andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 15. Juli 2010, 04:07
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Rollen und Gene

Seit Jahrzehnten tobt ein Grundsatzstreit, an dem sich ziemlich viele unterschiedliche Gruppen beteiligen. Psychologen sind vertreten, Pädagogen, Biologen, Mediziner, Anthropologen, Ur- und Frühgeschichtler, Soziologen, Kirchenvertreter … und seltsamerweise auch viele Otto-Normal-Bürger, denn es geht um ein Thema, das jeden angeht und bei dem die Wahrheit leicht zu erkennen ist. Trotzdem gibt es immer wieder heiße Diskussionen darüber. Dabei gibt es klare Gewinner, immer mal wieder. Leider sind sie nicht immer aus dem gleichen Lager.
Worum es geht? – Um die Gene natürlich. Um die Gene und ihre Auswirkungen auf den Menschen: die Steuerung des Verhaltens, der Einfluss auf die sexuellen Rollen, die Auswirkungen auf die Intelligenz, das Geheimnis der Talente, die Hintergründe für die Psyche und all der Kram.

Die wichtigsten Lager sind schnell beschrieben:
1. die 90/10er, die die wichtigsten individuellen Eigenschaften der Menschen auf die Vererbung zurückführen
2. die 70/30er, die einen großen Teil der menschlichen Individualität bei den Genen sehen
3. die 50/50er, die davon überzeugt sind, dass sich die Einflüsse von Genetik und Erziehung die Waage halten
4. die 30/70er, die die Vererbung wichtig, aber die äußeren Einflüsse wichtiger finden
5. die 10/90er, die vor allen die Prägung durch Eltern und Gesellschaft favorisieren

Im ersten Moment wird vermutlich jeder denken: „Was soll das? Die Frage ist doch wohl längst beantwortet.“ - und damit auf die Argumentation eines der früheren Sieger zielen. Es ist doch so viel erforscht worden, da wird es zu dieser Frage doch Antworten geben.
Ja, die gibt es auch. Leider ziemlich unterschiedliche.

Gängige Argumente sind:
- der Körper wird von den Genen bestimmt. Damit auch das Gehirn, das der Sitz der Persönlichkeit ist.
- der Mensch ist erfolgreicher als Tiere, weil er sehr wenig durch die Geburt bestimmt wird. Sprache ist ja auch nicht angeboren und doch bestimmt sie den Rahmen, in dem wir denken können.
- jeder kann die Ähnlichkeiten zu den Eltern und Großeltern sehen. Das gilt nicht nur für den Gesichtsschnitt, sondern auch für viele Bereiche der Persönlichkeit
- der Mensch hat eine unveränderliche Seele und die ist schon vor der Geburt vorhanden. So sind die Gene nichts als das Hilfsmittel, um den Komplex Körper-Seele in die Welt zu bringen

Einigkeit in den einzelnen Lagern gibt es nicht, selbst Eselsbrücken scheitern an unterschiedlichen Einschätzungen. So können sich Biologen nicht einigen wie die Prozente bei Tieren verteilt sind. Liegen Gliedertiere wie etwa Regenwürmer bei 99,99 zu 0,01, bei 99,9 zu 0,1 oder gar bei 99 zu 1? Was ist mit Mollusken, Muscheln etwa?
Wie sieht es bei Fischen aus, bei denen es schon einige recht pfiffige Arten gibt? Oder bei Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren?
Es wäre so praktisch, wenn Referenzarten angenommen werden könnten, Tierarten, die auf einer glatten Zahl dieser Verteilung liegen und von denen hochgerechnet werden könnte. Aber da liegt ja auch das Problem bei dem Menschen: was nimmt man als Grundlage?
Sind Quallen vielleicht mit 100 zu 0 anzunehmen? Oder Regenwürmer? Oder Wasserflöhe? Lernfähig scheinen die ja alle nicht zu sein. Oder doch?

Aber solange solche Fragen nicht eindeutig beantwortet sind, fallen immer wieder Leute in die Falle des Vergleichs. Da werden Tierverhalten mit Menschenverhalten verglichen, althergebrachtes menschliches Verhalten zugrunde gelegt (obwohl das doch auch schon erlernt sein könnte), die suspekte Zwillingsforschung angeführt oder biologisierte Argumente eingebracht.
Nehmen wir zum Beispiel die Frauenrolle in der Gesellschaft.
Bei vielen Tierarten ist klar geregelt wie sich die Geschlechter zu verhalten haben. Zwar gibt es da auch so manche Strategie, die sich von Artgenossen unterscheidet, aber dennoch zeigen einige Meinungsgruppen immer wieder darauf, um die Existenz klarer Rollen zu belegen: Mutterrolle, Ernährerrolle, Hausfrauenrolle, Beschützerrolle … (oft ist bei diesen biologisierten Argumenten auch noch Platz für die Begründung des Fremdgehens, des Kindermords, der Eifersucht, der Verständigungsprobleme der Geschlechter, des unordentlichen Verhaltens der Männer, der Vermittlungsfähigkeit der Frauen und anderes mehr)

Die Definition der Frauen- und Männerrolle zeigt auch eines der großen Probleme auf, da es vielen Menschen gar nicht schwer fällt in den unterschiedlichen Bereichen des Menschen auch unterschiedlich starken Einfluss der Gene zu entdecken. Das macht die Diskussionen nicht einfacher.
Fragen wir uns also mal: wie sehen denn die Geschlechterrollen in der Geschichte des Menschen aus? Gab es da eine Entwicklung? Gibt es gar unterschiedliche Rollen?
Von der Urzeit des Menschen wissen wir nicht viel, denn die paar Fundstücke sagen nur sehr wenig aus. Ein Großteil der Thesen sind nur Spekulationen, oftmals eindeutig gefärbt. Klar ist nur, dass es kleine Menschengruppen waren, die ständig zusammen lebten, denn Landwirtschaft gab es vermutlich noch nicht (die ist vielleicht 10.000 – 20.000 Jahre alt). Daraus schlussfolgern manche Wissenschaftler ein Gesellschaftssystem, das aus Großfamilien bestand, die sich auftrennten, wenn die Nahrung nicht mehr für alle reichte.
Vorurteile und Fehleinschätzungen führen noch heute dazu, dass von Höhlenmenschen gesprochen wird. Dabei sollte es logisch sein, dass die Frühmenschen vor der Erfindung von Werkzeug wohl kaum sesshaft genug für eine Höhlenbenutzung war. Außerdem gibt es nur in wenigen Gebieten bewohnbare Höhlen und die sind meist weit vom Wasser entfernt (Eimer sind auch Werkzeuge). Nach der Erfindung des Werkzeugs (aus Holz, Knochen, Horn und letztlich auch Stein) war es dann viel einfacher Hütten und Unterstände in Wassernähe zu bauen. Leider werden Funde aber meist in abgelegenen Höhlen gemacht, da sie dauerhaft sind und gleichmäßige Umweltbedingungen besitzen. Spuren an anderen Orten sind längst dahin.
Vor der Sesshaftwerdung war eine Spezialisierung in feste Rollen vermutlich nur eins: ein Garant für das Sterben.
Viele Ur- und Frühgeschichtler nehmen an, dass nach den Jägern und Sammlern die Nomaden mit Viehwirtschaft folgten; - natürlich nicht überall gleichzeitig oder in gleicher Art und Weise. Nomaden können mit Höhlen nicht viel anfangen, sie schlagen ihre Zelte viel zu häufig an unterschiedlichen Orten auf. Dafür sind die überlebensfähigen Gruppen größer, was gewisse Spezialisierungen erlaubt. Aber gab es da schon eine Frauenrolle, die über die Funktion als Mutter hinausging? Und war diese Rolle abhängig von Genen, die in den vorherigen Jahrtausend geschlummert hatten? Oder entwickelten sich diese Gene zu diesem Zeitpunkt erst?

Es wird wohl klar, dass es gar nicht so einfach ist einen schlüssigen Ablauf hin zu bekommen. Die heute lebenden Nomadenvölker sind keine Überbleibsel aus uralter Zeit (schon ein paar Tausend Jahre wären ein Wunder) und können nicht als Vergleich herangezogen werden. Auch steht gar nicht fest, dass Viehnomaden eine unumgängliche Entwicklungsstufe darstellen, denn es sind auch andere Szenarien denkbar (in tropischen Regenwäldern könnte die geplante Pflanzennutzung auch ohne Vieh ausgekommen sein). Oder die Auswanderung aus Afrika fand erst durch die Viehnomaden statt und nicht durch Jäger und Sammler. Oder, oder, oder …

Für die Frage um den Anteil der Gene am fertigen Menschen ist das nicht sehr hilfreich, denn es liefert keine Antworten. Aber denken wir doch einmal daran, wie alt unsere heutige (und so oft als Vergleich benutzte) Gesellschaftsstruktur ist. Noch vor hundert Jahren war das Leben als Single kaum denkbar und gehen wir zeitlich noch weiter zurück, so wird das noch deutlicher. Familienmitglieder waren voneinander abhängig – und zwar bei dem überwiegenden Teil der Bevölkerung. Aufgabenteilung erscheint da schon sinnvoll, aber ein zu festes Beharren in Rollen ist gefährlich (außer zur Vermehrung).

Letztlich gibt es also doch einen Hinweis auf die Ausgangsfrage, denn es zeigt sich, dass der unbändige Drang als Familie (oder kleiner Gruppe) zusammen zu leben ein sehr viel sinnvolleres Gen wäre, als das Geschlechterverhalten (oder andere diskutierte Verhaltensweisen) festzuschreiben. Schon vor 100.000 Jahren hätte es das Überleben gesichert und selbst für die Vormenschen wäre es ein Vorteil gewesen. Der Drang müsste wirklich unbändig sein und kaum Ausnahmen zulassen. - Darum leben die Menschen auch heute nie alleine. Nicht?


Diesmal nur ein interessanter Link:  Mosuo



Andreas Gahmann

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 AlmaMarieSchneider (15.07.10)
Ein interessantes Thema.
Ich denke, daß Rollen grundsätzlich erlernt sind. Ein gutes Beispiel sind heutige Frauen. Sie können unabhängig von Mann, Kind oder Familie ihr Leben bestreiten. Ich denke, sie konnten es schon immer. Man hat sie nur in den "abhängigen" Status vor allem in patriarchalischen Systemen gedrängt, ihnen keine Bildung oder einen Beruf erlaubt, der ihre Versorgung garantiert hätte.
Heute haben sie ihre Rolle neu definiert und sie sind noch nicht fertig damit.
Ob die Familie in "althergebrachter" Form dazu gehört?

Was besonders bei Frauen genbedingt ist, wer weiß das schon. Erst in den letzten dreißig Jahren wurden einige davon selbstbestimmter, lernten Berufe und arbeiteten auch noch mindestens dreißig Jahre darin. Dieser Anteil ist jedoch (wie man an der Durchschnittsrente von 420 € sieht), sehr gering geblieben. Noch sind alte Rollen zu sehr verankert. Sie überdecken Vererbung.

Zudem sollte man genetische Veranlagung nicht mit hormoneller Steuerung verwechseln. Daß Frauen Kinder bekommen können ist sicher genetisch bedingt, daß sie sie immer häufiger nicht mehr aufziehen wollen, na ja, das wohl weniger.


Noch etwas: Daß der Mensch erfolgreicher als Tiere ist, ist eine Annahme des Menschen in seiner unermeßlichen Arroganz.
Vielleicht deffiniert der Mensch Erfolg auch anders als die Natur.
Sicher ist, wenn er in seiner Dummheit und Gier weiterhin seinen Lebensraum Erde für sich unbewohnbar macht, wird er angesichts der Milliarden von Jahren, die Tiere hier bestritten, nur eine unbedeutende Episode sein und bleiben.

Ah, fast hätte ich es vergesse: Eine tolle Kolumne.
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