Ich mag Schnee

Kurzgeschichte zum Thema Winter

von  Merkur

Draußen ist es schon lange dunkel. Im Schein der Straßenlaterne fällt Schnee. Natürlich wäre Mondschein schöner gewesen, aber man kann nicht alles haben. Außerdem wäre es kitschig. Eigentlich mag ich Schnee.

Ich sehe mein Spiegelbild in der Glasscheibe an. Es sieht besser aus als in einem Spiegel. Schnee fällt durch mein Gesicht. Die Straßenlaterne leuchtet in meinem rechten Auge. Ich drehe den Kopf etwas, doch ich kann mir trotzdem nicht in die Augen sehen. In dichten Flocken schneit es auf die Straße und den Park gegenüber. Eine dicke Schneedecke, unberührt und makellos weiß hat sich gebildet. Ein Gedanke, eine Erinnerung erreicht mich: Es tut nicht weh, es ist nur Schnee. Kaltes Weiß bedeckt den Scheiß. Wie passend, nur leider nicht von mir.

Ich weiß nicht, warum ich sie in solchen Momenten besonders vermisse. Es gibt keine Erinnerungen im Schnee mit ihr. Wir haben nie einen Winter zusammen erlebt. Es muß daran liegen, daß ich es schön finde und dies gerne mit ihr erlebte. Ich würde jetzt gerne mit ihr spazieren gehen, auf die Gefahr hin, die Makellosigkeit des Bildes vor mir zu ruinieren. Das wäre es mir wert.

Ein Glitzern reißt mich aus meinen Gedanken zurück zu dem verklärten Abbild meiner selbst. Eine einzelne Träne rinnt aus dem Augenwinkel über mein Gesicht. Oder es ist eine geschmolzene Schneeflocke. Daneben stelle ich mir eine rote Träne vor. Ich löse mich von dem Anblick und taste mich ins Bad. Licht schalte ich nicht ein. Im Dunkeln suche ich behutsam im Waschbecken die Scherben des zerschlagenen Spielgels. Blind wähle ich eine aus und gehe zurück zum Fenster.

Mein gespiegeltes Gegenüber setzt die Scherbe kurz unter dem Auge an und drückt zu. Ein einzelner Blutstropfen wird zu einer roten Träne, die ebenfalls mein Gesicht hinunter rinnt. Zwei Tränen, eine unschuldig rein, die daneben blutig rot. Das Bild ist schöner als ich es mir vorgestellt hatte. Doch es gefällt mir nicht. Ich ziehe den Schnitt weiter, daß er den Weg der kristallenen Träne kreuze. Ein heller Schmerz flammt auf, kein allzu großer, aber einer, der trotzdem weh tut, als sich der Tropfen in den Schnitt ergießt. Das Salz in der Wunde.

Ich werfe die Scherbe aus dem Fenster. Mein Blick folgt dem Glitzern bis es lautlos auf der Schneedecke aufschlägt. Und liegenbleibt. Deutlich sichtbar. In der sonst perfekten Schneedecke. Ich schaue weg und mein Blick fällt auf das Fensterbrett. Eine rote Träne muß von der Scherbe auf den Schnee getropft sein. Ein einzelne rote Schneeflocke. Das hätte ich gerne gesehen. Jetzt versickert sie langsam und weiße Schneeflocken fallen über sie her. Ich suche die Scherbe, doch auch sie ist schon nicht mehr zu sehen. Ich greife ein Hand voll Schnee und wische mir über das Gesicht.
Es tut nicht weh, es ist nur Schnee. Kaltes Weiß bedeckt den Scheiß. Ich mag Schnee.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Leila (23)
(22.12.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Merkur meinte dazu am 22.12.05:
Hallo, Leila ! Ich danke dir für deinen tollen Kommentar. Bin fast etwas verlegen. Ist schön zu lesen, daß dich der Text fasziniert hat. Danke nochmals ! Ganz liebe Grüße gebe ich gerne zurück !
jeyMaus (23)
(23.12.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Merkur antwortete darauf am 24.12.05:
Oh, das ist toll. Hätte ich nicht gedacht. Ich danke dir sehr für deinen Kommentar. Ist wirklich toll, sowas zu lesen Schöne Grüße an dich !
haifischmaedchen (24)
(05.11.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Graeculus (69)
(28.04.17)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Dieter_Rotmund (01.10.19)
Fängt ordentlich an, aber dann ist doch nur wieder so eine 08/15-Liebeskummergeschichte wie sehr viele hier, schade!
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram