Die versteckte Welt! (Überarbeitete Neufassung)

Text zum Thema Achtung/Missachtung

von  tastifix

Die versteckte Welt (überarbeitete vollständige Fassung)

Weit, weit fort in jenem fernen Land, das beherrscht ist von Feuer und Eis und umwoben von Geheimnissen und Mythen, leiden die Menschen auch heute noch oft unter den Launen der Natur. Wandert ihr besorgter Blick während eines heftigen Gewitters über die bizarren Felsen ihrer Heimat, an denen sich in fast nachtschwarzer Düsternis der Sturm bricht oder beobachten sie die öden Mondlandschaften gleichenden Ebenen, die bedrohliche Blitze in ein unheimliches Flackern tauchen, beflügelt das ihre Fantasie.

Nur die Wenigsten sträuben sich dagegen. Die meisten Bewohner jedoch geben sich dem eigenartigen Zauber des Glaubens an eine andere, für Sterbliche unsichtbare Welt hin. Die Wesen jenes fremden Daseins haben sie mit ihrem Herzen bereits gefunden. Es sind Elfen, die sich sehnlichst ein freundschaftliches Verhältnis zu den Menschen wünschen. Diese Zauberwesen bewohnen die Felsenhöhlen der Berge. Manchmal wählen sie aber auch einen der weit verstreuten etwas kleineren Steinbrocken. Ab und zu findet man einen solchen dann direkt längs der Straßen der Menschen.

In Reykjavik steht eines Morgens Bauleiter Gunnar grübelnd vor einem riesigen Stein. Dummerweise liegt der dort, wo eine Ausfahrtsstraße lang geführt werden soll. "Hm, Leute!", überlegt der Bauleiter mit seinen Arbeitern, "wie hieven wir bloß den Brocken hier weg?“ "Chef, mit dem Bagger ist das wohl kaum ein Problem!", entgegnet Erik, einer der Männer. "Von wegen, Gunnar hat Recht. Das wird schwierig!", widerspricht Amur, sein Kollege. Gunnar seufzt. Dann aber spornt er seine Leute an: "Nutzt ja alles nichts. Auf in den Kampf!" Daraufhin spurtet Amur zu dem Baufahrzeug, klettert in die Fahrerkabine und lässt den Motor an. Nur die Räder drehen durch. Doch das Fahrzeug rührt sich nicht von der Stelle. Amur springt heraus und prüft den Untergrund. Nein, der Boden ist griffig und fest. Er startet einen zweiten Versuch - umsonst! Ratlos stehen die Männer in den nächsten Minuten beisammen und schütteln die Köpfe. So etwas ist ihnen noch nie untergekommen.

"Holt den größeren Bagger!", fordert Gunnar. Der steht ein wenig weiter entfernt vor einer Baugrube. Diesmal versucht Erik sein Glück. Aber...was ist das? Das Fahrzeug rollt mitnichten in die gewünschte Richtung, sondern unaufhörlich auf die Grube zu und ist auch nicht zu stoppen. Erik wird es mulmig. Er ruft laut um Hilfe. Zu spät! Schon hat der Bagger den Grubenrand erreicht und rutscht dann schneller und immer schneller in die Tiefe. Am Grund kippt er auf die Seite. Die Fahrerkabine ist eingedrückt. Eriks Kopf liegt blutend auf dem Steuer. Eiligst ruft Gunnar telefonisch Helfer herbei. Jedoch wird es eine Weile dauern, bis sie an der Unglücksstelle sind.

Selbst dieser tragische Zwischenfall bringt die Männer nicht von ihrem Vorhaben ab. Schließlich haben sie ihren Auftrag auszuführen. So macht sich Amur daran, den Gesteinsbrocken mit einem Presslufthammer zu zerkleinern. Schweiß tropft ihm von der Stirn. Die Splitter spritzen in alle Himmelsrichtungen. Plötzlich saust eine Steinspitze dem Arbeiter an die Wange. Der schreit auf, lässt sein Werkzeug fallen und schlägt verzweifelt die Hände vors Gesicht. Der Schock und der Schmerz lassen ihn hilflos ein paar Schritte umhertaumeln. Entsetzt beobachten Gunnar und die Umstehenden das Geschehen. Die Meißelspitze ist doch richtig angesetzt worden. Wie hat das nur passieren können?

Zum Glück treffen kurz darauf die Sanitäter ein. Als Erstes befreien sie Erik aus der Fahrerkabine des Baggers und schieben ihn auf einer Trage in ihren Wagen. Danach kümmern sie sich um Amur. Sie fahren die beiden Verunglückten auf dem schnellsten Wege ins nächste Krankenhaus. Wie es sich später herausstellt, hat Erik noch einmal Glück gehabt. Es ist nur eine Platzwunde. Amur dagegen muss sich einer längeren Behandlung unterziehen.

Gunnar beschleicht ein eigenartiges Gefühl. Er lässt sich tunlichst nichts anmerken, denn es ist ihm ein unheimlicher Gedanke gekommen. Wie, wenn an den Sagen um eine fremde Welt etwas Wahres dran ist? Haben tatsächlich unbekannte Wesen ihre Hand im Spiel? Gunnar zweifelt nach wie vor daran, wagt es aber nicht mehr einfach als Spinnerei abzutun. "Angenommen, es gibt sie wirklich...Wollen sie uns Menschen auf diese Weise etwas dringlichst klar machen oder, wie dann jetzt wohl, gar für irgendetwas strafen? Aber wofür...?" Eine Gänsehaut kriecht ihm über den Rücken. Gleich ihm ergeht es auch seinen Kameraden. Wortlos stehen sie aschfahlen Gesichtes neben ihm und stieren gebannt auf den ihnen unheimlich gewordenen Stein.

Da verdunkelt sich plötzlich der Himmel. Allein der Fels schimmert noch in einem blassen Licht. Wie gelähmt verharren die Männer an ihrem Platz. Im fahlen Schein erkennen sie zwei zierliche beflügelte Wesen, so groß wie halbwüchsige Kinder. Sie hocken oben auf dem Stein, sehen die Männer unendlich traurig und auch sehr vorwurfsvoll an. Es sind Piri und Emir, zwei Elfenjungen, die von ihrer Mutter, der Elfenkönigin, gesandt worden sind, um den Menschen ins Gewissen zu reden.

"Weshalb nehmt ihr uns unser Zuhause?", fragt Piri mit zittriger Stimme. Er ist der Jüngere der Beiden und  entsprechend schüchterner. "W...Woher sollen wir ahnen...?!", stottert Gunnar, wachsbleich um die Nasenspitze herum. "Ahnen??", pariert Emir scharf, "die Meisten von euch glauben an uns. Dutzende Sagen und Legenden erzählen über das unsichtbare Reich neben eurer Welt. So wisst ihr sehr wohl, dass wir in den Felsen leben. Weshalb habt ihr nicht vor Beginn der Bauarbeiten versucht, mit uns Kontakt aufzunehmen und alles zu besprechen? Dann hätten wir dies gütlich geregelt!"

Inzwischen haben Gunnars Leute ihre Sprache wiedergefunden: "Ihr macht es euch sehr einfach! Schließlich ist dies unsere Welt, unsere Stadt. Wir sind auf diese Straße als Verbindung zur nächsten Ortschaft dringlichst angewiesen. Über die spärlichen Verkehrswege in dieser Gegend seid ihr ja garantiert bestens informiert!"

"Also...", übergeht Emir diesen Einwurf, "unsere Königin lässt euch bestellen: Entfernt ihr diesen Stein, rächt sie sich furchtbar an euch. Krankheit und Tod werden die Einwohner der Stadt dahinraffen. Entscheidet ihr euch aber zu unseren Gunsten, werden wir auf ewig eure Freunde sein und helfen, wann immer Beistand angesagt ist!"

" Hier ist soo viel Platz!", meint Piri und schlägt vor: "Verlegt die Straße um ein paar Meter. Dann habt ihr euren Fahrweg und wir können trotzdem wohnen bleiben." "Genau!", ergänzt Emir mit Nachdruck, "Denkt gut drüber nach. Ist unsere Mutter wütend, ist mit ihr nicht zu spaßen!" "Dabei wär` es doch so schön, ohne Streit und Krieg zu leben!“, setzt Piri hinzu. Sein Freund hat ihm ja soeben beigepflichtet. Deshalb wird er schon etwas mutiger.

Erzürnt will Gunnar seiner Empörung Luft machen. Aber die Zauberwesen lassen ihm keine Gelegenheit dazu, setzen stattdessen noch eins drauf: "Morgen kommen wir wieder. Bis dann müsst ihr euch entscheiden!" Während sie noch reden, senkt sich lichter Nebel auf sie nieder und umhüllt die zarten Körper, die sich schnell gänzlich in ihm verlieren. Die Elfen sind verschwunden und nichts erinnert mehr an die Besucher aus jenem sagenhaften Zauberreich.


Verwirrt blickt Gunnar in die neuerliche Finsternis,betrachtet nachdenklich den Stein, der soeben noch die Bühne für ein kleines Wunder gewesen ist. Die Verstand des Mannes wehrt sich, möchte alles als Einbildung abtun. Doch Gunnars Herz weiss um die Wahrheit. Sein Gefühl zwingt ihn, endlich als wirklich zu akzeptieren, was die Menschen nur allzu gerne ableugneten. Befürchten sie, vielleicht doch nicht alleinige Herrscher auf Erden zu sein? Gibt es da etwa Wesen, die noch weiser und mächtiger sind als wir Erdenbürger?

In Gunnar Erwägungen kreist unablässig alles um das eben Erlebte. Wie in Trance macht er sich auf den Heimweg, so tief in seine Gedanken verstrickt, dass die vielen Fragen der Umstehenden einfach an ihm abprallen. Erschüttert forschen jene nach Antworten. Sie möchten ihre Verunsicherung endlich abschütteln und in die Realität zurückfinden können.

Gunnar eilt mit raschen Schritten nach Hause. Er möchte allein sein, allein mit seiner inneren Zerrissenheit. Es kommt, wie es kommen muss: In dieser Nacht wälzt er sich von wirbelnden Gedankenstürmen geplagt schlaflos auf seinem Lager hin und her. "Woher nur nehmen sich diese Fremden bloss das Recht, uns zu bedrängen und sogar noch Forderungen zu stellen?" Auf diese Frage findet er keine Antwort. Sie bleibt im Nebel des Unerklärlichen wie auch das Ganze überhaupt. Bevor er nach Stunden endlich erschöpft einschläft, murmelt er: "Sind wir im Recht oder sie? Haben wir mehr Anspruch auf alles als diese Elfen??"

Gottlob ist die Nachtruhe heilsam für sein aufgewühltes Gemüt. Am nächsten Morgen hat er Klarheit: "Wir Menschen dürfen uns nicht über Andere erhaben fühlen, nur weil sie für uns fremd und undurchschaubar sind!" Froh ob dieser Erkenntnis macht er sich auf zu dem Treffen vor dem Stein, der in seinem Denken zu einem Fels der Weisheit geworden ist.

Aufgeregt wartet er auf die beiden Elfen. Wieder verdunkelt sich der Himmel, nochmals schimmert jenes fahle Licht. Ein zweites Mal erscheinen Piri und Emir und hocken sich in erwartungsvoller Haltung oben auf den Stein. Eine fast feierliche Spannung liegt in der Luft, die nicht mehr an der Wichtigkeit dieser Verabredung zweifeln lässt.

Gunnar weiss um die Bedeutung der Stunde. Er strafft die Schultern und schaut seine Gegenüber fest an: "Ich habe über alles nachgedacht!" Er registriert ein Aufblinken in Emirs Augen. Ist der Elf etwa fähig, noch unausgesprochene Worte zu erahnen? Auch Piri guckt viel fröhlicher als am Tage zuvor. Einen Moment lang wollen die alten Zweifel ihn einfangen, ihn niederdrücken. Aber sie haben keine Chance. Gunnars fester Vorsatz, sich der schweren Verantwortung zu stellen, ist sein Schutzschild.

"Ich hoffe, du hast einen weisen Entschluss gefasst!?", drängt Emir auf die alles entscheidende Erklärung. "Ich werde mit eurer Königin verhandeln!" Kaum hat er geendet, verhüllt die Drei nicht länger dieses fahles Licht, sondern der ganze Himmel steht in gleißenden Flammen unirdischer Helligkeit. Die Gesichter der Elfen leuchten vor Glück wie kleine Sonnen, deren Strahlen Gunnars Herz erwärmen. Er geniesst selig die Freude des Augenblicks.

Piri und Emir schweben zu ihm herab, stellen sich ihm dicht zur Seite. "Wir haben so sehr darauf gehofft!" Ihre Stimmen beben vor Rührung. Die Elfen fassen seine Hände und halten sie fest. "Hab` Vertrauen. Schließ deine Augen!", fordern sie ihn auf. "Nicht wahr, du vertraust uns doch...?", wiederholt Piri. Dabei guckt er Gunnar flehend an. "Ja, das tue ich!" Ohne jegliches Zaudern hat Gunnar geantwortet. Zuneigung zu diesen beiden Wesen hat ihn erfasst, die er doch gar nicht kennt und die ihm doch schon so sehr nahe stehen.

Neugierig wartet Gunnar ab, was nun geschehen wird. Doch Fragen stellt er keine. Das frisch gespannte Halteseil des Vertrauens zwischen ihm und diesen beiden Geistwesen wischt jegliche Bedenken hinweg. Ein intensiver Wärmestrom fließt von Hand zu Hand. Er zeigt die wachsende Zuneigung der Drei zueinander. Nur dieses starke Gefühl macht all das Nachfolgende erst möglich.

„Es wird allerhöchste Zeit!“, drängelt Emir. „Piri, wir müssen uns beeilen. Kehren wir nicht rechtzeitig heim, wird Mutter sauer und wir dürfen garantiert nicht am Elfendinner teilnehmen!“ „Wie, waas? Elfendinner...??“, stottert Gunnar verdattert. „Ach...," seufzt Piri. „So etwas Schönes kennt ihr in eurer Welt natürlich nicht!“ In seiner Stimme schwingt Mitleid. „Auf prächtig gedeckter Tafel werden die köstlichsten Leckereien aufgetischt. Erlesener Blütennektar, feine Beerensäfte, Milch und Honigtorte!“ „Nicht nur ihr wisst, was gut schmeckt!“, lacht Emir. „Aber nun los!“

Die Elfen schauen zum Himmel. Ihr Blick verliert sich in der schier unendlosen Weite. Emir flüstert: „Mutter, unsere Königin, wir bringen dir eine große Freude!“ Sie tun ein paar graziöse Schritte, beginnen zu schweben, Gunnar in ihrer Mitte. Er fühlt sich leicht und immer leichter...

Von all dem ahnen die Menschen auf der Erde nichts. Sie sehen nur den plötzlichen Nebel, der den Stein dort an der Straße verhüllt. Das ist alles. Merkwürdig: Haben sie nicht vor ein paar Sekunden noch einen Mann da so nachdenklichen Gesichtes stehen sehen? Wo ist er nur geblieben?

Es hat nur wenige Sekunden gebraucht, Gunnar seiner Welt zu entrücken. Einem sehr hektischen Leben, einer Welt voller Konflikte. „Du darfst deine Augen jetzt öffnen!“, erlaubt ihm da Emir. Nur zu gerne gehorcht Gunnar dieser Aufforderung und blinzelt ins Helle. Kein einziges menschliches Wesen vor ihm hat jemals den Traumhimmel des Elfenreiches bewundern dürfen. Schwebend durchtanzen die Drei zart rosa Wolken, deren Ränder von Sonnenstrahlen rotgülden gefärbt werden. Unsere Reisenden sind ganz allein in diesem Wunder der Natur. Stille liegt über allem.

Viel zu schnell geht es, viel zu rasch sind sie am Ziel. Gunnar erkennt unter sich die Berge. Ein Felsenmassiv erstreckt sich bis hin zum Horizont. „Eigenartig!“, entfährt es ihm. „Was denn?“ fragt Piri zurück. Jetzt ist es an dem Elfen, erstaunt zu sein. „Die Berge sehen aus wie unsere“, stellt Gunnar fest. „Es sind eure Berge!“, bekräftigt Emir. „Es ist, wie die Sagen es erzählen: Diese Felsen sind unsere Heimat.“

Sie landen auf einem schmalen Weg direkt unter dem Grat eines riesigen Felsens. Kein Baum, kein Strauch, nur nackte Erde. „Angekommen!“, bemerkt Piri erleichtert. Hier aber sind sie nicht mehr allein. Vor ihnen kauert ein winziges Wesen. Sein Körperchen sieht aus wie eine Baumwurzel, sein Gesichtchen wie das eine Hutzelweibleins. „Na, gottlob seid ihr pünktlich. Wir warten schon auf euch!“

Regelrecht ein bisschen vorwurfsvoll klingt das. Dann bemerkt der Winzling Gunnar. „Hiillfe! D...das ist doch ein Mensch. Was sucht der denn hier??“ „Keine Angst, Wurzel! Er möchte mit der Königin verhandeln, damit es zwischen unseren Völkern endlich Frieden gibt.“ „Seid ihr euch da auch ganz sicher?“, bibbert Wurzel vor sich hin. Seine knorpelligen Beinchen zittern wie Espenlaub.

„Er ist eines unserer Wurzelmännchen. Ein ganz lieber Kerl, der etwas weiter unten an der Waldgrenze wohnt und die Bäume mit Nahrung versorgt", stellt Emir ihn vor. "Jeden Abend kommt er ins Schloss. Das Elfendinner lässt er sich nicht entgehen. Da fallen immer ein paar Leckereien für ihn ab." Wurzel mustert Gunnar prüfend. Gunnar erwidert den Blick. Beide kommen zu dem Ergebnis, man könne es ja ´mal miteinander versuchen.

Das Wurzelmännchen gräbt sich langsam Stückchen für Stückchen näher an den Felsen heran. Nach ein paar Metern stoppt es vor einem riesigen Tor. Emir berührt dieses mit der Hand. Lautlos gleiten die Torhälften auseinander und geben den Blick frei auf einen langen engen Gang, der steil nach unten führt. Dicht hintereinander betreten die Vier diesen Tunnel, Wurzel als Letzter. Laternen brauchen sie nicht. Die Elfenkörper leuchten auf einmal wie Sterne, so dass die bedrohliche Dunkelheit verdrängt ist. Tiefer und tiefer geht es hinab. Gunnar erscheint es wie eine Ewigkeit, bis sie endlich vor einem zweiten Tore Halt machen. Es ist von leuchtendem Rosenrot, der Farbe der Liebe und bildet Eingang zum Elfenschloss.

Gunnar ist aufgeregt. Hinter dieser Türe wird sich ihm eine andere Welt auftun. Eine bessere? Oder sind die vielen Sagen und Legenden um die Elfen eher Rosen gleich, die den menschlichen Seelen zuliebe ihre Dornen verstecken, um ihnen Rückhalt und Stärkung in der bisweilen harten Wirklichkeit zu sein? Ja, er ist zutiefst betroffen, wenn sich alles als schmeichlerische Lüge herausstellt. Gunnar erwartet eben etwas überirdisch Schönes, wie es sich seiner Meinung nach für ein richtiges Zauberreich geziemt.

Ein zweites Mal auf dieser Reise nehmen Piri und Emir ihn in die Mitte: „Niemand aus dem Menschenreich durfte bisher eintreten in dieses Heiligtum, den Palast unserer Königin. Erweise Dich als dieser Ehre würdig!“ Der kleine Wurzel hat sich während der kurzen feierlichen Ansprache des Elfen langsam bis zum Tor vorgearbeitet. Zu Gunnars Füßen verschnauft er. Es ist eben sehr anstrengend, sich auf solch knorrigen Beinen fortzubewegen.

Gunnar sieht dem kleinen Kerl an, wie sehr ihn des Elfen Worte berühren. Wurzel versucht, sich so gerade aufzurichten, wie es eben geht, um diese Stunde zu ehren. Aber er ist nun einmal nur ein Wurzelmännchen und die haben eben schnörkelig gekrümmte Beine. Deshalb sind seine Bemühungen auch von keinem allzu großen Erfolg gekrönt. Verlegen legt er den Kopf in den Nacken und grinst Gunnar ganz besonders charmant an - sozusagen zum Ausgleich. Gunnar versteht und lächelt herzlich zurück. Unsympathisch sind sie sich schon längst nicht mehr.

„Wurzel, wir sind bereit!“ Piri stupst das kleine Wesen sanft an. Wurzel versteht sofort, wendet sich zum Eingang und klopft mit einem seiner Ärmchen kräftig gegen das Tor. Es dauert nur einen kurzen Moment. Die Türe öffnet sich. Gunnar traut seinen Augen nicht. All seine wundervollen Elfenwelt-Träume ziehen nochmals blitzschnell an ihm vorbei. Er ist freundlichen Märchenwesen begegnet und durch Bilderbuchlandschaften voller atemberaubender Farben spaziert. Doch nichts davon ist hiermit vergleichbar. Dies ist tausendmal prachtvoller als alles, was er sich je vorgestellt hat.

Hinter dieser Tür verbirgt sich ein Felsensaal, mindestens vier Meter hoch. Sein Deckengewölbe ist reich mit Gemälden verziert, auf denen Wälder und Meere im glühenden Morgen- oder auch Abendrot baden. Gunnars bewundernder Blick wandert zur höchsten Stelle der Decke und bleibt fasziniert haften. Dort ist eine riesige Glaskuppel eingelassen, durch die das Tageslicht den ganzen Raum in sanftes Licht taucht. „Demnach befinden wir uns direkt unter einem Felsplateau!“, folgert Gunnar.

An den Längsseiten des Saales reihen sich großzügige Sitznischen aneinander, in denen zierliche Sofas mit golden verschnörkelten Lehnen und purpurroten Polstern zum Ausruhen einladen. Davor stehen niedrige Tischchen, geschmückt mit kleinen Leuchtern mit roten Kerzen. Neben den Sofas strecken sich dichte Efeubäume und hoch gewachsene Palmen in romantischen Kübeln dem Licht entgegen. Die Form ihrer Wedel erinnert an die Elfenflügel. Diese hier allerdings sind sehr viel mächtigere Flügel und so lang, dass sie in sanftem Bogen als grüne Schilder die Sitzenden beschützen. Was wäre auch ein Elfenpalast ohne lebendiges Grün? Schließlich sind Elfen Naturgeister und alle Pflanzen ihre Freunde.

Mitten im Saale steht ein wunderschöner Tisch. Auf ihm entdeckt Gunnar die herrlichsten Speisen und Getränke. Es ist genau so, wie es die Elfen beschrieben haben. Dekoriert ist die Tafel mit Lilienblüten in allen Regenbogenfarben. Jede Schüssel und jeder Teller ist mit einer solchen Blüte geschmückt. Zwei grazile Kerzenleuchter runden das charmante Bild ab. Gunnar kann sich nicht satt sehen an allem. Sein Blick wandert betört wieder und wieder aufs neue durch den Raum.

Da fällt ihm ein kleines Podest am gegenüberliegenden Ende des Saales ins Auge. „Der Thron unserer Königin!“, eröffnet ihm Emir voller Stolz. Anders als die Sitzgelegenheiten des Elfenvolkes ist jener ganz von Orchideen und Rosen umrankt, die mit ihrem edlen Äußeren als einzig würdiger Rahmen den Sitz ihrer Gebieterin umschmeicheln.

„Du hast vorhin so gedrängelt und jetzt sind wir die Ersten!“, stellt Gunnar ein wenig mürrisch fest. „Mein Volk wird jede Sekunde eintreffen. Es ist die Stunde der innigen Gemeinschaft. Das lässt sich kein Elf entgehen“, besänftigt Emir ihn. „Wo bleiben sie denn nur, ob sie sich bei den Bienchen vertrödelt haben?“ Piri tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und zurück. Er hat offensichtlich gehörigen Kohldampf. Begehrlich schielt er zum Tisch. Ob er vielleicht...? „Wehe!“, errät Emir die Gedanken seines kleinen Freundes. „Es wird erst gegessen, wenn alle da sind!“ Beschämt senkt Piri den Kopf zu Boden. Sogar Elfenkinder bekommen da rote Wangen.

Bald soll er seinen Hunger stillen können. Plötzlich öffnen sich in den Längswänden des Saales ganz viele Türen, die vorher selbst Gunnars ach so neugierigen Blicken verborgen geblieben sind. Große, kleine und noch kleinere Mädchen trippeln fröhlich herein. Sie tragen weich fallende, leicht ausgestellte Gewänder in hellen Pastelltönen. Passend dazu haben sie sich die Ränder ihrer hauchzarten Flügelchen geschminkt. Auf dem gelbgelockten Haar sitzen hübsche Hütchen mit breiter Krempe. Damit sehen sie aus wie kleine Damen. Die Kinder legen die Arme umeinander und trippeln mit grazilen Schritten von Sofa zu Sofa, bis jedes von ihnen seinen Platz gefunden hat. Sie lassen sich auf das weiche Polster sinken, zupfen ihr Kleid sorgfältig zurecht und falten die kleinen Hände im Schoss zusammen. Die Gesichter zum Thron gewandt, warten sie guterzogen so auf ihre Königin.

Sie müssen sich noch ein wenig gedulden. Denn noch fehlen die Elfenbuben. Die nehmen es, ähnlich wie die Menschenjungen, manchmal mit der Pünktlichkeit nicht so genau. So oft schon hat die Königin deswegen mit ihnen gehadert und ihnen zur Strafe kein Stück von der Honigtorte erlaubt. Ganz bedröppelt haben die Schlingel jedesmal ihre Flügel gesenkt und Besserung gelobt. Aber immer wieder geht der Übermut mit ihnen durch.

Heute ist es gottlob anders. Nur eine knappe Minute verspäten sie sich. „Ihr seid ja richtig früh dran!“, neckt sie ein Elfenmädchen. „Ein Bienchen hätte fast nicht mehr nachhause gefunden. Dem mussten wir doch helfen. Es war wohl zum aller ersten Male ausgeflogen!“, rechtfertigt sich ein kleiner Elf.

Damit man sie an ihrem Äußeren unterscheiden kann, tragen die Elfenjungen anstatt Kleider weiße Kittel über lindgrünen oder hellblauen Kniebundhosen. Doch junge Männer sind eitel. So haben auch ihre Flügel farbige Ränder. Die Buben stürmen, nicht ganz so anmutig wie die Mädchen, zu ihren Plätzen, streichen die Kittel hastig glatt, weil sie hoffen, auf ihre Königin einen guten Eindruck zu machen und so ein feines Lob einzuheimsen.

Plötzlich entdeckt einer von ihnen Gunnar, der zusammen mit Piri und Emir amüsiert das Treiben der Kinder beobachtet. Prompt ist dessen gute Erziehung vergessen. Obwohl das da dem Elfennachwuchs streng untersagt ist, steht der Bub auf und nähert sich zögernd den Dreien. All seinen Mut nimmt er zusammen. Die Neugierde lässt ihm keine Ruhe: „W...Wer bist denn du? Wie kommst du hierher?“ Doch dann dämmert es ihm langsam, wen er da vor sich hat. In seinem Gesicht liest Gunnar deutliches Misstrauen: „Du...du kommst aus dem Menschenreich, stimmt`s? Unsere Königin hat uns erzählt, dass ihr manchmal so böse seid!“

Da mischt Emir sich ein: „Du musst dich nicht fürchten!“ Der Elf deutet auf Gunnar. „Er ist nicht so wie viele von denen. Er möchte, dass zwischen den Menschen und uns endlich alles gut wird.“ „Wirklich??“, strahlt das Elfenkind. „Dann find ich dich nett.“ Spricht`s und hopst fröhlich auf seinen Platz zurück. Keine Minute zu früh, denn in diesem Augenblick ertönt eine zarte Musik im Hintergrund. Es ist das Grillenorchester, das, hinter dem Thron auf der untersten Stufe des Podestes stehend, der Königin zu Ehren sein schönstes Konzert anstimmt.

Hinter den fleißigen Musikern öffnet sich lautlos eine goldene Türe. Es erscheint die Herrin dieses Reiches, die Mutter all jener süßen Elfenkinder. Sie zu sehen, versetzt Gunnars Herz in Aufruhr. Es klopft wie verrückt.

Die Elfenkönigin ist eine wunderschöne Frau. Sie hat ein schmales Gesicht mit edlen Zügen und Augen, aus denen Güte und Weisheit sprechen. Ihre schlanke Figur umspielt ein strahlendweißes Kleid. Ihre Flügel sind mit Sternen und  Monden übersät, die Sinnbilder für Stille und Frieden. Leicht wie eine Feder schreitet sie auf ihren Thron zu. Bevor sie sich setzt, richtet sie das Wort an die Elfchen. Deren Augen hängen gebannt an ihren Lippen. „Ein arbeitsreicher Tag geht zu Ende. Wie schön, dass wir alle zusammen sind. Und nun lasst es euch gut schmecken, meine Kinder!“

Emir lädt Gunnar ein, von den Leckereien zu kosten. Doch der hat ganz andere Sorgen. Wie wird die Unterredung verlaufen? Wird alles ein gutes Ende finden? Nach dem Dinner führt Emir ihn zum Thron der Königin. „Gebieterin, dieser Mensch möchte dazu beitragen, dass unser beider Völker in Freundschaft nebeneinander leben können.“ Die Königin lächelt erfreut. „In deinem Herzen lese ich, dass da noch eine wichtige Frage offen ist. Nur Mut, ich will dir antworten!“

Zunächst redet Gunnar noch etwas stockend: „Königin, ihr wart erzürnt und habt uns mit Unglück gestraft, weil wir nur an unseren eigenen Vorteil gedacht und darüber die Bedürfnisse eures Volkes vergessen haben. Ich habe lange darüber gegrübelt und den Entschluss gefasst, die Straße so um den Felsen herumzubauen, dass deine Kinder dort weiterhin wohnen können.“ „Ich bin sehr glücklich darüber, dass ein Wesen aus eurer Welt Einsicht zeigt und sich so weitere Auseinandersetzungen und Kriege erübrigen. Wir Elfen sind ein friedliebendes Volk, das Streitereien hasst; es sei denn, es geht um die Grundrechte eines jeden Lebewesens. Zu diesen Rechten zählt auch das Recht auf Heimat. – Aber, ...deine Frage hast du mir noch immer nicht gestellt!?“

Gunnar sammelt sich, wählt jedes seiner Worte mit Bedacht. Schließlich will er die Königin auf keinen Fall verärgern. „Bitte, könntet ihr mir erklären, wieso ihr euch das Recht heraus nehmt, in unserer Welt, die für euch fremd ist, Ansprüche zu erheben, uns zu bedrängen und uns zu nötigen, damit wir nach eurem Willen handeln?“

Einen Moment lang schweigt die Königin. Sie sieht Gunnar ruhig in die Augen. Dann antwortet sie: „In eurem Leben stürmt sehr viel Schönes, aber auch sehr viel Schweres auf euch ein. Eure Seele braucht Vorstellungen und Träume, um all diese Eindrücke zu ertragen, verarbeiten zu können. Oft spiegeln Träume Zufriedenheit, Freude und Glücksempfinden wieder. Genauso können sie auch in schweren Tagen Tränen trocknen. Ohne Träume würde die menschliche Seele kranken und verkümmern." Sie macht eine kurze Pause. Dann fährt sie fort: "Wir Elfen sind ein Teil eurer Traumwelten. Der Gedanke an uns entrückt euch den Problemen, gibt Halt und Freude. So sorgen auch wir für euer inneres Wohlbefinden. Weil dem so ist, sind auch wir Teil eurer Welt und haben dort in gleichem Maße Heimatrecht wie ihr.“

Während sie noch redet, wird die Stimme der Königin leiser und leiser. Gunnar ist verwirrt. Die Gestalten der Königin und all dieser zauberhaften Wesen verblassen langsam, bis sie im Tageslicht aufgehen. Da gibt es keine Gebieterin der Träume, kein Elfenvolk und auch kein Märchenschloss mehr.

Gunnar steht wie verloren da, zurück in der diesseitigen Welt. Für ein paar Sekunden ist seine Seele noch gebannt im Zauberreich. Doch dann hebt er den Blick. Er schaut um sich und findet so allmählich wieder in die Realität. Er sieht sich selbst vor diesem Stein, neben sich seine beiden Mitarbeiter, die ihn fragend anschauen. Die Männer stehen dort gesund und munter wie vordem - zwei unwissende Menschen. Ihnen brennt eine Frage auf der Zunge, aber sie wagen es nicht, ihren Chef in seinen Überlegungen zu stören.

Gunnar weiss, dass er nicht nur geträumt hat. Ihm ist etwas Wunderbares geschenkt worden. Ein kurzer Blick in seine eigene Seele, die ihm die einzig richtige Lösung ihres Problems nahe gebracht hat.

Er schaut seinen Mitarbeitern fest in die Augen und bestimmt:
„Wir bauen um den Stein herum!"

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