andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 28. Oktober 2010, 06:28
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von Regeln

Vor ein paar Tagen wurde ich ungewollt Zeuge eines Gesprächs zwischen einem Vater und seinem Sohn. Es war eine der Situationen, bei der es unvermittelt Einblicke in sehr private Angelegenheiten gibt, obwohl das Gespräch in der Öffentlichkeit stattfindet. Oft kommen den Umstehenden dabei Dinge zu Ohren, die nicht einmal im Freundes- oder Familienkreis erzählt würden.
Das kennt wahrscheinlich jeder. Es kann in einem Supermarkt passieren, auf einem Parkplatz, auf dem Bürgersteig, in der Fußgängerzone oder in einem Warteraum. Plötzlich reden zwei fremde Menschen über ihre Affären oder tauschen Peinlichkeiten ihrer Kinder aus, Beziehungsprobleme kommen zur Sprache, Krankheiten, Meinungen, Gerüchte, pikante Details und sogar sexuelle Themen sind nicht tabu. Seltener kommen solche Gespräche im Kassenbereich, in einem Restaurant oder in einem kleinen Geschäft vor, was vielleicht daran liegt, dass dort das Gefühl der Anonymität nicht so groß ist, denn hier trifft man schnell auf bekannte Gesichter.
Seltsamerweise funktioniert das in der Realität sogar besser als in der virtuellen Welt (wo manche Leute ja auch Privates in die Welt posaunen). Das Erinnerungsvermögen der Menschen ist nämlich nicht sonderlich gut und gerade die Erinnerung an andere Menschen ist unserer Gesellschaftsstruktur nicht angepasst. Knapp 500 andere Menschen haben (gleichzeitig) im menschlichen Durchschnittsgehirn Platz, meist nur als namenlose Gesichter und oft mit einem “Erinnerungsanker“ versehen. Solche Anker verknüpfen bestimmte Orte, Kleidungsstücke, Frisuren oder Situationen (also Muster) mit einer Erinnerung und können den lustigen Effekt haben, dass einem ein Mensch bekannt vorkommt, man aber nicht sagen kann, woher man diesen Menschen kennt. Oft fehlt nur der Kittel der Arzthelferin, der obligatorische Besen der Nachbarin, der Hund an der Leine oder die Supermarktkasse als Erinnerungsstütze.
Es ist also nicht abwegig anzunehmen, dass ein Wiedererkennen nach einigen Wochen oder gar Monaten sehr unwahrscheinlich ist. (Als Beispiel mag hier auch die beliebte Zeugenaussage nach Straftaten angeführt werden: Gerichte und Polizei schätzen Zeugen (was wohl historisch bedingt ist), aber sobald es mehr als fünf Zeugen gibt, die den gleichen Sachverhalt beschreiben, raufen sich alle Beteiligten die Haare.)
Aber zurück zu Vater und Sohn. Am Kühlregal stehend durfte ich mit anhören, wie der etwa achtjährige Junge gescholten wurde, weil er auf dem Schulhof an einen Baum gepinkelt hatte. Es war dem Übeltäter sichtlich peinlich, dass er die heimliche Aufmerksamkeit der umstehenden Supermarktbesucher hatte. Ein Rentnerpaar begutachtete seltsam lange die Ananasauslage, eine junge Frau las unauffällig auffällig die Zutatenliste eines Joghurts, eine ältere Dame konnte sich beim Käse nicht entscheiden und ein mittelalter Mann prüfte sehr gründlich die Eierkartons.
Der Junge rechtfertigte sich damit, dass er “dringend gemusst“ habe und keine Zeit für den Lauf zur Toilette gewesen sei.
Der Vater tat das ab und fragte, warum das nicht wenigstens unauffällig geschehen wäre. Der Lehrer hatte offenbar berichtet, dass es sich um einen frei stehenden Baum gehandelt habe und nicht um das Gebüsch am Rande des Schulhofs.
Die Antwort des Sohns war nicht zu verstehen (verwunderlich, dass keiner der Zuhörer nachfragte).
Darauf kam der Vater auf das Thema “Regeln“ zu sprechen, offenbar hatte der Junge etwas in dieser Richtung gesagt. Es folgte ein Vortrag über Regeln und Regelverstöße, Vertrauensverlust und dem üblichen Gesums.
Der Junge muckste herum und zeigte deutlich sein Missfallen. Solche Regeln seien unfair, war sein Hauptargument.
Was dann folgte war bemerkenswert, zumindest für mich, denn die anderen Lauscher machten sich gelangweilt vom Acker, während ich zum nächsten Eierkarton griff. War die Geschichte vorher noch unterhaltsam gewesen, rutschte es jetzt in einen fast philosophischen Exkurs ab. Der Vater sagte nämlich, dass Regeln von der Gesellschaft erfunden worden wären, um das das Miteinander zu ordnen. Und dann fügte er hinzu, dass der Regelbruch ein Zeichen an die Gesellschaft sei, dass man nicht dazu gehören wolle, sich ausgestoßen fühle oder die Führerschaft in einer eigenen Gesellschaft anstrebe.
Ein interessanter Ansatz, wie ich finde. Doch noch interessanter waren die Effekte bei den neugierigen Zuhörern und dem Jungen. Der Sohn jedenfalls war einfach nur baff, entschuldigte sich dann kleinlaut und wirkte verwirrt. Vielleicht versuchte er das Gehörte zu sortieren und zu verstehen, vielleicht gab er auch nur geschlagen auf. Aber vielleicht kam ihm das Ganze auch absurd vor und er wollte nur noch Ruhe.
Der andere interessante Effekt wurde mir an der Kasse bewusst, als ich sah, dass die vorher gelangweilt davon geschlenderten Mithörer nun aufmerksam Vater und Sohn betrachteten. Es war, als versuchten sie angestrengt sich die Gesichter einzuprägen – und zwar unabhängig von dem “Anker“ Kühlregal, an dem wir vorher gestanden hatten.
Stellt sich nur die Frage: wollten sie sich den pinkelnden Jungen merken oder den Vater mit den ungewohnten Ausführungen zu diesem Thema? Und: warum eigentlich?

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