Dienstags bei Inge

Ansichten übers Leben und Sterben und den Rest dazwischen


Eine archivierte Kolumne von  IngeWrobel

Dienstag, 19. Mai 2009, 09:32
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Endlich berühmt?

Gestern erzählte mein Freund mir am Telefon, wie er kürzlich von wichtigen Leuten bestaunt wurde. Leider galt die Aufmerksamkeit nicht seinen literarischen Werken, die diese Beachtung meiner Meinung nach durchaus verdient hätten. Nein, es ging um ihn als medizinisches „Objekt“, als außergewöhnlichen Fall einer Krankheitsentwicklung. Bei einem Ärztekongress ließ er sich von verschiedenen medizinischen Koryphäen tief in die – übrigens sehr schönen – Augen schauen, wonach dann Äußerungen wie „erstaunlich“, „beachtlich“, „sensationell“ und ähnlich zu hören waren. (Auch Solches hätten die Gedichte meines Freundes durchaus verdient.) Er selbst nahm diese Begeisterung mit gemischten Gefühlen entgegen, da ihm nicht gesagt wurde, ob sich seine Krankheit sensationell in Richtung Exitus, oder der Genesungsprozess erstaunlich schnell entwickelt habe. Resigniert meinte er dann, wenn er schon nicht als deutscher Dichter in den Annalen der Literatur erwähnt werde, dann erlange er vielleicht posthum in der medizinischen Fachliteratur eine gewisse Berühmtheit. Ein schwacher Trost, da er dort wohl nur mit seinen Initialen genannt würde. Ich sehe aber durchaus eine Chance, seinen Nachnahmen in Verbindung mit dem Wort „-Syndrom“ lesen zu können.
Lebte mein Freund in England und wäre ein Fall für Chirurgen-Messer, könnte er möglicherweise zum TV-Star avancieren. Dort kündigte nämlich der private TV-Sender Channel 4 an, demnächst Liveübertragungen von Operationen direkt in die britischen Wohnzimmer zu flimmern. (http://www.channel4.com) Ab 25. Mai können Jane & John Doe in der Sendung „The Operation: Surgery Live“ zum Beispiel einer Herztransplantation beiwohnen – gemütlich vom Fernsehsessel aus. Ist das nicht fabelhaft?
Aber damit nicht genug: Das Operationsteam wird während der OP Fragen der Zuschauer, die per Mail, Twitter oder Telefon dort eintreffen, beantworten, und Erklärungen über jeden Handgriff – selbstverständlich in für Laien verständlicher Sprache – abgeben.
Der „Guardian“ zitiert den zuständigen Channel 4-Redakteur David Glover: „Nun hat auch das TV-Publikum zum ersten Mal die Gelegenheit, mit den Chirurgen zu interagieren, während diese lebensverändernde Prozeduren durchführen.“
Ja! das ist es doch, was wir Zuschauer schon lange wollen: Interagitation bei der OP am offenen Herzen, die lebensverändernd (er sagte nicht „lebensverlängernd“) für den anonymen Patienten verläuft. Ist das nicht sensationell, was uns da geboten wird?
Und weiter mit David Glover: „Durch die Live-Übertragung erhielte man einen ‚beispiellosen Einblick’ in die Herausforderungen, denen die Chirurgenteams Großbritanniens täglich gegenüberstünden, und der Zuschauer könne sich selbst ein Bild über deren Fähigkeiten machen, die zur Bewältigung dieser Aufgaben notwendig seien.“ Einfach toll, was diese Inselbewohner so auf dem Kasten haben!
Trotzdem (oder deswegen) werde ich meinem Freund empfehlen, Deutschland in der nächsten Zeit nicht in Richtung Engelland zu verlassen. Er ist mir lebend als unbeachteter Dichter mit seinen Gebrechen lieber, denn als TV-Engel in britischer Medizin-Fachliteratur.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (19.05.09)
Sorry Inge, der Ton Deiner Kolumne ist mir zu moralisch. Ich hätte nichts gegen Operationsübertragungen; warum auch? Die Operierenden scheinen zudem anonymsiert zu sein. Selbst angucken, wer weiß, weniger des visuellen wegen, dann eher wegen der Fragen, die da kommen mögen und früher oder später würde man einen der Dialoge sicher in Niggemeiers Kolumne lesen können...
Und von "interagieren" auf "Interagitation" anstatt auf "Interaktion" zu kommen - naja, ich habe geschmunzelt, aber es ist doch eher polemisch als lustig.
Schade eigentlich, der Einstieg mit dem Augenburschen hat mir gut gefallen, aber da bist Du ja dann leider, leider abgeschweift!

 IngeWrobel (19.05.09)
Hallo Dieter, als "moralisch" sehe ich meinen Text nicht, "polemisch" mit Sicherheit. Das soll so sein. Ich selbst würde mich nie unters Messer eines während der OP dozierenden Arztes legen: Was kümmert mich die medizinische Aufklärung Dritter? Der Mann soll sich auf den Patienten, also mich, konzentrieren, und nicht an seinem Image basteln.
Die "Agitation" ist für mich gewissermaßen die Steigerung der "Aktion" - Du verstehst? Der Einstieg sollte nur Einstieg sein, denn die Hauptstory ist für mich das Geschehen in GB.
Danke für den ehrlichen Komm!
wortverdreher (36)
(19.05.09)
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wupperzeit (58)
(19.05.09)
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 IngeWrobel (19.05.09)
Hallo Detlef, Dein erster Kommentar sagt genau, was ich auch dachte: Bei Exitus die Gratis-DVD für die Angehörigen. Besser und kürzer hätt ichs nicht sagen können. Ich danke Dir für den Komm!
LG, Inge
@ wortverdreher: Du denkst zu "kurz". Wer legt sich denn freiwillig just for fun unters Messer? Da ja bevorzugt spekulative OPs gezeigt werden - wen kümmert schon ein Appendix? - sind die Patienten sicher zu allem bereit, was ihnen ein Überleben verspricht. Das hat mit "freiwillig" nichts zu tun.
@ wupperzeit: Ich danke Dir, lieber AndreasH., für Deine solidarische Erregung!
Kommt gut durch die Nacht!
Inge
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