Schlaflieder im Slum

Kurzprosa zum Thema Hunger

von  AvaLiam

Neu-Delhi im Lockdown.
Weinende Kinder.
Und ich lausche still den Müttern, die Einschlaflieder singen.
Ich, Zaid, 11 Jahre. Im Slum.
Nachbarn erzählen von einer schwierigen Zeit.

Wann war es leicht?
Als ich bettelte in Richtung der Straße, die aus den Slums führt?
Als der Dreck an den Händen nicht von kindlicher Neugier sprach, sondern von Arbeit und Gehorsam?

Der Yamuna hat meine Zukunft, meine Träume verwaschen und trug sie fort.
Wir sitzen zu fünft in 5x6 Meter aus Pappe und Lumpen.
Wir haben noch Platz.
Vor 10 Tagen saßen wir 6 hier noch zusammen und aßen Reis, den letzten.
Dann wurde es eine schwierige Zeit.

Niemand darf mehr das Haus verlassen, niemand auf die Straße, zur Arbeit.
An meinen Fingern klebt kein Blut mehr - nur der Schmutz von Hunger, der in den staubigen Tüten des Slums vergeblich nach Abfällen sucht.
Meine Mutter fleht den Himmel an und betet zu Kali, dass der Schlaf uns in seine Arme nähme. Ihre können uns nicht mehr halten.
Die Schalen sind leer.
Hoffnung mussten wir in der Fabrik abgeben. Viel haben die Bosse nicht zu verwalten.

Ja, eine schwierige Zeit.
Ein Nachbar liegt seit heute Morgen unter einem dünnen Tuch.
Niemand wird ihn hier holen.
ich spüre schon die fruchtlose Erde in meinen Händen.
Und die Frauen singen leise Lieder.

Am Abend irgendeines Tages in dieser schwierigen Zeit, deren Nächte ich kaum mehr wahrnehme, da sie für mich den Tagen gleichen, liege ich mit schwarzen Nägeln und dunklen Augen in 5x6 Meter. Ziemlich eng für 4 Leute.

Mutter singt mit ihrer dünnen Stimme für mich. Ihre Hand ist kalt und müde.
Sanft streicht sie mir übers Haar und ich lausche ihr...still.

Ich war Zaid, 11 Jahre, aus dem Slum von Neu-Delhi.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (31.05.20)
Hallo Ava,
wenn Zaid für diese äußerste Not nach Schuldigen suchen würde, ließe sie sich leichter kompensieren. So setzen sich die Bilder unabgeleitet beim Leser fest, Beeindruckt
Ekki

 AvaLiam meinte dazu am 31.05.20:
Geschätzter Ekki,

Zaid als Gesicht der Situation in den ärmsten Ländern.

Mir ist klar, dass keiner von uns die Welt retten kann.
Wenn es aber ein paar Menschen gibt, die sich einfühlen in ein Kind wie Zaid, dann ist ein großer Schritt getan und macht viele weitere möglich.

...wenn es auch nur das eigene Klagen ist, was zwischen den Zeilen und hinter den Bildern verstummt.


Danke für die Auf- und Annahme dieser dunklen Zeilen.
Liebe Grüße - Andrea
Sätzer (77)
(31.05.20)
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 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 31.05.20:
Nein, übel menschelnde, ultraschwülstige Pathos-Orgie.

 DanceWith1Life schrieb daraufhin am 31.05.20:
nicht halb so schwulstig wie dein Kommentar

Antwort geändert am 31.05.2020 um 22:22 Uhr

 Dieter_Rotmund äußerte darauf am 31.05.20:
Nun, zu solchn überbordend monströs anmutenden Texte kann man wohl naturgemäß nur monströse Anmerkungen schreiben.

 AvaLiam ergänzte dazu am 01.06.20:
@Sätzer

guten Morgen Uwe...
...ja, so sind momentan die Zustände in manchen Ecken der Slums derzeit leider und die Hilfsorganisationen kommen nicht hinterher, können nicht genügend Wasser bereitstellen und die Medien verzerren die Notwendigkeiten, wie sie momentan ZUSÄTZLICH bestehen... es bleibt die Wahl: Corona oder Verhungern...

@Dance ich finde da auch nicht viel "Schwulst" drin... es sind Fakten beschrieben mit der menschlichen Seite...
hätte ich pathetisch werden wollen, so hätte ich das Ganze ausgeweidet und mich in den Bildern und Wunden gesuhlt...So habe ich mich auf das Tatsächliche beschränkt... Aber wie so oft denke ich mir meinen Teil zu deinem vorherigen Kommentator... es ist die Mühe einfach nicht wert, darauf zu Antworten - weil es gar nicht ums Thema geht, auch wenn er selbst das immer wieder hervorkehren will... Man stelle sich das Leid der Welt geschrieben aus der Feder eines Sportredakteurs vor. Dann wäre er wohl zufrieden. Oder man verschweige es gar ganz. Ich bin froh, dass die lebendigen Bücher und Geschichten nicht von seiner Gunst leben müssen - wie leer und lau wäre die Literatur. Soviel dazu.

Ich wünsche euch einen sonnigen Tag und Freudestrahlen.
Liebe Grüße - Ava

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 28.07.20:
Danke.

 AchterZwerg (31.05.20)
Nicht umsonst ist in letzter Zeit öfter vom ""neuen Pathos die Rede. - In einer digitalisierten Welt scheint es vermehrt ein Bedürfnis danach zu geben ... für mich ist .das völlig in Ordnung, wenn es nicht für rechte Propaganda ausgeschlachtet wird.

Liebe Grüße
der8.

 AvaLiam meinte dazu am 01.06.20:
Guten Morgen...

...Man nähme der Welt mal für 1 Tag alle Leidenschaft...

Was wären die Stunden grau und langweilig. Ohne dunkel kein hell und kalt kein warm... Wir brauchen Kontraste und vor allem Emotionen. Manch einer scheint davon einfach zu wenig bekommen haben in seinem Leben. Und ich finde es gar nicht so pathetisch - es fasst zusammen - geschrieben aus menschlicher Hand... Pathos fängt für mich da an wo man sich in Gefühlen weidet, den Dolch Stück für Stück ins Herz stößt und jedes Stöhnen und Ächzen beschreibt - wo die Beschreibung des Ganzen am Ende mehr ist als der Moment selbst...

Und was du beschreibst - das Bedürfnis nach Emotionen und Leidenschaft - das ist so - ganz klar. Der Hunger nach Wärme, Berührung und Nähe, bewiesene Menschlich- und Herzlichkeiten.
Und um so mehr Menschen es wie den Pathos-ablehnenden Kommentator gibt, um so deutlicher und um so tiefgreifender müssen die pathetischen Worte gehen. Schließlich beweist er damit, wie sehr menschliche Worte gebraucht werden.

genieß die Sonne - lieber Achter - und mach dir einen schönen Tag

liebe Grüße - Ava
aliceandthebutterfly (36)
(01.06.20)
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 AvaLiam meinte dazu am 04.06.20:
Hallo Steffi,

eure Gedankengänge sind irgendwie auch die meinen... wie könnte man auch unliebsame Menschen, die dem Land nicht wirklich was bringen, unkomplizierter und "offizieller" loswerden?

Für mich war es wichtig, mich selbst und anderen Menschen, die dafür offen sind, daran zu erinnern, wie gut wir eigentlich leben dürfen.

Ich bin - trotz der Schwere deines Kommentares - erleichtert, dass es neben mir noch weitere Menschen gibt, die trotz der Entfernung zu diesem Elend die Realitäten an sich heran und sich berühren lassen.

Das gibt mir Hoffnung für diese Welt.

Danke für deine Worte.
Herzlich - Andrea

 TassoTuwas (02.06.20)
Liebe Ava,
ein Land das nicht von dieser Erde scheint, ein eigener Kontinent aus einer Zeit, die nicht unsere ist. Der Tourist steigt aus dem Bus, umgeben von Elend, und von einer Kinderschaar. Blickt in große braune Augen die vollerer Hoffnung sind.
Ab jetzt wirst du nie mehr der sein, als der du her gekommen bist.
Dankenswert wie du dem Unbeschreiblichen Wort gibst..
Herzliche Grüße
TT

 AvaLiam meinte dazu am 04.06.20:
Mein lieber Tasso,

ich hörte viele Reiseberichte aus meinem Bekanntenkreis. Freunde, Verwandte, Bekannte - alle erzählten sie von den bunten Farben, den lockenden Rhythmen, der Gastfreundlichkeit. Zwischen all den wunderschönen Beschreibungen diesen Landes klang etwas Beschwerliches mit. Diese Schrockenheit von Elend und die Normalität darin, diese Unvorstellbare Armut, Kinder, die mit Erreichen des 7. Lebensjahres in Fabriken arbeiten müssen - für die Schulden der Eltern und für ein bisschen Reis. Offiziell gilt ja das Alter von 12 soweit ich den Berichten über das Land entnommen habe. Aber auch 12 ist kein Alter für so eine Arbeit und seine Bedingungen.

Ja, da hatten wir doch mehr Glück. Und allzu oft vergessen wir das. Das ist auch gut - denn es zeigt, dass es uns gut geht.
Nur manchmal - da sollten wir uns daran erinnern.

Herzlich - Ava
Agnete (66)
(11.06.20)
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Al-Badri_Sigrun (61)
(14.06.20)
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 AvaLiam meinte dazu am 15.06.20:
Liebe Sigi,

erst kürzlich ist ein Bekannter von mir zurückgekehrt aus Indien. Er war dort im Zuge eines Projektes einer Hilfsorganisation. Die Beschreibungen, die Worte, die von seinen Lippen fielen, die gesprochenen Laute, sie sich brachen, die Augen und das Traurige und Schockierte darin - ich konnte gar nicht alles aufnehmen.
Meine eigene Schmerzgrenze der Erträglichkeit war überschritten, zu hören, wie es dort ausschaut und ich bin ziemlich hart gesotten in diesem Punkt. Nicht der Unmenschlichkeit wegen - sondern meiner eigenen Geschichte wegen, die mich Hunger und die Notwendigkeit ärztlicher Behandlungen, die aber nicht möglich sind, gelehrt hat.

So hat mich ausnahmsweise auch nicht der Vorwurf des Pathos verletzt. Ich schiebe es auf die Unfähigkeit und Überforderung, Mitgefühl zu zeigen und die Teilnahmslosigkeit an menschlichen Grundzügen. Er tut mir leid. Nach allen Kommentaren dieser Art, die ich nun las von ihm und der Beschäftigtigung mit diesem Menschen, bin ich zu dem Entschluss gekommen:
Er tut mir einfach NUR leid.
Denn was ihm fehlt an Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Anteilnahme - das fehlt ihm auch in Freude, Glück und Zufriedenheit. Ich bin mir sicher, dass Menschen im Slum trotz ihrer Situation ein glücklicheres Leben haben - so böse sich das auch lesen mag. Du weißt was und wie ich es meine - daher kann ich dir das so schreiben.
Er lebt in gewisser Weise in seinem eigenen, emotionalen Slum.
Nur dass dort keine Hilfsorganisationen vordringen.

Ich danke dir für deinen Blick auf Zaid und seine Geschichte und dass du sie in dein Herz gelassen hast.

Liebe Grüße - Deine Andrea

Antwort geändert am 15.06.2020 um 20:35 Uhr

 Solvy (18.05.22, 13:08)
Auch wenn ich als Neuling diesen Text erst jetzt lese, so beeindruckt er mich sehr. Auch wenn mittlerweile zwei Jahre vergangen sind und sich die Coronalage verändert hat, so konnte ich in dieser Zeit nie vergessen, was das alles in ärmeren Ländern, gerade für Slumbewohner bedeuten muss. Und dein Text bringt mein Mitgefühl hervor, eben weil du ohne Suche nach Schuldigen die Lage aus der Sicht des 11-jährigen Zaid beschreibst.
Ich empfinde den Text in keiner Weise pathetisch, sondern durch seinen fast schon nüchternen, Fakten beschreibenden Stil entfacht er seine Wirkung.
Zwar mit Trauer im Herzen sende ich dir dennoch liebe Grüße
Solvy
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