Wetter. Rum zu hängen war elend langweilig. Selbst in einer Pfütze oder einem Schlammloch liegend hätte sie sich wohler gefühlt als hier, wo es morgens kalten Rauch und abends dicke Schwaden gab. Beidem war sie hilflos ausgeliefert.
Das Schönste für sie war, einen Menschen zu umhüllen und, indem sie ihn davor beschützte, Wind Regen und Kälte auf der Außenseite zu spüren während sie von innen sein warmes Blut pulsieren fühlte. Am Deutlichsten war das, wenn der Mensch in Aufruhr war. Ärgerte er sich, pulste sein Blut in harten schnellen Schlägen, dann versuchte sie besonders anschmiegsam zu sein um ihren Träger zu besänftigen und wünschte, sie könnte Ärger von ihm abhalten wie Wetter. Da sie dieses Gefühl aber selbst nicht kannte konnte sie auch nicht vor ihm schützen. Aber Kühlung konnte sie ihm verschaffen, hatte sein Gemüt sich zu sehr erhitzt, öffnete sie sich von selbst.
Am Liebsten hüllte sie Verliebte ein, deren Puls schlug so aufgeregt aber trotzdem leicht und legte immer wieder einen Extrahüpfer ein, von dem sie sich angenehm gekitzelt fühlte. Sie war übrigens eine Herrenjacke und nicht lange bevor sie ihren Besitzer verlor hatte sie das schönste Erlebnis ihres Getragenwerdens.
Es war in einer unbeständigen Wetterperiode, also genau richtig für sie und ihr Besitzer verliebte sich gerade. Zu einem Spaziergang verabredet war er und reichlich nervös, da es sein erstes Stelldichein mit diesem Mädchen war, das ihr (der Jacke) so viel angenehmes Kitzeln verschaffte durch die gefühls- oder hormonbedingten Herzrhythmusstörungen die es bei ihm verursachte.
Er war so aufgeregt, dass sie schon befürchtete von ihm vergessen zu werden und tatsächlich war er schon fast zur Türe hinaus, als er sich auf sie besann. Ungeduldig vom Bügel gezerrt und über die Schulter geworfen fühlte sie sich schlecht behandelt. Es war zu dumm, er fand sich so lässig und cool, wenn er sie nicht anzog. Für die Jacke war das nicht einmal das halbe Vergnügen. Zu ihrem Glück blies draußen ein kühler Wind. Der rief ihrem Besitzer ihre wahren Qualitäten ins Gedächtnis und lies ihn dieses wunderbare Ritual durchführen welches er Anziehen nannte. Liebevoll schmiegte sie sich an ihn und verschloss ihre Außenseite besonders gut gegen den Wind.
Am Schlag seines Herzens erkannte sie den Treffpunkt und als bum bubum bubububumm die Extrahüpfer einsetzten war auch das Mädchen da.
Sie gingen spazieren. Es war ganz deutlich, der junge Mann war der Verliebtere von Beiden und die Jacke spürte wie er warb. Da kam ihm das Wetter mit einem eisigen  Wind zur Hilfe. Ohne zu zögern öffnete er sie. schlüpfte aus ihr heraus aus und legte sie um des Mädchens Schultern. Beglückt von dieser Aufgabe riegelte das treue Kleidungsstück die Kälte von außen ab und verströmte nach innen die sorgfältig gespeicherte Wärme seines Körpers und seinen Duft. Mit Beidem streichelte sie die Haut der jungen Frau und half ihm so, sie für sich zu gewinnen.
Die Jacke schwelgte in dieser Erinnerung. Nach diesem Erlebnis wurde sie viele Jahre lang  mal  von ihm und mal ihr getragen, bis zu dem Tag, an dem die Beiden sich in dieser Kneipe  so furchtbar stritten, dass sie sich niemals wiedersehen wollten. Die Jacke, die ein Sinnbild ihrer, nun zerbrochenen, Liebe war ließen sie einfach hängen.
Damals, ja damals war sie modisch geschnitten, gut aussehend, warm, weich, anschmiegsam von freundlicher Farbe. Heute... sie mochte gar nicht daran denken.
Sie hing noch immer am selben Haken, keine Berührung hatte ihr seitdem gegolten, als läge ein Fluch auf ihr hatte niemand sie mehr angefasst.
Es dauerte viele Jahre bis Wirt und Wirtin sich einmal zufällig genau vor der Jacke trafen. Gleichzeitig fragten sie: „Weißt du von wem die Jacke ist?“ schüttelten die Köpfe und sagten: “Das wollt' ich dich schon lange fragen.“
Er: „Sieht ja widerlich aus.“
Sie: "Richtig ekelhaft.“
Beide: “Wir sollten sie rauswerfen.“
Die Jacke begann zu hoffen.
Sie „Die hängt schon seit Jahrzehnten hier.“
Er „Gehört schon zur Einrichtung.“
Der Jacke sank der Mut.
Sie: „ Sollen wir sie behalten?“
Er: „Uns „Zur Jacke“ nennen?"
Sie: "Vielleicht ist sie ein Glücksbringer.“
Er: „Stimmt, lief ja immer gut bei uns.“
Sie streckte ihre Hand nach der Jacke aus um sie näher zu betrachten. Die Jacke machte sich  so steif wie es ging, denn sie musste diese Gelegenheit für sich nutzen. So bekam sie Risse als die Wirtin versuchte sie auseinander zu ziehen und entließ dabei dicke Geruchsschwaden. Die Frau verzog das Gesicht, hielt die Luft an, öffnete die Türe und warf die Jacke mit einem von Herzen kommenden :“ Pfui Teufel!!!“ aus dem Haus.
Hätte man ihr einen Mund geschneidert, so wäre da ein lautes Jubeln zu hören gewesen. Sie überschlug sich vor Freude und wurde von einer übermütigen Böe hoch in die Luft gewirbelt. Heute war ihr Glückstag und es herrschte richtiges Jackenwetter mit Sturm und Regenschauern. Der Windstoß trug sie zu einem Park, ließ dort von ihr ab und sie segelte sanft zu Boden. Nein, nicht zu Boden, ein Stück über der Erde war ihr Fall zu Ende.
Sie glaubte es nicht, sie lag auf etwas, das atmete und einen lebendigen Puls hatte. Was war das nur, für einen Menschen war es zu kalt, oder täuschte sie sich nach so vielen Jahren darin?
Der Obdachlose zuckte im Schlaf als die Jacke auf ihn fiel und wachte auf, er tastete nach ihr und jetzt wurde der Jacke klar, dass sie wirklich auf einem Menschen gelandet war, auf einem frierenden Menschen. Sie machte sich so weich wie es eben noch ging, wurde als Jacke erkannt und angezogen. Geliebtes Ritual.
Stumm, da man ihr keinen Mund geschneidert hatte, stimmte sie in das dankbare Gemurmel des Mannes ein und als er wieder schlief flüsterte sie unhörbar: schade dass ich so viele Risse habe, jetzt wo ich wirklich gebraucht werde. Und als ihr all die nutzlos verbrachten Jahre in den Sinn kamen, da hätte sie am Liebsten geweint.


Anmerkung von leorenita:

Nach Joes Anregungen habe ich den Text nochmal überarbeitet. Da ich seine Hinweise sehr hilfreich finde, nicht nur zu meinem eigenen Text, sondern auch die bei Anderen, habe ich mich entschlossen die alte Textversion noch eine Weile hinter der Neuen stehen zu lassen, für alle die von Joes dankenswerter Mühe auch profitieren wollen.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

zackenbarsch† (74)
(18.10.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 leorenita meinte dazu am 18.10.05:
Lieber Friedhelm,
es bedeutet mir sehr viel, dass du diese Geschichte so empfindest, tausend Dank für deinen Kommentar, sei ganz lieb gegrüßt, Regine
Joe (45)
(20.10.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 leorenita antwortete darauf am 23.10.05:
Hallo Joe,
herzlichen Dank für deine Mühe. Zunächst freut es mich natürlich von dir zu hören, dass du die Geschichte gern gelesen hast und sie gut findest. Danke für das Kompliment. Ganz besonders freue ich mich darüber, dass du dir diesen Text vorgenommen hast. Das hat mir viel gebracht und ich denke der Geschichte auch. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Lösung mit dem Traum der Jacke, den ich in der Gegenwart geschrieben habe.
Mir fällt es sehr viel schwerer Unstimmigkeiten und Fehler in einem eigenen Text zu finden als in Fremden.
Herzliche Grüße, Regine
Joe (45) schrieb daraufhin am 23.10.05:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram