Wilhelm Genazino:

Das Glück in glücksfernen Zeiten

Eine Rezension von  Dieter_Rotmund
veröffentlicht am 03.04.09

Um es gleich vorweg zu nehmen: Dies ist mehr als eine Buchbesprechung, es ist auch ein Bericht über eine Lesung, bei der Wilhelm Genazino "Das Glück in glücksfernen Zeiten" vorstellte. Das sollte kein Manko sein; eine Lesung sagt viel über Werk und Autor aus.

Wilhelm Genazino ist ein fleißiger Schriftsteller; im Durchschnitt einmal im Jahr kommt ein neues Buch von ihm heraus, meistens ist es ein Roman, manchmal sind es Essays, seit 2003 wurden auch Theaterstücke von ihm veröffentlicht und gespielt.

Wilhelm Genazino, geboren am 22. Januar 1943 in Mannheim, ist ein fleißiger Vorleser. Allein im April macht er vier Lesungen in Baden gemacht, zwischendurch fliegt er zum Goethe-Institut nach Stockholm, um sein neues Buch vorzustellen. Es heißt „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ und handelt von einem Dr. phil. Gerhard Warlich, der in einer Wäscherei arbeitet und mit einer Sparkassenfilialleiterin verheiratet ist. Der Protagonist nimmt die typische Beobachterposition ein, die den Genazino-Figuren eigen ist: Eine zerbrechliche Lakonie, ein Schwanken zwischen Humor und Hoffnungslosigkeit, niemals arrogant, immer sehr genau registrierend, was um ihm herum passiert und wie er sich dabei fühlt. Gerhard Warlich spinnt Gedanken über die Überempfindlichkeit als Todesursache weiter, philosophiert über brezelessende Polizisten und denkt über die so genannte Morgenlatte nach, die er „Ohne-mich-Erektion“ nennt. Er moniert an den Frauen deren Geringschätzung des eigenen Busens und gerade wenn man denkt, dass es nun zotig wird, kommen Sätze wie „Durch die Brust der Frau tritt die Sanftheit in die Welt“. Genazinos Beobachtungen des Alltages sind auf den ersten Blick empirisch und bei näherer Betrachtung fast metaphysisch zu nennen. Manchmal sind sie hinterhältig, etwa wenn er schreibt, dass Kinder „Geschmacksverstärker des Lebens“ seien, was zunächst poetisch-heimelig klingt. Später wird einem klar, dass Geschmacksverstärker künstliche Zusätze sind, also ein im Grunde armseliger Versuch, etwas geschmacklosen und damit stumpfsinnigen doch noch irgendwie Geschmack, will sagen: Sinn, zu verleihen.

Wilhelm Genazino macht gerne Lesungen. Seine Lesungsuniform ist der schwarze Anzug mit schwarzem, krawattenlosen Hemd. Im badischen Ettlingen hatte er sie auch an. Der Lesungsort, die Cafeteria der Stadtwerke Ettlingen ist ein luftiger Ort; viel Holz, Buschwerk und Glas. Im Rücken von Wilhelm Genazino kann man durch die bis auf den Fußboden reichenden Fenster auf eine Grünfläche mit blühenden Bäumen sehen. Der Ort ist fern von urbaner Hektik. Das Gebäude der Stadtwerke liegt in einem so genannten Gewerbegebiet, zwischen einem BMW-Händler und großen Lagerhallen von Firmen, von denen man noch nie etwas gehört hat. Abends ist es dort so ruhig wie in einem Freibad im Winter. Im Laufe des Abends wird es dunkler werden, dann kann man nicht mehr die Grünfläche, sondern die Spiegelung des Auditoriums sehen. Der Kreis der Zuhörer scheint dann wie durch Geisterhand größer geworden zu sein. Wilhelm Genazino schenkte sich als erstes Wasser in ein Glas und stellt dann die große Wasserflasche unter den Tisch. Die Aufzählung seiner Literaturpreise wollte kein Ende nehmen. Er machte am Anfang noch einen leicht nervösen Eindruck, der mit den gelegentlichen Lachern aus dem Publikum schwand. Das anschließende Frage-und-Antwort-Spiel, das man inzwischen fast überall „Q&A“ nennt, wollte zunächst nicht in Gang kommen; überraschenderweise wurden die Hälfte der Fragen von Männern gestellt, die aber nur ein Zehntel des Publikums ausmachten. Das weibliche Publikum ist von Dankbarkeit für die Einsichten in die männliche Psyche erfüllt. Solch selbstreflexive, feinfühlige Beobachtungsgabe können sie zu Hause von ihren Ehemännern nicht abfragen. Außerdem hat Genazino in „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ zwar einen männlichen Ich-Erzähler, aber ein typisches Frauendilemma thematisiert: Die Unvereinbarkeit von Kind und Karriere. Kurz zuvor hatte er seinem Protagonisten Gerhard Warlich in den Mund gelegt, dass deren Vereinbarkeit „Propaganda der Frauenzeitschriften“ sei. Ein altbekannter Konflikt, aber Genazino ist er immer noch spannend genug. „Die Konflikte der Menschen gehören zu seiner Subjektivität“ sagte er, dies mache den Menschen aus; sie sollten „für Ihre Konflikte dankbar sein“.

Mit „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ verlies Genazino den Weg hin zur Groteske. In seinem zweitjüngsten Buch, „Mittelmäßiges Heimweh“ hatte er diese Richtung eingeschlagen. Darauf angesprochen meinte er, er wolle nichts recyceln, die Idee sei für ihn nun verbraucht. Manche Autoren, bei denen das kreative Potential zum Rinnsal geworden sei, würde dies tun; Namen wollte er keine nennen. Der Schriftsteller fühlte sich zunehmend wohler, je mehr Fragen aus dem Publikum gestellt wurden. Wilhelm Genazino ist kein Mann, der Zweifel daran hat, dass seine Themen belanglos sein könnten. Das Gespräch mit seinen vielen Leserinnen und seinen wenigen Lesern suchte er gerne.
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