Zelter, Joachim:

Briefe aus Amerika

Roman


Eine Rezension von  Bergmann
veröffentlicht am 08.09.08

Die Schreibstrategie ist subtil in ihrer didaktischen Absicht und künstlerischen Steigerung. Zelter beginnt leicht, in heiterem Ton, spielerisch, über ziemliche Strecken satirisch gefärbt, der Leser wird sozusagen erst einmal auf einem Niveau abgeholt, wo jeder alles oder doch das meiste versteht - und doch wird der Roman eingeleitet mit einem vergleichsweise anspruchsvollen Zitat, das überdies eine Erzählweise ankündigt, die mancher wahrscheinlich erst einmal nicht versteht. Der Erzähler verrät sein didaktisches oder dialogisches Prinzip, das viele erst einmal überlesen und vergessen. Der erfahrene Leser aber wird in anderer Weise als der ganz naive in die Spannung versetzt: Was meint Zelter mit der Abkehr von modernistischer Literatur, die das Erzählen verweigerte, den Leser oft manipulatorisch enttäuschen wollte - war das nicht die Aufhebung der Imaginationshilfe, war das nicht schon so abstrakt, dass sich solche Literatur im Formalen verlor, in Bezügen zu anderer Literatur vielleicht, war das am Ende nicht eine allzu literaturhistorische Produktionsweise von Literatur? War der nouveau roman und Ähnliches akademische Literatur geworden? Oder literarisch formulierte Soziologie, Nomenklaturgeschwätz und Kommunikationsquerschnittslähmung? Das ist das eine.

Der andere Aspekt des Romans gewinnt sich indirekt. Zwar verspricht Zelter über das Zitieren von Hayden-White, ‘primäre’ Literatur zu schreiben, also wieder ‘richtig’ zu erzählen, nicht in Bezügen zu erstarren, und doch ahnt der Leser, dass der Autor in einer Weise, die er jetzt natürlich nicht benennt, berechtigten modernen Ansprüchen genügen will: In der Struktur, in einer bestimmten motivischen oder metaphorischen Verflechtung, wer weiß. Bei Zelter ist es zunächst ein allgemein-didaktisches Steigerungsprinzip, das aller Kunst innewohnt: Das Komplexe wird im Einfachen aufgelöst, das Einfache im Komplexen.

Vor allem gelingt dem Autor das Schwerste: Je narrativer sein Roman am Ende wird, umso schneller wird er, und das scheint ein Widerspruch zu sein. Er dosierst aber den tempo-reichen Schlussspurt so geschickt, dass der Atem des Erzählers reicht und das Erzählte nicht langweilig wird. Ein schöner Trick, ein feiner Betrug, der Literatur nun einmal ausmacht - Zelter schreibt mit dem literarischen Begriff des Lügens -, eine verdammt starke Beschleunigung hat das Ende des Romans - natürlich könnte der Autor nicht ewig so weiterschreiben, aber es ist ein wunderbar gedehnter orgasmischer Flug. Es ist schon frech, wie er mit der wiederholten Stimulation „Und noch ein Kapitel. Und noch eins...“ die Spannung dehnt und zugleich ironisiert. Da kommt die Sprache in Fahrt. Weitere Mittel, dieses Tempo zu erzeugen, sind Abbrüche, Ellipsen, fragmentarische Kürze - aber Zelter gibt das Erzählen als Mitteilung und Lenkung nicht auf. Er hat eine ganz eigene Schreib-Art. Am Ende wird die Erzählsprache immer poetischer, sie nähert sich im Finale der Dichte von poems in prose.

Natürlich hat Literatur verdammt viel mit Psychologie zu tun, und mit der kommunikativen Situation, in der sich der Leser mit dem Text (manchmal auch der Autor) befindet... Mit Nietzsche begründet Zelter (s)eine humane Literatur, eine einfache im komplexesten Sinn, eine natürliche, eine nicht moralisch verlogene, eine Literatur, die die selbsttherapeutischen Anteile im Werk in der Form und in der Moralität des Worts doppelt aufhebt. Die Ironie ist ein solches Mittel monologischer und dialogischer Moralität. Diese Auffassung teilt Zelter mit Thomas Mann.

II
Die ganze Welt ist Text in unendlichen Beziehungen: Biologisch, historisch, kommunikativ. Sie werden auch außerhalb der Satiren (Büro des Rektors: Stammbäume, Wissenschafts-Nexus...) wichtig, und zwar da, worauf der Roman zum Ende hin immer mehr anspielt: Politik, Gesellschaftssystem, Existenzprobleme. Es geht um uns selbst, es geht um unser Zusammenleben und echtes Verstehen, um Liebe individuell und kollektiv. Wir suchen Amerika und finden es nicht. Wir müssten noch nicht einmal dorthin, weil unsere Bilder, unsere Vorstellungen so gewaltig sind, dass sie unsere Götter sind. Aber wir richten unser Leben nicht wie Götter ein, sondern ohne Vernunft und Selbstverantwortung. Amerika weiß selbst nicht, was es ist. Das gipfelt etwa in dem Satz des Präsidenten: „This is not America.“
Wir suchen uns selbst - und finden uns nicht. Wir finden (nur) Briefe aus Amerika, wir haben (immer) ein vermitteltes Bild. Natürlich bedeutet der Schluss des Romans: Reise selber an dein Ziel! Ad fontes! Am Ende ist ein sich so falsch suchender Mensch dekonstruiert, der Leser dekonstruiert sich, um sich im gleichen Moment wieder zu konstruieren - und das ist die Erkenntnisleistung, die der Roman, als Kunstwerk, evoziert.
Weiter. Wir finden uns also immer wieder in den Bildern anderer, nicht in uns selbst. So gesehen dekonstruiert unser Scheitern das Rätsel Rachaels, allerdings nicht eindeutig, weil Rachael eine symbolistische Romanfigur ist. Es kommt hier darauf an, dass der Leser möglichst mehrere Bedeutungen nebeneinander und zueinander stellt.
Mit Rachaels Nummer kann der Suchende, weder Schwartz noch Schultumberg noch sonst einer telefonieren, wenn nicht das echte Gespräch gesucht wird, echte Liebe, und das heißt: Begreifen, was Auschwitz war - Erinnerungsarbeit leisten, verstehen, den Dialog suchen, auch hier: Selber hingehen, und nicht das oder den man liebt als Mittel der Selbstliebe missbrauchen - ein Hauptmotiv dieses Romans! So ist das sehr konkret dargestellte Motiv der Selbstbefriedigung an der Figur Schwartz’ notwendig grausam dargestellt und wird sinnfällig.
Wenn wir Auschwitz nicht verstehen, verstehen wir uns selbst nicht. Wenn wir uns selbst nicht verstehen, passiert Auschwitz überall in der Welt wieder. Die Brände in New Eden (sic!) sind ein Hinweis auf eine Welt, die (wieder) aus den Fugen geht. Ich denke an „Hamlet“ - auch hier ist die Selbstliebe ein Motiv - und so assoziiere ich mit Rachael Ophelia.
Weiter. Die Brände in New Eden verweisen (fast stumm) auf die soziale Ungerechtigkeit in unserer Welt. Hier gelingt dem Autor sein bestes satirisches Bild: Die belagerte Universität. Eine Revolution in Amerika! Wie grotesk! Die Universität erscheint nun als Elfenbeinturm, angeblich mit der ganzen Welt vernetzt, in Wirklichkeit aber nur mit der herrschenden Klasse und - mit der Ethik der Herrschenden. Die Verbrechen bekommen einen Namen, werden aber mit Worten allein nicht begriffen. Im Zentrum dieses Elfenbeinturms, im Turmzimmer, herrscht das falsche Bewusstsein, und hier ist auch der Ort der totalen Selbstliebe, für die Schwartz steht. Er ist Deutscher, das ist der Bezug zu Auschwitz, der Name ist sprechend. Alle Menschen, die Bilder (statt Wirklichkeit) suchen, um sich selbst anzubeten (statt sich und den Mitmenschen zu lieben), sind in Schwartz ‘kollektiviert’. Schwartz ist als Bewusstseinszustand in der Welt real, obwohl er als Romanfigur eher fiktiv zu sein scheint.
Woran starb Rachael? An Unliebe. Am Vergessenwerden. Am Missbrauch durch Schwartz, die Personifizierung des kollektiven Bösen.
Etwas mysteriös, aber sicher so gewollt, sind die beiden Figuren Schwartz und Rachael - sie scheinen am Ende ineinander überzugehen, Täter und Opfer verschwinden zum Schluss. Das Blut, das nun statt Spermien fließt, ist wichtig für den Erkenntnisprozess: Dass aus harmlos erscheinender Wichserei (Schwartz; die Universität; die kollektive Selbstliebe der meisten Menschen, einer Nation, einer kapitalistischen Gesellschaft) unsühnbare Verbrechen im Kleinen wie im Großen entstehen müssen.
Die Dekonstruktion der Einbildungen und Vorstellungen, die wir haben, um uns zu lieben, weil wir glauben sonst nicht leben zu können, zeigt, dass solche Selbstliebe nicht die Deutlichkeit des Hasses benötigt, um gefährlich zu werden. Die Eskalation des Faschismus beginnt in uns selbst.
Schultumberg ist immerhin eine Vorstufe für den Erkenntnisprozess des Lesers. Seine Suche führt ihn zu dem philosophischen Hauptwerk Schwartz’, die radikale Beschreibung einer onanierenden Welt, und er liest das Buch im Rausch - dies läuft am Ende parallel mit der Haltung des realen Lesers, der Zelters „Briefe aus Amerika“ liest: Er kann sich nun selbst dekonstruieren. Und die Kunst (des Dichtens) ist im Gegensatz zur elfenbein-türmigen Philologie (Liebe des Wortes statt Liebe zur Welt) ein nützliches Mittel für solche (Selbst-)Erkenntnis. Aber ganz sicher ist das auch nicht.
Der Leser sollte nun zurückgehen zu dem Motto des Romans (Hayden-White), nun versteht er die Holocaust-Andeutung ganz.

Der spielerische Erzählperspektivismus ist dem Briefroman entwachsen. Der anfänglich deutlich spürbare Ich-Erzähler verschwindet zunehmend in den Brief-Erzählern, am Ende ist dies Schultumberg, und am Ende ist es auch gar nicht mehr wichtig, ob der Autor oder der Empfänger der Briefe erzählt! Das führt dazu, dass der Empfänger der Briefe, der Ich-Erzähler vom Anfang, mit dem Leser des Romans verschmilzt (per Identifikation), also lernt der Leser so, wie der Ich-Erzähler lernt.
Dieser subtil montierte Briefroman verliert bzw. überwindet zunehmend seinen Charakter als Briefroman. Darin liegt das Moderne der Erzählweise trotz Beibehaltung sprachlicher und narrativer Tonalität.

Die Kritik an unserer Welt in den satirischen oder grotesken Partien des Romans ist berechtigt, und die Hauptmetapher (die Universität - zum Begriff des Universalen sagt der Erzähler ja schon viel zu Beginn) sehr geeignet. Wenn es uns nicht gelingt, aus unseren Sprachgefängnissen (also aus falschem Bewusstsein, Verdrängungsmechanismen, falschen Fluchten, Götzenverehrung und Bilderirrtum...) auszubrechen, bleibt die Welt unverändert und unter der Herrschaft derjenigen, denen die Universität als Bewusstseinsschmiede zur Erhaltung ihrer Macht dient. So ändern wir die Welt nicht. Zelter will, dass echte Liebe in der Welt - individuell und kollektiv - realisiert wird. Ein weiterer Roman von ihm könnte die Kritik an der Welt, besonders am Kapitalismus, der die Traumata und das Psycho-pathische unserer Gesellschaft immer wieder so verführerisch kreativ erzeugt, noch genauer behandeln.

Spannung wird in dem Roman auch dadurch erzeugt, dass der Erzähler die Projektionen nicht sofort demaskiert (Schwartz), und die Spannung wird über den Schluss hinaus insofern verlängert, als der Leser sich fragt, wer ist nun Schwartz wirklich, wer Rachael? Ich bin Schwartz in einem gewissen Grade selbst, erkennt der Leser, und nun ist er in der Analyse seiner eigenen Wirklichkeit, in der er täglich steht.

Die satirischen Überdehnungen sind allerdings nicht immer adäquat: Sie setzen sich in ihrer (partiellen) Krassheit und Überspitzung zu sehr von dem ernsten Hintergrund ab, vor allem am Schluss. Auch lesepsychologisch wird das zur Kneippkur. Andere satirisch-groteske Partien gelingen: Die Telefonbuchleserin (hier führt das Groteske zum ernsten Hintergrund). Oder die Weltbildkarte am Anfang des Romans. Das gilt auch für die (auf den ersten Blick) gewagte Verknüpfung des Auschwitz-Traumas auf Seiten der Täter wie der Opfer (oder der Täter- und Opfer-Nachfahren) mit allen Formen der Liebe und Sexualität. Wie sich Sexualität auslebt oder nicht auslebt, hat viel damit zu tun, wie wir soziale Probleme lösen. Unterdrückte Sozialität führt zwangsläufig zu Gewalt.
Die amerikanische Religion der kapitalistischen Freiheit ist ein Irrweg. Kapitalismus bewirkt, selbst in gezähmter Form, permanente Selbstverletzung des Menschen. Vielleicht steckt das im Bilde der Vertreibung aus dem Paradies. Damit sind wir wieder in New Eden. Das neue Paradies ist die Pervertierung des alten.

Ein raffiniertes Buch mit starken Erfindungen! Joachim Zelters Roman ist ein wichtiges Buch! Die „Briefe aus Amerika“ sind auf mehreren Ebenen spannend, sie unterhalten den mitdenkenden Leser mit dem Witz des Hintergründigen und der Lust des rasenden Erzählers! Mich ergreift die surreale und damit sehr real gemeinte Bildlichkeit des Romanschlusses, der zum Besten gehört, das ich kenne: Der individuelle Narzissmus entfaltet sich universell in der Realmetapher der Universität, dem verzerrten Inbegriff des Lebens, der Fratze des Universalen.

Ulrich Bergmann
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