andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 09. Dezember 2009, 22:47
(bisher 990x aufgerufen)

von Sinnen

Manch einer denkt ja, dass ein sechster Sinn nötig sei, um vernünftig durch das Leben zu kommen. – Wobei … das ist schon etwas ungeschickt formuliert, denn mit Vernunft hat dieser sechste Sinn nichts zu tun. Mehr noch, er gilt in manchen Kreisen als zutiefst unvernünftig.
Leider haben aber alle Sinne wenig mit der Vernunft zu tun. Sie dienen der Wahrnehmung, lösen instinktive oder automatische Reaktionen aus, ermöglichen die Orientierung in der Umgebung und das Einschätzen der Umwelt, schützen uns vor Gefahren und helfen uns dabei, dass wir das Leben als Leben empfinden können. Aus dieser Warte betrachtet ist die These eines “sechsten Sinnes“ eigentlich wieder sehr vernünftig.

Die Experten streiten sich noch immer, wofür die ersten Sinne erfunden wurden. War es das Finden von Sexualpartnern, das im Vordergrund stand, oder das Finden von Nahrung? Da beide Punkte zu den Hauptkriterien des Lebens (und der Evolution) gehören, ist es schwer zwischen ihnen zu entscheiden.
Leider ist es nicht einfacher, sich nur auf die Sinne selber zu konzentrieren. Vor dem sechsten Sinn kommen in der Aufzählung: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, - weil die Menschen früher davon ausgingen, dass es nur diese fünf Sinne gäbe. Die Reihenfolge spiegelt auch gleich die Wertung wider, die die damaligen Experten den Sinnen gaben: das Sehen als Nummer eins und das Schmecken und Tasten an letzter Stelle (oder vorletzter, soweit der “sechste Sinn“ mitspielt).
Auch heute noch würden viele Menschen diese Reihenfolge unterstreichen, was vor allem daran liegt, dass nur sehr wenige Menschen den Tastsinn verlieren. Das ist das alte Dilemma: wie kann ich den Wert von etwas ermessen, das ich nicht abschalten kann und das mich ständig begleitet? Wertvoll ist das, was ich nicht habe oder was ich leicht verlieren kann.
Nach dem sechsten Sinn wurde noch der siebte definiert; zumindest philosophisch. Heute steht der Begriff eher für eine kurze Fernsehserie, die ein Bewusstsein für den Straßenverkehr schaffen sollte, jedoch meist als willkommene Toilettenpause diente. Dabei war der Titel der Sendung kein Wortspiel, sondern zielte auf die Fähigkeit des Menschen Erlerntes in die automatischen Reaktionen einzubauen. Einem Reiz (Sinneswahrnehmung) folgt dann nicht mehr eine fest definierte Handlung, sondern der erlernte Ablauf (einfachstes Beispiel: das Abbremsen mit dem Bremspedal). – Bis heute ist nicht klar, ob in diesem Zusammenhang von einem Sinn gesprochen werden kann. Das wäre dann wieder sehr unvernünftig.

Aber die Durchnummerierung der Sinne ist längst Makulatur. Wir kennen weitere Sinneswahrnehmungen wie: Schmerz, Temperatur, Gleichgewicht und Körperempfinden. Und wir wissen auch, dass es schwarz-weißes Sehen und farbiges Sehen gibt, das Riechen entscheidend für das Schmecken verantwortlich ist und das Gleichgewicht von mehreren Sinnesorganen unabhängig überwacht wird.
Gleiche Sinnesorgane können also unterschiedliche Wahrnehmungen auffangen und unterschiedliche Sinnesorgane gleiche. Das Ganze ist viel zu kompliziert für ein Durchnummerieren nach dem Motto “wichtig und weniger wichtig“.
Für den sechsten Sinn ist dadurch aber eine Nische entstanden. Als Begriff recht schwammig und nebulös, kann er sich einer durchgehenden Beliebtheit erfreuen. Und zwar deswegen, weil er irgendwo im Raum schwebt. Wäre er greifbarer, so könnten sich nicht Ahnungen, Angstphantasien, Wünschelrutengänger und Wahrsager dahinter verstecken.
Der sechste Sinn ist also ein gutes Beispiel dafür, wie die menschliche Vernunft funktioniert: sie versucht Lücken und Nischen zu füllen, für die es kein Wissen gibt oder für die das vorhandene Wissen absichtlich nicht genommen werden soll (etwa, weil es nicht ins eigene Weltbild passt).
Von daher ist der sechste Sinn wieder sehr vernünftig, sozusagen. Aber ob er hilft ein “vernünftiges“ Leben zu führen?


 neues Sinnessystem entdeckt

Andreas Gahmann

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram