andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 25. März 2010, 00:08
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Hartz-4-Missbrauch

Guido Westerwelle ist nicht der Entdecker des Missbrauchs von Sozialleistungen, auch wenn er in seiner bescheidenen Art vielleicht einen anderen Eindruck erweckt. Das von ihm als
"anstrengungsloser Wohlstand" und "spätrömische Dekadenz" bezeichnete Phänomen gibt es vermutlich nicht erst seit der Einführung der ersten Sozialeinrichtungen und –förderungen, sondern war schon immer verbreitet.
Ob nun ein Steinzeitbewohner eine Verletzung vorspielte, um sich vor der Arbeit zu drücken, oder jemand an antiken Armenspeisungen teilnahm, ohne bedürftig zu sein, ist dabei egal. Die meisten Menschen denken nun mal zuerst an ihre Vorteile.

Die Bundesagentur schätzt die Zahl des Sozialmissbrauchs 2009 auf 1,9 Prozent, was beeindruckende 125.000 Fälle jährlich wären, aber davon abgesehen ziemlich wenig erscheint. Immerhin hatte schon Wolfgang Clement 2001 gemahnt, es sei “Betrug an all denen, die Hilfe wirklich brauchen, und an Millionen Menschen, die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten.“
Es kann doch wohl nicht hinkommen, dass unsere gewählten Volksvertreter seit Jahren so ein Fass aufmachen und das Problem wie ein Mantra herunterbeten und dabei etwa 72 Millionen Euro “Überzahlungen“ meinen? Oder doch?
Wolfgang Clement nannte den Arbeitsmarktreport sinnigerweise “Vorrang für Anständige“ und nicht “Vorrang für Bedürftige“ und unterstellte eine “beispiellose Dreistigkeit“. Das waren damals scharfe Worte, die den SPD-Politiker nicht sehr weit von den heutigen Äußerungen eines Guido Westerwelle rücken.

Aber was ist denn genau mit dem Begriff Hartz-4-Missbrauch gemeint, der bei 72 Mio. Euro und 125.000 Fällen auf etwa 580 € pro Fall kommt? Jährlich, versteht sich. Monatlich beläuft es sich auf erschreckende 48 €.
Ich möchte jetzt nicht unterstellen, dass hier Leute unterwegs sind, die ihre mathematischen Fähigkeiten an der Garderobe abgegeben haben als sie gewählt wurden. Wirklich nicht. Auch möchte ich das nicht ihren Mitarbeitern vorwerfen, den Journalisten (die nach Zahlen immer wie hungrige Hunde schnappen) oder anderen Leuten, die diese Argumente begierig benutzen. Wer als Spitzenpolitiker täglich mit Milliarden jongliert, kann sich doch auch mal um kleinere Zahlen kümmern, soweit sie einen Missstand in der Gesellschaft bloßlegen. Und ist es nicht richtig, den Hartz-4-Missbrauch zu benennen?

Was hätten wir denn da:

- Sozialschmarotzer, die einer regelmäßigen Arbeit nachgehen und Hartz-4 noch als Bonus nehmen

- Sozialschmarotzer, die nicht angeben, dass sie in einer Lebensgemeinschaft leben, weil dann der Partner für den Unterhalt zuständig wäre

- Sozialschmarotzer, die Traumjobs als Prostituierte, Drogendealer, Straßenhändler, Bettler oder anderen ehrenwerten Berufen nachgehen, da sie verschuldet, drogenabhängig oder schlichtweg pleite sind

Sicherlich ließen sich hier auch noch weitere Kandidaten finden, aber fast alle haben das mathematische Problem, dass sie zusammen auf 72 Mio. Euro kommen müssen (oder wahlweise auch doppelt, dreifach oder zehnfach so viel, das spielt bei solchen aufaddierten Summen keine Rolle mehr). Für jeden hohen Betrag eines großen Falls müssen die Beträge für die kleinen Fälle reduziert werden, damit der Durchschnitt wieder stimmt.
Laut Presse ist es vor allem der Vollbetrug, also die Erschleichung der kompletten Leistung, obwohl einem nichts zusteht. Das funktioniert aber rechnerisch gar nicht, denn der Vollbetrag liegt bei über 700 € (mit Miete und Heizung), also bei weit über 8.000 € im Jahr. Nehmen wir jetzt hundert Sozialschmarotzer als Grundlage, so ergibt das einen Betrug von 54.800 €, aber da passen dann höchsten 6 % Vollbetrüger hinein und für die restlichen 94 % bleiben etwa 12 € im Jahr übrig, also 1 € im Monat.
Irgendetwas ist krumm an diesen Zahlen und dem Trubel, der darum gemacht wird. Entweder wird hier etwas grausam aufgebauscht oder es liegen nicht die richtigen Zahlen vor. Oder aber – und das steht zu befürchten – es liegen völlig anders gestrickte Formen des Hartz-4-Missbrauchs vor.

Was könnten wir denn da finden?

- Firmen, die an den Förderungsgeldern für 1-€-Jober verdienen, aber keine sinngemäße Arbeit vergeben?
- Kommunen, die von 1-€-Jobern arbeiten erledigen lassen, die vorher von normal bezahlten städtischen Angestellten erledigt wurden?
- eine Propagandamaschinerie, die Vorurteile in der Bevölkerung schürt, den Widerstand klein hält, die Chance auf Verständigung untergräbt und damit auch noch Geld verdient?
- eine Boulevard-Presse die eifrig mitmacht und dadurch bei den Bürgern die Angst füttert selber abzurutschen?
- die Politik durch markige Sprüche, die so manchen zurückhält Unterstützung zu erfragen, obwohl sie ihm doch zustehen würde?
- der Wunsch zu vertuschen, dass Hartz-4 mit der heißen Nadel gestrickt wurde, die Agentur viel zu wenige Angestellte hat (von Organisation und Räumlichkeiten ganz zu schweigen) und der Jobvermittlungsauftrag in die Hose gegangen ist?
- das erfolgreiche Abkanzeln von Mindestlohnforderungen?
- fehlendes Engagement in politischen Fragen, weil das Schreckgespenst Hartz-4-Missbrauch umgeht?

Guido Westerwelle hat es auf den Punkt gebracht, als er sagte: "spätrömische Dekadenz". Denn das römische Reich war ein Sklavenhalterstaat mit klaren Klassengrenzen, die kaum zu durchbrechen waren.
Aber hat er es wirklich so gemeint?


Andreas Gahmann

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