DIE WARTESCHLANGE

Erzählung zum Thema Aktuelles

von  Klattke

Klattke ging wieder einmal durch Berlin spazieren. Hier und dort fand er eine leere Pfandflasche, die er aufhob, um sein kärgliches Hartz IV aufzubessern. Da sah er von weitem eine lange Reihe anstehender Menschen. Neugierig überlegte er sich, wo diese wohl hinführte. "Ma kiekn", sagte er zu sich selbst, "wat hier so los iss. Villeicht jibt et wat umsonst, villeicht iss ooch der reale Sozialismus ausjebrochen und dit hier iss eene typische Warteschlange!"

So stellte er sich an und berührte leicht die vor ihm stehende junge Frau an der Schulter, um sie zu fragen, worauf die Leute hier warteten. Doch die tippte in ihr iPhone und ließ sich nicht stören. Trotzdem reihte er sich ein, schließlich hatte er Zeit und war gespannt, was am Ende wohl wäre. Hin und wieder kamen ihm kopfschüttelnde oder schimpfende Menschen entgegen. Ein älteres Ehepaar raunzte sich gegenseitig an, und die beiden warfen sich gegenseitig Vorwürfe an den Kopf. Eine Dame mit einem Rollator schimpfte: "Dit iss ja wie 45!"

Klattke wollte schon abdrehen, denn offensichtlich gab es hier nichts umsonst, dafür schienen ihn die Leute zu schlecht gelaunt zu sein. Doch die Neugierde überwog schließlich, und er dachte bei sich: "Schaden kann’s ja nich, da kiek ick mal, wat et hier wieda zu wundern jibt". So rückte er langsam vor. Die junge Frau vor ihm spielte weiter fleißig an ihrem iPhone, ein Mann hinter ihm sprach aufgeregt in sein Handy und trug wohl gerade Beziehungsprobleme mit seiner Freundin aus. Es fing ein leichter Nieselregen an, aber glücklicherweise war die Warteschlange so weit vorgerückt, dass Klattke das Haus erreichte, wo sie hinführte.

Der Flur in dem Haus roch muffig und nach Schweiß. Eine Sicherheitsfachkraft lief mit strengem Blick auf und ab. Sie forderte den jungen Mann auf, mit dem Telefonieren aufzuhören. Wortlos deutete sie auf ein Verbotsschild an der Wand. Der Mann schaute genervt und mit aggressiven Blick die Sicherheitsfachkraft an. Doch er gehorchte und schaltete sein Handy ab. Immer wieder kamen schimpfende und kopfschüttelnde Menschen Klattke entgegen.

Schließlich, es mochte wohl eine halbe bis dreiviertel Stunde vergangen sein, kam er zu einer gelben Linie. Dahinter ein Schalter, vor dem eine Dame stand. Aus Versehen ging Klattke einen Schritt über die gelbe Linie und wurde gleich von der Dame hinter dem Tresen zurechtgewiesen: "DISKRETION! Hinter der Linie bleiben!" "Na na!" gab dieser zurück, "Werdn se mal nich jleich komisch, nur weil ick hier nen Schrittchen zuville jemacht habe!" Mit gestellter Höflichkeit wiederholte die Dame ihre Aufforderung nun als Bitte: "Ich ersuche Sie vielmals, hinter der Begrenzung zu bleiben". Dabei lächelte sie mit ebenso aufgesetzter Freundlichkeit. Klattke trat also hinter die Linie zurück. Wo war er hier nur? Unwillkürlich musste er an die Passierscheinstellen denken, die es früher in Westberlin gab. Dort war er häufiger mit seiner Mutter hingegangen, wenn sie in den Ostteil der Stadt fahren wollten, um seinen Großvater zu besuchen und die Einreise beantragen wollten. Die Passierscheinstellen wurden natürlich von der DDR betrieben. Die Schlangen waren genauso lang, es gab genug Linien, die man nicht überschreiten durfte, und das Personal schwankte ebenso wie die Dame hinter dem Tresen zwischen Befehl und gestellter Freundlichkeit. Er glaubte tatsächlich schon, dass er vielleicht die Dimension gewechselt hatte und durch einen Riss im Raum in eine Welt des real existierenden Sozialismus geraten war.

Die Aufforderung der Tresenkraft, vorzutreten, katapultierte ihn wieder in die Wirklichkeit. "Juten Tach ooch, wo bin ick hier eijentlich", fragte er mit treuen Blick. "WIE BITTE?" fragte die Dame mit leicht geröteten Kopf und stand kurz vor der Explosion. "Na ja, ick sah die lange Schlange, und da dachte ick, da musste mal kiekn, wat hier so los ist, wo lange Schlangen stehen, jibt et wat kostenlos, oda et iss Sozialismus, oda jibt et hier villeicht den Sozialismus umsonst?" Die Dame schnappte nach Luft. Doch dann fasste sie sich und klärte Klattke tatsächlich auf: " Guter Mann, wir sind HIER nicht im Sozialismus, und HIER gibt es schon gar nichts umsonst. HIER ist die Dienstleistungsgesellschaft, HIER ist ein Standort des Berliner Bürgeramtes.

Bei uns kriegen sie Ausweise, Meldebescheinigungen und jede Menge weitere Dienstleistungen. Was brauchen Sie denn?" Klattke war zunächst verdutzt und sagte spontan. "ACH NEE, dit hier iss een Dienstleistungsuntanehmen…" dann brach er lieber ab, denn die Dame blickte ihn zornig an. "Wenn Blicke töten könnten und die ne Wumme untam Tresen hat" sagte er zu sich selbst." Spontan fiel ihm ein, dass sein Personalausweis bald ablief, und so wollte er bei der Dame einen bestellen. "Ick hab ooch een Passfoto dabei." Während er nach dem Foto kramte, klärte ihn die Mitarbeiterin mit leisem Lächeln und gekünsteltem Berliner Dialekt auf: "Juta Mann, für solche Dienstleistungen brauchen Sie HIER eenen Termin, Sie können ihn ooch im Internet buchen." " Klattke sagte verärgert: "Nee, jetz bin ick ja schon mal da, da können Se mir den Termin ooch jleich jeben. Denn hab ick wenigstens wat von der Warterei!"

"Nu gut, die ersten Termine gibt es in acht Wochen. Wie wäre es mit Dienstag, den 17ten im übernächsten Monat? Ach übrigens, das Foto, dass Sie da in der Hand halten, geht nicht. Da lachen Sie ja drauf, das ist gegen die Vorschrift!" "Ach wat, jejen die Vorschrift, acht Wochen Wartezeit, der Flur riecht nach Schweiß, wo bin ick hier eijentlich jelandet?" rief Klattke mit erhobener Stimme. Die Dame hinter dem Tresen erwiderte mit einer Drohung: "Wenn Sie HIER jetzt laut werden, rufe ich die Sicherheitsfachkraft und lasse Sie HIER entfernen! "NA NA, HIER wird aba scharf jeschossen, jehört dit HIER ooch zu den Dienstleistungen, Leute abzuführen, wenn se uffmucken?" fragte Klattke und sah die Dame verdutzt an. Diese schaltete einen Gang zurück und fragte Klattke noch einmal ganz ruhig: "Wie schaut es nun aus mit Dienstag, den 17ten im übernächsten Monat, wollen Sie den Termin oder nicht?" "Muss ick ja wohl nehmen, und nach der Warterei jeh ick ooch jleich zum Automaten, weil dit Lachen iss mir hier eh jründlich vajangen. Dit jibt een schönet Ausweisfoto!" Die Dame begann schon wieder zu brodeln, und Klattke sah zu, dass er den Raum verließ. Auf dem Flur wurde er von der Sicherheitsfachkraft wortlos von oben bis unten gemustert. Wieder dachte Klattke an die Passierscheinstelle.
Er wunderte sich mal wieder: "Wie sehr sich realer Sozialismus und Dienstleistungsgesellschaft doch ähneln…!"

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Kommentare zu diesem Text

David_Sternmann (34)
(23.09.16)
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