Wenn Schatten sich in Liebe verlieren

Text zum Thema Liebe, lieben

von  Traumreisende

Sie ging damals im Morgengrauen ohne den Duft von Kaffee und warmen Croissants. Sie wollte ohne Abschied gehen. All den Dingen, die so vertraut in ihrem Blick lagen, hatte sie Lebewohl gesagt, nur nicht dem, der ihr das Leben geatmet hatte.

Eine Stunde zuvor lief sie noch durch den Garten bis hin zum See, als wolle sie hier ihre Erinnerungen ablegen. Sie ging sehr bewusst und langsam. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Alles war dick umreift und glitzerte fast märchenhaft in den ersten Sonnenstrahlen.
‚Warum ist es nur so schön?’, dachte sie: ‚Kann es nicht grau und nass sein, weinend wie meine Seele, sollte ich auch so strahlen, vom Wissen? So viel Wissen, vom Schnee, vom Eis, von der Kälte, dem Frühling und immer wieder dem Frühling?’

Den See überdeckte eine zarte Haut, genauso dünn wie ihr Gehen und doch so viel Leben darunter.
Zögernd setzt sie ihre Schritte in Richtung eines Baumes. Diesen Baum, diesen einen. Voll von Geschichten und Tränen, von Flüchen und Hoffen.
Wie absurd im Winter ein Blatt zu suchen!
Sie muss eines finden! Als würde auf diesem alles geschrieben stehen. Ein Buch, das sie mitnehmen kann.

Von all den Orten, die ihre Sinne berührten, sammelte sie Blätter. Nicht, um Geschichten zu horten, sondern um sie weiter zu erzählen. Wie viele erstaunte Gesichter hatte sie gesehen, als sie solch ein Blatt verschenkt hatte. ‚Ein Blatt? Wieso?’

Ja, wieso? Wann sie damit begonnen hatte, wusste sie selbst nicht mehr. Sie zog Kreisläufe von Blattgeschichten. Kein einziges davon war noch in ihrem Besitz. Ab heute sollte ein neues Blatt bei ihr wohnen.
‚Winter und Blätter!!’
Da entdeckte sie tatsächlich vereinzelte Stücke, die dem Wind getrotzt hatten, aber die hingen weit über ihrem Kopf, unerreichbar für sie. Unerreichbar und doch nah, wie so vieles im Leben.
Sie umarmte den Baum, als würde sie ihn um eine Gabe bitten. Er war warm.
Sie lehnte sich gegen ihn und ihr Blick zog noch einmal Kreise des Erinnerns. Es strahlte in ihr und doch hockte sie sich hin und weinte. Weinte das Schöne in sich hinein und den Schmerz hinaus.
Dabei sah sie zu ihren Füßen ein Stück braunen Bodens, das nicht vom Schnee überzogen war und obenauf ein Blatt. Auch das war vom Reif überzogen.

Als sie in das Haus zurück kam, war er wach und betrachtete sie verwundert.
„Ich glaubte, du wärest gegangen. Ohne Abschied.“
„Ja.“
Dann sah er in ihre Hand, sah das Blatt und sagte ebenfalls: „Ja.“
Sie wollte ohne Abschied gehen.
Jetzt atmete er weiter in ihr.
Immer.


.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

TanzderSinne (30)
(07.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende meinte dazu am 07.01.06:
ich habe nur noch eins, das von einem eukalyptusbaum und sein duft entführt mich immer noch an die aufgewühlte küste portugals...
dir einen lieben gruß
silvi
Tatzen (28)
(07.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende antwortete darauf am 07.01.06:
das weitergeben, das loslassen, nicht das horten, das ist wie ein wind der schwingenläßt im immerwährendem neubeginn... danke lieber daniel. glg zu dir
silvi
C.S.Steinberg (43)
(07.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende schrieb daraufhin am 07.01.06:
ich hoffe, dass sie trotzdem auch etwa leichtigkeit geben konnten...
dir alles liebe in den tag
silvi

 Martina (07.01.06)
Ja, auch mich hat dieser Text wieder sehr berührt. Du schaffst es immer wieder Worten Leben einzuhauchen und mich hier schmelzen zu lassen Lg Tina

 Traumreisende äußerte darauf am 07.01.06:
ohhh... jetzt habe ich gelächelt...aus dem leben in das leben...und bald ist frühling...
ich danke dir ganz doll
silvi
Herzwärmegefühl (53)
(07.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende ergänzte dazu am 07.01.06:
ja, ich hoffe, dass da ein lächeln ist, es freut mich, wenn u es so verstehen kannst, eine berührung, die nicht in die schwere ziehen soll.
hab ganz lieben dank
silvi
Fabian_Probst (44)
(07.01.06)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Traumreisende meinte dazu am 07.01.06:
wow ein hauch von hemmingway.... phhuu das wäre es... aber..Unerreichbar und doch nah, wie im Leben. .... :- )) der unerreichbare hemmingway... für mich ein ganz besonderer Erzähler...
hab ganz lieben dank
silvi

 AndreasG (09.01.06)
Hallo Silvi.
Ein faszinierendes Bild der Trostlosigkeit zeichnest Du hier. Voller Atmosphäre fängst Du die Schönheit der Kälte ein, die auch im übertragenen Sinn das Leben lähmt und doch mit glitzernden Kristallen lockt. Keine Ahnung warum, aber ich muss dabei daran denken, dass viele Menschen sich zu "coolen" Leuten hingezogen fühlen.
Auch bei dem Blatt als Symbol kann ich das Bild der Natur assoziieren: was erscheint denn in Winter im saftigen Grün? Efeu (giftig), Liguster (giftig), Buchsbaum (giftig), Ilex (stachelig) und Mistel (ein Schmarotzer mit klebrigen Früchten) fallen mir ein. Ähm...
Hatte ich erwähnt, dass es sehr schön geschrieben ist?
Liebe Grüße, Andreas

 Traumreisende meinte dazu am 10.01.06:
lieber andreas, das hat du wirklich schön gesgat und schön nachempfunden, vor allem deine assoziation mit den giftigen blättern
ich danke dir
sei ganz lieb gedrückt
silvi

 DariusTech (14.01.06)
Beeindruckend und schön. Wie die dünne Haut über dem Schnee, zunächst einfach, und doch mit viel Seele darunter. lg Darius
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram