andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 11. November 2009, 22:20
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einmalig

Vor einigen Tagen wurde ich Zeuge eines Gesprächs über die Einmaligkeit des Seins. Aufhänger war das Thema “Doppelgänger“ und die These, dass die Wahrscheinlichkeit hoch sei, dass jeder Mensch körperliche Spiegelbilder hätte.
Es begann sehr harmonisch. Positionen wurden formuliert, die ganz klar sagten: „Ich bin ein Individuum, mich gibt es nur ein Mal“. Danach wurde auf die klaren Unterschiede hingewiesen, die sich bei den Doppelgängern zeigen, die in den Medien immer wieder für Prominente gefunden werden. Nur ganz selten ist mehr als eine Ähnlichkeit zu erkennen und eine Verwechslungsgefahr gibt es praktisch nie.
Alles schien auf einen klaren Ausgang hinzuweisen, bis plötzlich der Begriff “eineiige Zwillinge“ ins Spiel kam. Unzweifelhaft war, dass es sich hier um klar abgegrenzte Individuen handelt, doch genauso klar war, dass die Verwechslungsgefahr ziemlich groß sein kann.
Obwohl zuvor sehr deutlich darauf hingewiesen worden war, dass der körperliche Aspekt im Grunde keine Rolle spielte, da die Unterschiede zwischen den Menschen im Inneren zu finden seien, kam nun doch etwas Nervosität auf. Bis dahin konnte der Körper, die Physis, leicht abgetan werden, weil sie doch noch immer als bestärkendes Moment in der Hinterhand gewirkt hatte; als sichtbarer Beweis sozusagen. Nun aber musste sich jeder auf das Innere des Menschen konzentrieren.
Die Probleme wuchsen. Als Rettungsversuch wurden Gesten, Mimik, Stimme (auch das Lachen) und Verhaltensweisen angeführt, doch letztlich wollte niemand seine Individualität auf solche Unterschiede gestützt sehen. Andererseits war jedem sofort klar, dass etwa Intelligenz, Bildung oder Ausstrahlung auch nicht in Frage kommen. Gleichbedeutend wäre dann, dass jemand mit wenig Intelligenz auch wenig Einmaligkeit hätte, was dem Grundgedanken zuwider liefe. Denn: irgendwo müsste eine Grenze sein, ab der ein Mensch nicht mehr einmalig ist und somit mehrfach herumläuft.
Individuelle Erfahrungen, eigene Entwicklungen und Hobbys kamen als Argument auf den Tisch, verschwanden aber sofort wieder. Keiner der Anwesenden wollte sich selber als Produkt von zufälligen Ereignissen, Zeit und Alterung sehen, denn das hätte bedeutet, nur für den Moment der gleiche Mensch, das gleiche Individuum, zu sein.

Das Kartenhaus brach zusammen. Diffuse Begrifflichkeiten wurden ausprobiert, von einem “einmaligen Kern“ gesprochen, die Seele ins Spiel gebracht und der Versuch gestartet, ein Ganzes zu formulieren, das von allen körperlichen, zeitlichen, zufälligen und geistigen Teilen bestimmt wird und trotzdem durchgehend einmalig bleibt. Ein statisches Konstrukt, in dem fast alle beteiligten Bereiche fließend sind ... ein starres Gerüst aus Wackelpudding.

Peinliche Stille trat ein. Blicke wurden ausgetauscht, die in Ratlosigkeit schwammen, wie Treibhölzer auf dem Meer. Sekundenlang schwebte ein existenzielles Fragezeichen im Raum, ließ ein seltsames Verständnis für den aktuellen Fußballerselbstmord durchblitzen und verpuffte dann.
„Ich muss los. Habe viel zu tun,“ brach einer der Gesprächsteilnehmer kurzerhand ab, sagte aber sonst nichts mehr, sondern hob nur die Hand zum Abschied.
Die Zurückgebliebenen verabschiedeten sich mit einem Kopfnicken voneinander und gingen auch auseinander. Zurück blieb das Ausgangsthema.



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Dieter_Rotmund (16.11.09)
Mir auch.

Deutlich wird das hohe Ansehen von Individualität in unserer Gesellschaft. Selbst Bank-Sachbearbeiter mit Ehefrau, Kind, Hund und Häuschen in der Neubausiedlung wollen als individuell einzigartig gelten.
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