Blaupause

Roman zum Thema Angst

von  Mutter

Es dunkelt bereits, als wir am Wagen ankommen. Wir hatten uns von Alain verabschiedet, waren zurückgelaufen. Keine Ahnung, wie lange wir unterwegs waren – eine Stunde, anderthalb. Fühle mich vollkommen benommen, laufe ohne Orientierung und ohne Antrieb hinter Dirty her. Bin froh, dass er sich offenbar erinnert, weiß, wo wir hin müssen.
Er hat ein paarmal versucht, mich aufzumuntern. „Morgen findet sich was. Wir hören uns unter den Jungs noch mal um. Irgendwer weiß was – ganz bestimmt.“ Ich habe keine Kraft, ihm zu widersprechen. Glaube ihm kein Wort.
Tiger ist zu lange von hier weg, die Straße zu schnelllebig. Ein Wunder, dass sich überhaupt noch jemand an den kleinen Jungen von vor vier Jahren erinnert. Die Leben der Kinder hier kommen mir vor wie die Graffitis auf den Waggons – bevor man es sich versieht, hat jemand anderes über dich drübergesprüht. Ich frage mich, wie lange es wohl dauert, bis Tigers Werk verschwindet. Wären wir nächste Woche gekommen, bliebe vielleicht längst keine Spur mehr davon.
Aus zwanzig Meter Entfernung entriegelt Dirty den Clio. Gleichzeitig brummt mein Handy. Betäubt hole ich es raus, gehe ran. Schaue nicht nach, wer es ist.
„Luca hier.“
Ich höre Dirty fluchen, sich zum Wagen runterbeugen. Er gestikuliert, spuckt aus. Im Hintergrund, jenseits der Freifläche, die an den Parkplatz angrenzt, hockt eine Gruppe Jugendlicher auf einer Bank.
„Hey Luca, ich bin’s – Frank. Wo bist du?“
Ich erkläre ihm, dass Dirty und ich uns in Frankreich rumtreiben. Urlaub im Banlieue.
„Ich glaube, du solltest so schnell wie möglich zurückkommen.“
Dirty fährt mit der rechten Hand am Auto entlang, als würde er die Flanke eines Pferdes streicheln. Sein Fluchen wird lauter. Ich drehe mich weg, gehe ein paar Schritte weiter.
„Was ist los?“
„Es hat einen weiteren Mord gegeben.“
Ich kann meinen eigenen Atem im Hörer hören. Betrachte geistesabwesend die Betontürme, die mich wachsam und boshaft zu beobachten scheinen. Die Jungs auf der Bank beobachten uns, einer von ihnen winkt.
„Luca? Bist du noch da?“
„Was ist passiert?“ Meine Stimme klingt seltsam gepresst.
„Noch eine Tote, gleiches Muster. Ist offenbar gestern Nacht passiert.“
Muster – Luisa war die Vorlage, die Blaupause. Die latente Übelkeit wird zu einem echten Brechreiz. „Wir kommen“, sage ich noch in den Hörer, drücke Frank dann weg.
Wie betrunken gehe ich auf Dirty und das Auto zu. Einer der Jugendlichen macht ein paar Schritte in unsere Richtung, zeigt uns den Stinkefinger.
„Die Wichser haben mir den Lack zerkratzt! Diese dreimal verdammten Arschlöcher. Hurenböcke!“
„Frank hat angerufen.“
„Mia-Mäuschen? Was wollte er?“ Er betrachtet immer noch gebeugt den Lack, deutet auf die Beifahrertür. „Siehst du diese Scheiße? Ich fasse es nicht. Das sind so armselige Pissberger.“ Plötzlich schreit er erstickt auf. Deutet wortlos nach vorne. Rechts fehlt der Außenspiegel. Abgerissen, abgetreten – jedenfalls hat dort jemand eine Menge physischer Gewalt angewendet. Fassungslos steht er vor der Ruine aus Plastik und Drähten.
„Es hat eine weitere Tote gegeben. Einen weiteren Mord.“
Dirty reagiert nicht, wahrscheinlich weil meine betäubte Stimme kaum zu ihm durchdringt. Ich überlege gerade, ob ich ihn anschreien muss, als sein Kopf zu mir herumzuckt. „Was sagst du? Noch ein Mord?“
Ich nicke stumm.
„Scheiße.“ Hilflos macht er einen Schritt auf mich zu. „Tiger?“
„Was weiß ich. Sie haben noch niemanden. Es ist gestern erst passiert.“ Nach einer Pause fahre ich fort: „Wir müssen zurück.“
Dirty nickt, wirft einen schnellen Blick auf den fehlenden Außenspiegel. „Okay.“
„Heute Nacht. Jetzt gleich – ich will sofort los.“
„Spinnst du?“ Er schüttelt den Kopf. „Wir fahren morgen früh los. Nicht jetzt.“
Ohne zu diskutieren gehe ich an ihm vorbei, mache die Autotür auf. Er muss ihr ausweichen, geht zur Seite. „Luca, wir …“
„Jetzt, Dirty.“ Die Autotür klackt neben mir wie ein finales Basta zu. Einen Augenblick steht er noch, geht dann entschieden um den Wagen rum. Als er sich neben mir in den Schalensitz wirft, will er anfangen zu diskutieren.
Ich hebe nur die Hand und sage müde: „Heute Nacht, Dirty. Oder fahr mich zum Bahnhof, dann versuche ich es mit dem Zug. Ich muss zurück.“
Mit einem leisen Fluch lässt er den Motor an. „Scheiße. Aber ich fahre nicht die ganze Strecke“, stellt er mit zusammengebissenen Zähnen fest, während er zurücksetzt.
Der Jugendliche, der sich von der Gruppe gelöst hat, hält irgendwas hoch. Während Dirty mit fliegendem Rollsplitt vom Parkplatz fetzt, sehe ich über die Schulter zu dem Jungen hin. Erkenne, dass das, was er dort in der Hand hält, ein Außenspiegel sein könnte.
Dirty gibt Gas, während ich wortlos durch die Frontscheibe starre.

Im Flur begegnet uns Madame Chevalier. Dirty begrüßt sie mit einem Schmatzer auf den Mund, mich mit einem freundlichen Lächeln. Dirtys Hundeblick, der darauf folgt, ignoriere ich, gehe die Teppe hoch.
Ich stopfe bereits Sachen in meine Tasche, als er hinter mir das Zimmer betritt. „Wir könnten schon ganz früh los. Im Morgengrauen, quasi.“
„Damit du noch eine Nummer schieben kannst?“ Ich schnaube.
„Wir wären auch fitter. Nachts fahren ist nicht ungefährlich …“
Rasch richte ich mich auf, mache schnell die paar Schritte zu ihm rüber, bis sich unsere Gesichter fast berühren. „Hör auf, mit deinem beschissenen Schwanz zu denken. Wer auch immer es war – hat eine weitere Frau aufgeschlitzt. Geschlachtet. Wie Luisa. Das geht immer weiter, hörst du? Und wir haben keine Ahnung, ob es Tiger ist. Raffst du nicht, dass ich nicht hierbleiben kann? Damit du mit einer Frau, die deine Mutter sein könnte, noch ‘ne Runde vögeln kannst? Du bist ein selten dämlicher Arsch, Dirty.“ Meine Stimme zittert und ich merke, dass mir die Tränen in den Augen stehen. Es tut mir weh, so über Luisa zu reden. Aber meine Verzweiflung und mein Zorn brechen hervor, befreit durch Dirtys Egoismus.
Stumm sieht er mich an, nickt. „Es tut mir leid. Du hast recht. Lass uns los, auf die Straße.“
Kurz darauf stehen wir erneut unten im Flur, verabschieden uns von unserer Wirtin. Ich drücke ihr Geld in die Hand. Sie bedankt sich mit einem Lächeln, erwidert etwas zu Dirty. Er grinst. Dann kommt sie zu mir, streichelt mir kurz die Wange. Umarmt mich, während ich Dirty etwas hilflos ansehe.
Ihn umarmt sie deutlich länger, streichelt kurz über seinen Hintern – ich sehe verlegen weg.
Kurz darauf tragen wir die Taschen zum Auto. Während wir uns anschnallen, frage ich Dirty: „Was hat sie gesagt? Gerade eben?“
Er grinst und setzt zurück. Während er den Wagen durch die Hofausfahrt auf die Straße lenkt, erklärt er: „Sie hat vorgeschlagen, dass wir nächstes Mal beide kein Zimmer brauchen.“
„Was?“
Er sieht zu mir rüber, zwinkert. „Ich glaube, du verstehst schon. Das falls wir nochmal kommen, sollen wir beide bei ihr schlafen. Sie hat gemeint, ihr Bett sei groß genug für uns beide.“
Fassungslos starre ich aus dem Fenster, die Hand an der Stirn. Sehe zu ihm rüber. Lache mit ihm mit und antworte: „Jedenfalls weißt du, wo du hinkannst, falls es dir an der Spree jemals zu langweilig werden sollte.“
Enthusiastisch nickt er. „Auf jeden, Alter. Auf jeden.“

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (11.06.10)
Ich wollte dir nur mal mitteilen, dass ich immer noch dran bin.
Unsd zwar gerne.

Liebe Grüße,

Sabine

 Mutter meinte dazu am 11.06.10:
Das freut mich wirklich sehr.
Schön. :)
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