andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 21. Januar 2010, 04:12
(bisher 941x aufgerufen)

Wie sozial war Darwin?

Vor ein paar Tagen hörte ich ihn wieder, diesen floskelartigen Spruch, der immer wieder den Leuten über die Lippen kommt: „Die vermehren sich wie die Karnickel. Kein Wunder, dass wir Deutschen aussterben.“
Gemeint war natürlich eine türkischstämmige Familie, die den Inhalt ihres Einkaufswagen auf das Laufband der Kasse räumte, während das “deutsche“ Rentnerpaar noch hinten in der Schlange stand.
Jetzt könnte man natürlich darüber schwadronieren, was denn das Deutschsein eigentlich ausmacht. Aber da mir kurz vorher noch der Satz “nur die Starken überleben“ zu Ohren gekommen war und mir auch noch der Begriff Sozialdarwinismus durch den Kopf ging, der mal wieder durch die Presse geistert, kam mir Terry Pratchett in den Sinn.
In einem seiner Bücher schreibt er von den Lügen für Kinder und von den Lügen für Erwachsene, was sich nur im ersten Moment wie der Unterschied zwischen Märchen und den Artikeln in der BILD anhört. Kurz gesagt geht es aber darum, dass wir die einen Lügen erzählen, obwohl wir es besser wissen, und die anderen, weil wir es nicht besser wissen wollen.
Nun gut, das hört sich doch wieder nach Märchenbuch vs. BILD-Zeitung an. Gemeint ist aber viel mehr: Gerechtigkeit, Wahrheit, Liebe … All die großen Begriffe, die wir immer wieder in den Mund nehmen und ganz genau wissen sollten, dass es sich um Ideale handelt, die nie erreicht werden können.

Ein weiter Lüge für Erwachsene ist der Sozialdarwinismus. Hier geht ums “fressen und gefressen werden“ und um die Starken, die die Schwachen dominieren. Ein Unwort für die einen und eine geflüsterte Heilsbringung für die anderen.
Egal wer diesen Begriff in die Welt gesetzt hat (da streiten sich die Gelehrten), er hat damit eine Menge Unheil angerichtet. Survival of the Fittest, der Satz, der so missverständlich mit Überleben des Stärkeren übersetzt wurde, bedeutet nämlich nicht das hierarchische Gesteche, dass die Menschen für sich selber erfunden haben. Vielmehr geht es um eine unbewusste Anpassung an die Umwelt, die über viele Generationen geht. Und um die Vorteile für diejenigen, die am besten angepasst sind.
Das müssen nicht die Starken sein, es können auch die Kleinen, Schwachen, Klugen, Dummen, Vorsichtigen oder Vorwitzigen sein. Genau genommen gibt es überhaupt keine Regeln, sondern nur ein Herumprobieren, bei dem die Messlatte das eigene Überleben und das Zeugen von Nachkommen ist. Darum gibt es Mäuse und Elefanten, obwohl letztere doch so viel größer und stärker sind.
Der Begriff Sozialdarwinismus lehnt sich ursprünglich nur bedingt an den Darwinismus an und überträgt eher die ältere Vorstellung einer natürlichen Höherentwicklung auf die Gesellschaftsstruktur des Menschen (siehe: Spencer, Lamarck …). Ein Gedanke übrigens, der noch heute in vielen Köpfen herumschwirrt: alles muss wachsen, alles wird immer größer, schöner und besser.
Leider wird einer der wichtigsten Punkte übersehen: die Umwelt. Wenn die Umwelt sich ständig ändert, kann es keine Anpassung geben. Einzig das Individuum passt sich dann an und wähnt sich Erfolg zu haben (oder Misserfolg), aber es ist nur der Zufall, der die Karten gegeben hat.
Der zweite wichtige Punkt ist die Vermehrung. Das Weitergeben an die Nachkommen, um genau zu sein. Hier geht es nicht um ein paar Dutzend Generationen, sondern um einen richtig langen Zeitraum. Weder Lehrer in dritter Generation, noch Sozialhilfeempfänger in vierter oder Landbesitzer in zwanzigster Generation sind damit gemeint.

Natürlich meint der Sozialdarwinismus nicht die korrekten biologischen Abläufe, er gaukelt sie nur vor. Die Strukturen sind viel kleinräumiger angesetzt und die Zeitspannen sind recht kurz. Zudem geht es ganz klar um Sieger und Verlierer, also um die Besseren und die Schlechteren. Da erinnert das Ganze schon sehr an den Nationalsozialismus, an Rassenkampf und unwertes Leben.
„Die vermehren sich wie die Karnickel. Kein Wunder, dass wir Deutschen aussterben,“ ist also mehr als eine ärgerliche Floskel. Hier steckt Verachtung hinter und ein Dünkel des “wir sind die Lebenswerteren“.
Die Lüge für Erwachsene bleibt beim: “wir Deutsche“ hängen, denn erklären könnte der Floskelsprecher den Begriff nicht (oder er würde sich schrecklich verhaspeln). Der Rest der Aussage geht nicht einmal mehr als Lüge durch, er ist reinste Hetze.
Damit widerspricht der Satz dem Sozialdarwinismus, den er eigentlich predigen will. Denn bei einer stetigen Höherentwicklung müsste sich auch längst die Quote der Lügen und Dummheiten reduziert haben.



Andreas Gahmann

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Anifarap (21.01.10)
Hach! Immer wieder erfrischend zu entdecken, dass man mit diesem Wissen um Darwin nicht allein ist. Es gibt da ein tolles Buch, dass sich mit Darwins Theorie auf einer philosophischen Ebene auseinandersetzt. Der Titel ist "Evolution der Liebe". Dort wird aufgezeigt, welch tragische Fehlinterpretation sich mit dem sogenannten 'Darwinismus' in der Welt ausgebreitet hat.

Danke fürs Schreiben dieses Textes.

Esther
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram