Kardamom

Erzählung zum Thema Schein und Sein

von  Quoth

„Wenn ich Durchfall hatte, gab Mutter mir Aplona, ein Apfelpulver. Das schmeckte so gut und ich war so ausgehungert, dass ich alle drei Tage Durchfall hatte!“ Ellinor war von ihrer Kindheitserinnerung gerührt. „Und erinnert ihr euch noch an Sepso? Ich hatte immer aufgeschürfte Knie, weil ich so viel rannte. Und auf die frische Schürfwunde kam Sepso, und das brannte höllisch, aber es lehrte mich, dass es Schmerzen gibt, die zu ertragen sinnvoll ist.“ Es entspann sich ein Gespräch über Medikamente und Kosmetika aus der Kindheit der Mädels.

Else lachte los bei der Erinnerung an das Birkin-Haarwasser, mit dem ihr Vater seine wachsende Glatze bekämpft hatte. An Uralt Lavendel mit der Postkutsche, das Lieblingsparfüm ihrer Mutter. „Du riechst nach Mottenpulver!“, hatte ihr Vater gesagt, wenn sie es trug. Und ihr fiel ein Satz ein, der auf jeder Nivea-Dose stand: Nivea enthält das hautverwandte Euzerit, und darauf beruht ihre Wirkung. „Auch was auf Brandt-Zwieback- und Köllnflockentüten stand, weiß ich heute noch!“, krähte sie. „Wollt Ihr es hören?“

„Bitte nicht!“ Hedwig winkte ab. „Findet ihr es nicht auch verdammt kalt hier? Ich bestelle mir noch einen heißen Kaffee.“

„Das Schild LUNDEN ist doch wieder angebracht.“ Ute hatte einen guten Draht zur Produktion von „Kornblumenblau“. „Es wird wieder gedreht, Massimo hat mir gesagt, heute sei eine action-Szene dran, es würde ein bisschen wild zugehen, er hätte zwei prima Statisten gewonnen, aber wir sollten uns nicht stören lassen, sondern nach ein paar Seitenblicken unser Gespräch ungerührt fortsetzen.“

„Stimmt genau,“ rief Massimo, der von ferne zugehört hatte. „Ute, ich mache dich zu meiner Assistentin!“ Massimo kam herbeigefedert und verteilte beige und braune Wolldecken. „Die Heizungspumpe tut‘s nicht, aber Max liebt solche Zufälle, und wir sind im Drehplan drei Tage zurück, wir können uns weitere Verzögerungen nicht leisten. Ihr seht prima aus in den Decken, das macht alles viel authentischer!“

Der Kaffee kam, er duftete köstlich nach Kardamom, und ein Teller Kunafa wurde von der hübschen Huda selbst auf den Tisch gestellt. Wer wollte denn noch Schwarzwälderkirsch haben, seit Huda ganz andere Gaumenwunder buk? Sogar Herta hatte sich zu Kunafa und Baklava bekehrt: „Die kann man ja auch genießen, ohne zum Islam überzutreten!“ Sie war stolz auf Huda, denn sie wohnte mit ihren Eltern und den Brüdern Mahdi und Abdul bei ihr und hatte von ihr die Wochentage, Monate, Zahlen und die Uhrzeit gelernt, denn die einzigen deutschen Worte, die die Familie kannte, als sie zu ihr kam, waren: Scheiße, kaputt, Arsch, verboten und ficken.

„Ich wollte dir noch mal danken, Ellinor,“ sagte Herta, während sie Huda nachsah, die sich auf unnachahmliche Weise anmutig bewegte in ihrem langen weißen Bäckerkittel. „Ohne deine Fürsprache hätte Frau Selbach sie bestimmt nicht eingestellt.“

„Else hat uns so viel aus Amman erzählt, dass ich dachte, ein bisschen frischer Wind aus dem Orient könne uns guttun. Ich hoffe, dass Hudas Brüder sich inzwischen damit abgefunden haben, dass ihre Schwester einen Job hat und sie immer noch nicht.“

„Davon profitieren sie ja auch, denn Huda gibt die Hälfte ihres Lohns zu Hause ab. Womit sie sich weniger gut abfinden, ist, dass Huda mit einem einheimischen Jungen geht -“

„- der zufällig mein Enkel Bernd ist,“ ergänzte Ellinor. „Ich habe ihn mir vorgeknöpft und ihm gesagt, dass er Huda in Gefahr bringt. Aber er sagt, das sei ihre Entscheidung, und Mahdi und Abdul seien keine Idioten. Er könne sich von Huda nicht trennen, er habe sich in sie verliebt.“

Inzwischen war es trotz kaputter Heizung im Café voll geworden, die Sänger eines Shantychors und eine Frauenturngruppe hatten sich eingefunden, alle wurden mit Decken ausgestattet, Massimo saß vereinzelt an einem Tisch und schaute minütlich auf seine Armbanduhr - er mimte einen ungeduldig wartenden Reisenden, stand aber per Handy mit Max Matzke in Kontakt. Und noch zwei weitere Gäste kamen herein. Die Mädels schenkten ihnen zunächst keine Aufmerksamkeit, denn sie waren mit dem Gedichtband beschäftigt, den Ellinor bei Books on Demand in Auftrag gegeben und mit dem Diamanten bezahlt hatte, der aus der Asche ihres Verehrers gepresst worden war. Endlich war das Büchlein herausgekommen, und Ellinor hatte ein Exemplar mitgebracht.

Die beiden jungen Männer trugen Hoodies und bestellten ausschließlich Kaffee. Herta hörte ihre Stimmen und drehte sich nach ihnen um. „Hallo Mahdi und Abdul, wollt ihr mal sehen, wo eure Schwester arbeitet?“ Sie sahen einander an und erwiderten nur „Hallo!“ In diesem Moment wurde auf der Estrade, wo die Kamera stand, eine Klappe geschlagen, Huda kam herein, einen Teller mit Apfelkuchen auf der Hand. Mahdi und Abdul sprangen auf, rissen Huda um, der Apfelkuchen lag vermischt mit den Scherben des Tellers am Boden, aber die Mädels beobachteten nur aus den Augenwinkeln, was vorging, und gaben den BoD-Band von einer zur anderen weiter, da hörte man wütend geschriene arabische Worte, zwei Schüsse fielen, die beiden jungen Männer überwanden den Widerstand von zwei Shantysängern, die sich ihnen entgegengeworfen hatten, und verschwanden.

„O mein Gott!“, schrie Herta, „das kann nicht wahr sein!“ Sie kniete neben der am Boden liegenden Huda und sah mit Entsetzen eine große Blutlache am Boden.

„That’s it!“ rief Max Matzke von der Estrade. Huda stand lächelnd auf.

„Da hast du uns aber einen ordentlichen Schreck eingejagt!“, schimpfte Hedwig. „Ce n’est pas rigolo!“ Das Filmblut und der Apfelkuchenmatsch wurden aufgewischt.

„Im ersten Moment habe ich das Blut für echt gehalten,“ sagte Herta. „Aber dann merkte ich, dass es nicht echt war.“

„Woran?“, wollte Ute wissen.

„In der Kälte hier hätte es gedampft.“



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Kommentare zu diesem Text


 AlmaMarieSchneider (15.01.22, 23:48)
Eine sehr lebendige Geschichte, die sich fortwährend steigert. Ein super Finale ist Dir zudem gelungen

Liebe Grüße
Alma Marie.

 Quoth meinte dazu am 16.01.22 um 11:29:
Ja, spannend zu schreiben macht Spaß, obgleich man als Autor ja unehrlich ist, denn man weiß ja von vornherein, wie es weitergeht und enden soll, verschweigt also ständig mehr, als man sagt. Spannungstechnik könnte man auch als Technik des Verschweigens bezeichnen! Vielen Dank für Empfehlung, Lieblingstext und Kommentar! Gruß Quoth
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