Dienstags bei Inge

Ansichten übers Leben und Sterben und den Rest dazwischen


Eine archivierte Kolumne von  IngeWrobel

Montag, 11. Januar 2010, 23:30
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Kevin – Allein zu Haus

Wenn ich mich an Filme erinnere, die ich vor längerer Zeit sah, gibt es meistens eine Schlüsselszene. Wie auf Knopfdruck taucht bei Nennung des Titels diese eine bestimmte Szene vor meinem geistigen Auge auf.
Bei dem Film „Kevin – Allein zu Haus“, der kürzlich im Fernsehprogramm wiederholt wurde, ist es diese Flugzeugszene: Kevins Mutter, mit ihrer gesamten Bagage auf dem Flug von Amerika nach Paris, grübelt darüber nach, was zu tun oder mitzunehmen sie vergessen hat. Sie zählt einige Dinge auf, die infrage kämen – dann aber gleich wieder verworfen werden. Doch, Kevins Vater vergaß, die Garage zu schließen ... nicht so schlimm! Aber dann fällt der Mutter ein, ihren Filius vergessen zu haben: „Kevin!“ schreit sie mit weit aufgerissenen Augen.
Was dann folgt, ist ein Klamauk, den ich mir nicht ein drittes oder viertes Mal antun wollte. Vandalismus und Gewalt sehe ich mir nicht gerne an – auch nicht von einem engelsgleichen Blondschopf, der ein für sein Alter erstaunliches Schauspieltalent zeigt. Nach dieser Schlüsselszene schaltete ich deshalb den Fernsehapparat aus.
Mir war nur wichtig, zu sehen, wie es zu dieser Situation im Flugzeug kommen konnte, denn das hatte ich über die Jahre vergessen.
(Das ist eine Macke von mir: ich will immer wissen, wie es „dazu“ – wozu auch immer – kam.)
Beim Anschauen des Filmanfangs fand ich interessant, wie Kevin reagiert, als er erkennt, dass man ihn vergessen hat. Er ist überglücklich und macht Dinge, die er sonst nicht tun dürfte: Hüpft mit Schuhen auf dem Bett herum, als sei es ein Trampolin; isst Unmengen von Eis; und im Bad versucht er, mittels Daddys Utensilien, sich den nicht vorhandenen Bart zu rasieren.
Kevin „genießt“ das Alleinsein – Angst hat er nicht. Wenn man den Film bis zu dieser Stelle angesehen hat, erscheint das durchaus plausibel und nicht ungewöhnlich. Jetzt kann er „die Sau rauslassen“ und alles machen, wofür er sonst bestraft würde.
Kevin ist ein Kind, das sich geliebt weiß – trotz der ständigen Streiche der Geschwister und der Erziehungsmaßnahmen der Eltern.

Kinder, die sich der Liebe ihrer Eltern nicht sicher sind, reagieren anders, wenn sie „vergessen“, alleingelassen wurden:

Da gab es den Fall des kleinen Jungen, der mit seinen Eltern per Auto unterwegs war. Man hatte zwischendurch angehalten und eine Pause gemacht. Als die Eltern, ins Gespräch vertieft, weiterfuhren, dachten sie nicht an ihren Sohn. Dieser lief laut weinend hinter dem Wagen her und rief: „Nehmt mich doch mit! Nehmt mich doch mit!“ Nun ja, nach kurzer Zeit bemerkten die Eltern das Fehlen des Kindes, fuhren zurück und luden es ein. Was aber, frage ich mich, muss dieses Kind in den bangen Minuten durchlitten haben, als es dem wegfahrenden Auto hinterherlief?

Und dann gab es noch den Fall des Mädchens, das von seinen Eltern mitten in einem finsteren Nadelwald im Auto zurückgelassen wurde. Dieses Kind hatte Angst. Es rechnete damit, dort ausgesetzt worden zu sein, weil es zuhause störte, sich überflüssig, ja ungeliebt fühlte. Gab es da nicht entsprechende Vorgänge in Märchen?
Und was tat dieses Mädchen? Es kramte aus dem Handschuhfach Papier und einen Bleistift hervor, und schrieb sein erstes Gedicht. Das Gedicht hieß „Waldfrieden“, hatte drei Strophen und fast perfekte Reime, und wurde zwei Wochen später in der Tageszeitung abgedruckt. Es gab ein Honorar von 5 DM.
Dieses Kind hatte seinen „Rettungsanker“ für alle noch folgenden Lebensstürme entdeckt: das Schreiben.
Von durchlebter Angst, von seelischen Verletzungen und dergleichen, war in den meisten der vielen folgenden Gedichte nichts zu erkennen. In wohlgesetzten Worten wurde überwiegend Schönes gesagt, das der Phantasie entsprang. Wie’s da drinnen aussah, ging niemand was an! Nur manchmal konnten aufmerksame Leser etwas aufblitzen sehen, ahnen, was in der Tiefe lag und schwelte, wie ein nicht löschbarer Brand.
Als Autorin verwendete sie eine Zeitlang die Signatur: „Kunst ist immer ein Schrei; aus dem Untergrund der Gesellschaft – oder aus der Tiefe der Seele.“
Sie , meine Leser, wissen bestimmt längst den Namen des Mädchens ...

Inge Wrobel

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 AndreasG (12.01.10)
Ein interessantes Thema, auch wenn ich bei "Kevin - allein zu Haus" seit einem schlechten Gag immer an Kevin Sorbo denken muss, der in seinen Vorzeigerollen "Kevin - allein im antiken Griechenland" und "Kevin - allein im Weltraum" einen ganz anderen Eindruck zum Thema hinterließ. Aber zurück zur Kolumne.
Ich erinnere mich an einen kleinen Jungen, der fasziniert vor einem Fischangelstand einer Kirmes stand (so einer mit Magneten an Plastikfischen). Seine Eltern wollten ausprobieren, wie denn der Knirps darauf reagieren würde, wenn sie nicht mehr da wären. Darum versteckten sie sich und beobachteten den Kleinen.
Die Reaktion war verblüffend - besonders für die Eltern: Der kleine Junge schaute sich um, suchte den Stand ab, lief zwischen den Kirmesbesuchern hin und her - und nahm dann die Beine in die Hand, um in Windeseile zu verschwinden.
Nun war es an den Eltern zu suchen. Sie streiften über den Kirmesplatz, fragten herum, riefen und schrien ... doch der Knirps blieb verschwunden. Zuletzt hatte der Vater die Idee zum Auto zu gehen, was die Mutter für völlig blödsinnig hielt, weil der Wagen auf einem ungewohnten Parkplatz und weit entfernt stand. Außerdem war es ein grauer VW-Käfer - was damals auf etwa ein Drittel der Automobile zutraf - und die Mutter hatte nur eine vage Erinnerung daran, wo der Wagen stand. Wie sollte ein kleiner Junge diese Aufgabe bewältigen?
Die Eltern suchten also weiter und riefen von einer Telefonzelle (Handys gab es noch nicht) die Nachbarn und Verwandten an. Vielleicht hatte der Bengel ja den Weg zum Onkel gefunden oder war von der Polizei aufgegriffen worden ...
Zuletzt gingen sie zum Auto zurück, um nach Hause zu fahren und dort am Telefon auszuharren. - Und was war? Der blöde Knirps hockte auf dem linken Trittbrett des VW-Käfers und klammerte sich am Türgriff fest.
Leider kann ich nicht behaupten, dass der Junge sich dabei Gedichte oder Kurzgeschichten ausgedacht hätte ... schade auch. Aber vielleicht sagt es auch etwas aus, dass er die ganze Nacht an der Türklinge gehangen hätte, doch keine zehn Minuten, wenn es von ihm verlangt worden wäre. Die Menschen reagieren halt sehr unterschiedlich auf Stresssituationen.

Inspirierende Kolumne. Hatte ich das schon gesagt?

Liebe Grüße, Andreas

 IngeWrobel (12.01.10)
Solche Erinnerungswege in die Kindheit ersparen uns mindestens zehn Therapiesitzungen. *lächel*
Danke! für Deinen Beitrag, lieber AndreasG. (Das Auto im Wald war auch ein "Käfer" - was sonst. : )))

 Dieter_Rotmund (12.01.10)
Wieso denn "finsterer Nadelwald"? Ist ein Wald mit Nadelbäumen per se dunkler als andere Wälder? Hängt das nicht vielmehr von anderen Faktoren ab (Abstand der Stämme, Wetter und natürlich die Tageszeit)? Oder ist ein Nadelwald bedrohlicher als ein Buchenwald (nein, das ist jetzt kein beabsichtigter Wortwitz)?

Was ich damit eigentlich sagen will: Vorsicht, wenn man von woanders her Formulierungen übernimmt, der urspüngliche Schreiber kann vielleicht damit was intendiert haben wollen...

 IngeWrobel (12.01.10)
@ Dieter_Rotmund: Ja selbstverständlich ist ein Nadelwald dunkler als ein Misch- oder gar Laubwald!
Und: Wenn ich Fremdformulierungen übernehme, setzte ich sie in Anführungszeichen und oder Kursivschrift.
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