andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 01. Juli 2010, 02:25
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Demokratie?

Nachdem Horst Köhler vom Amt des Bundespräsidenten zurückgetreten war, kam verstärkt die Politikverdrossenheit auf. Zumindest wird das behauptet. Andere meinen, dass sie schon die ganze Zeit über da war.
Politikverdrossenheit? Oder sollen wir es Demokratiemüdigkeit nennen? Oder ist es das wachsende Gefühl, dass wir keine Demokratie haben? Oder was?
Unser politisches System nennt sich parlamentarische Demokratie. Es ist ein Beispiel für das Prinzip der indirekten Demokratie, in dem nicht alle Menschen entscheiden, sondern wenige Stellvertreter ausgewählt werden. Im Grunde ist es dabei egal, ob es sich um Einzelpersonen, Räte oder Parteien handelt, denn die Stellvertreter haben vor der Wahl dargelegt, welche Positionen sie vertreten werden.
Da nun aber diese Stellvertreter angeblich nicht das tun, was sie versprochen haben (oder gerade doch), wird von einigen Kritikern die wahre Demokratie gefordert. “Wahr“ bedeutet natürlich “wirklich“ oder “echt“ und fordert die Einbeziehung des Willens der Bevölkerung.
Allerdings … wie soll das geschehen? – Basisdemokratie? Direkte Demokratie? Partizipatorische Demokratie? – Es gibt viele unterschiedliche Vorstellungen von der “reinen“ Demokratie, doch um das Problem dahinter zu verstehen, muss ein kurzer Abstecher in die Geschichte gemacht werden.
Als Erfinder der Demokratie gelten die antiken Griechen. Oder genauer: griechische Stadtgesellschaften, die unabhängig voneinander waren. Diese Städte hatten jeweils einige zehntausend Einwohner, aber nur einige tausend wahlberechtigte Bürger (Sklaven, Nichteingeborene, Besitzlose, Verschuldete, Kinder und Frauen gehörten nicht dazu). Diese Bürger wählten – je nach Stadt unterschiedlich – die Amts- und Führungspersonen für eine zeitliche Frist. Das lässt sich im Rahmen einer Stadt sogar ohne Buchdruck oder Computer umsetzen.
Seltsamerweise erinnert es aber gar nicht an eine reine Demokratie, sondern an andere Regierungsformen … etwa an Wahlkönige oder –kaiser, die von einer Auswahl Adliger (Kurfürsten u.a.) gekrönt wurden oder Stadtparlamente der Hansezeit, die aus angesehenen Gildenmitgliedern bestanden … aber es ist Demokratie. Volksherrschaft bestimmt sich nämlich danach, wie das Volk definiert ist. Besteht das Volk nur aus Männern, Freien, Besitzenden oder Edlen, so dürfen natürlich nur diese demokratisch wählen. Eine Beteiligung anderer wäre sogar undemokratisch.
„Das ist heute anders“, wollen Sie einwerfen? – Was ist bei uns mit Kindern, Strafgefangenen, Insassen psychiatrischer Anstalten oder Nichteingedeutschten? Hat etwa jeder ein Wahlrecht, sobald er/sie von den Auswirkungen betroffen ist? – Nein.

Wie sehe ein Planspiel der “reinen“ Demokratie in unserer Gesellschaft aus?
Alle Wahlberechtigten werden aufgefordert ihre Stimmen zu den Themen abzugeben, die sie etwas angehen (wäre Wahlpflicht sinnvoll?). Das dürften kommunale Themen sein, aber auch Fragen der Region, des Bundeslandes, des Bundes oder Europas. So könnte von stadtplanerischen Entscheidungen (neue Laternen in einer Straße, Sanierung bestimmter Straßen u.a.) bis zu staats- und europatragenden Beschlüssen alles von allen BürgerInnen entschieden werden.
Natürlich müsste aufgepasst werden, dass keine bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt werden (sonst schreibt die spießige Nachbarschaft bald die erlaubten Pflanzen im Vorgarten vor) und auch wirklich nur die Themen mitentschieden werden, die einen etwas angehen (da dürfte die Abgrenzung allerdings problematisch werden), aber elektronisch ist das durchaus umsetzbar.
Überlegenswert ist die Frage, ob stärker Betroffene vielleicht mehr Stimmengewalt haben sollten (Eltern Schulpflichtiger in Schulfragen, Frauen in Frauenfragen, Unternehmer in Steuerfragen, Banker in Finanzfragen …), aber das liefe auf ein multiples Klassensystem heraus und Klassensysteme tragen Ungerechtigkeit und Willkür tief in ihren Knochen.
Politiker braucht es dann nicht mehr, weil der “Wille des Volkes“ nur noch umgesetzt werden muss, was eine ausführende Beamtenschaft erfordert. Die Entscheidungsmöglichkeiten werden auch nicht von Politikern vorgeschlagen, sondern von angestellten/beamteten Fachleuten. Die Hintergründe werden selbstverständlich von den öffentlich-rechtlichen Sendern sachlich und objektiv aufgearbeitet – und nicht von der Boulevard-Presse. Aber die Journalisten der Boulevard-Presse könnten helfen die Fragen verständlich zu formulieren.

Ließe sich das umsetzen? – Ja.
Wäre es wünschenswert? – Das muss jeder selbst entscheiden. Immerhin dürfte ein recht statisches und konservatives System entstehen, das als einzige Dynamik eine Anfälligkeit für Hetze und Propaganda hätte. Also für flache Antworten auf tiefgehende Fragen.
Dafür könnte wohl kaum noch jemand über Politik(er)verdrossenheit klagen, denn jeder wäre mittendrin. Die Zeit fürs Klagen würde auch fehlen, denn mehrere Stunden pro Woche müssten schon investiert werden.
Allerdings bleibt eine Frage offen: wenn wir jetzt das Problem haben, dass die Politiker nicht so mündig, klug und unabhängig sind, wie wir es gerne hätten … wären es die Bürger?



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 BrigitteG (01.07.10)
Ich denke, dass es keine Politikverdrossenheit, sondern eine Politikerverdrossenheit gibt. Politiker sind für mich Autoverkäufer mit höherem Einkommen - glatt, gefällig, nur nicht anecken, keine eigene Meinung, alles unter dem Gesichtspunkt der Wiederwahl betrachten.
Kein Wunder, dass Gauck besser ankam - nicht wegen seiner politischen Einstellungen, sondern weil er frischer war, unverkrampfter.

 BrigitteG (01.07.10)
Ludwig, ich glaub das gar nicht mal, dass das Volk dann für die Todesstrafe wäre. Zum einen denke ich, die der größte Teil der Deutschen keinen Krieg will, auch keine Beteiligung an kriegerischen Auseinandersetzungen in anderen Ländern - ich halte die Deutschen für inzwischen recht pazifistisch. Also was das Große und Ganze angeht - der Kleinkrieg mit Nachbarn ist da ausgenommen *g*.
Und ich glaube auch (ganz optimistisch), dass es so etwas wie ein Gerechtigkeitsbedürfnis gibt, ein Bedürfnis nach Echtheit in einer Welt, die schön operiert und glattgespült ist, egal ob es das Äußere oder das Innere ist.
wortverdreher (36)
(01.07.10)
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 Lala (02.07.10)
Schöne Kolumne.

Ich bin mittlerweile für Wahlpflicht. Wie in Belgien. Und ich würde Enthaltungen verbieten wollen. Wer nichts wählen kann, soll eben seine eigene Partei gründen. Ich weiß schon, klingt bekloppt. Außerdem würde ich jede abgegebene Stimme mit einem 10%igen Gez Rabatt belohnen. Leute die nicht wählen, würde ich für acht Jahre das Wahlrecht entziehen. Es geht mir nämlich auf den Sack, dass gefühlte 99% motzen und heulen und zähneklappern und die da oben greinen und anscheinend doch kommod sind mit der BRD. Das Wahlrecht ist ein Geschenk, ein Luxusgut und für Milliarden Menschen ein Sehnsuchtsziel und man es sollte es teuer verkaufen und nicht auf dem Grabbelramschtisch für lau verschleudern.

Frau Schipanski, die schon für die CDU Herrn Köhler gewählt hatte und 1999 die Gegenkandidatin der Union in der Bundesversammlung gewesen war, wurde 2010 nicht "eingeladen", weil sie sich dem Wunsch der Partei verweigerte ihren Wahl vorab bekannt zu geben. Im Deutschlandradio sagte sie sinngemäß: Durch die Erfahrungen in der DDR, habe sie sich 1990 geschworen, nie vor oder nach einer Wahl irgendjemandem ihre Entscheidung zu offenbaren.

Allein schon wegen dieser Geschichte, würde ich die Wahlpflicht einführen und sie denen entziehen, die sich nicht entscheiden wollen oder sie nicht nutzen wollen. Vox popouli vox Rindvieh? Und wenn schon, dann weiß ich endlich wovon das Volk träumt - selbst wenn es mir zum Albtraum werden sollte - und nienamnd, niemand, auch die LINKE nicht, kann sich auf die unbefleckte Empfängnis berufen.

Und ab ...
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