Rasiersitz

Gleichnis

von  PeterSorry

Gruber kam gerade von seiner büroeigenen Toilette und beroch seine nach parfümierter Seife riechenden Fingerspitzen, als die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch summte.
„Was gibt es, Frau Karma?“  Seine Sekretärin hieß eigentlich Carmen Wondraschek, aber es fühlte sich gut an für Gruber, den Namen der Vorzimmerdame gewissen Variationen zu unterziehen in der Monotonie des alltäglichen Miteinanders. An ihrem kurzen Zögern merkte er sofort, dass sie in Gegenwart einer anderen Person sprach.
„Dr. Gruber, hier ist ein Herr von irgendeiner Drehbuchabteilung, der sich leider nicht vertrösten lässt. Er bittet um einen zeitnahen Termin bei Ihnen, gewissermaßen sofort.“
Gruber sog Luft durch das Ensemble seiner Jacketkronen und setzte zu einer ablehnenden Zurechtweisung an, als die Tür aufsprang und jemand sagte: „Lassen Sie nur, ich verantworte das schon, Senorita…“
„Sorry“, hörte Gruber über die Sprechanlage, da drang bereits ein linkisch lächelnder Kerl auf ihn ein und ergriff die Hand, mit der sich Gruber erst vorhin den Arsch gewischt hatte.

„Sie müssen Dr. Gruber sein und ich bin dankbar, dass Sie etwas von ihrer kostbaren Zeit für mich erübrigen“, sagte der dreiste Bursche und drückte mit dem Absatz die Tür ins Schloß.
„Wer sind Sie und was wollen Sie von mir?“ erwiderte Gruber und näherte sich der Schublade mit dem Pfefferspray.
Der Eindringling stutzte. „Sie sind doch Dr. Gruber von der Landesfilmförderung?
Ich bin Peter Sorry von der Kolb Artist Community Köln, Kurzform KACK. Und glauben Sie mir, Mann, ich weiß Ihren verantwortungsvollen Job hier zu schätzen.“
„Ach wirklich?“
„O ja, Carmen hat mir so einiges erzählt. Dass es von Ihrer Expertise abhängt, welches  Filmprojekt dem Ausschuss vorgelegt wird und welches nicht. In welchem Maße die Kulturlandschaft von Ihren Entscheidungen abhängig ist.“
„Von welcher Abteilung, sagten Sie, würden Sie kommen?“
„Öffnen Sie Ihren Geist, verehrter Dr. Gruber, und legen Sie das Asthmaspray zur Seite. Ich werde Ihnen ein meisterhaftes Drehbuchstöffchen präsentieren, mit dem werden Sie Filmförderungsgeschichte schreiben.“
„Also schön, Herr Porree, überlassen Sie Ihr Drehbuch meiner Vorzimmerdame und wir melden uns dann bei Ihnen…“
Zu Grubers Verdruss fläzte sich der Kerl in den Besuchersessel. „Drehbuch?“ echote er und tippte sich vielsagend gegen die Stirn. „Alles hier drin, Herr Doktor.“
„Es existiert also kein Drehbuch?“
„O doch, ich könnte es Ihrer Sekretärin herunterdiktieren. Aber hören Sie sich meine schlicht geniale Idee zunächst einfach mal an.“

Gruber sah auf die Uhr. „Ich erwarte jemand von einer wichtigen Produktionsfirma. Na schön, Sie haben 5 Minuten. Und dann verlassen Sie mein Büro, sonst rufe ich den Sicherheitsdienst..“

„Kein Problem, Dr. Gruber. Nehmen Sie Platz. Das Herumstehen macht Sie nur nervös.“
Gruber nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und hörte den Besucher erleichtert durchatmen. Der Kerl wog sein Opfer in Sicherheit und legte los wie ein Bibelverkäufer.

„All der Irrsinn in der Welt, all die Entfremdung – was gerät da wieder in den Fokus menschlicher Sehnsucht? Richtig, die Familie. Stellen Sie sich einen erfolgreichen, betrügerischen Autoverkäufer vor. So vom Typ Tom Cruise. Obwohl, der ist ist zu alt. Nehmen wir Shia LaBeouf. Nach einem Streit hat er seit Jahren nichts mehr von seinem Vater gehört, und jetzt ist er tot. Nicht der Autoverkäufer, sondern sein Papa, ein stinkreicher Sack. Seinem Sohn vererbt er ´n altes Auto, aber das Millionenvermögen geht an ein Heim für Behinderte irgendwo in Iowa oder Rumänien, das entscheidet das Budget, mein lieber Dr. Gruber. Unser Mann ist natürlich sauer und will wissen, warum nicht er das Vermögen kassiert, sondern diese furzbrave Behindertenstiftung. Er fliegt also hin, nicht wahr.  Und wissen Sie was, Menschenskind? Nach einigem Hickhack lernt er dort seinen unbekannten Bruder kennen, einen Autisten, den die Familie vor Jahren entsorgt hat. Verstehen Sie, der eine ist Autohändler, der andere Autist, das ist sehr familiär.  Der Autist, ein realitätsferner Nasenbär, verfügt über enorme Erinnerungsfähigkeiten, sozusagen eine wandelnde Statistik. Das macht ihn den normalen Irren gegenüber wieder gleichwertig. Gigantisch, Dr. Gruber, nicht wahr?

Jedenfalls reist der geldgeile Bruder mit dem Autisten durch die Lande, um ihm die Millionen abzuschwatzen.  Seine hochmoralische italienische Freundin soll dabei behilflich sein. 
Ein emotionaler Höhepunkt ist dabei der Versuch des Erbschleichers, den so genial behinderten Nasenbär in ein Flugzeug zu schaffen, weil die Autopista zwischen Nordrhein-Westfalen und sagen wir mal Bukarest so lang ist. Aber der Autist zitiert sämtliche Flugzeugabstürze und schiebt Panik, so dass die beiden Pappnasen auf der
langen Autofahrt heimwärts ihre Familienbande wiederentdecken.
Sie beschließen, gemeinsam mit ihrer Freundin durchzubrennen und nutzen Nasenbärs fotografisches Gedächtnis, um ein Spielcasino abzuräumen. Zwischendurch kommt es noch zu einem Tänzchen zwischen Nasenbär und der italienischen Freundin, da steckt jede Menge Gefühl drin, mein lieber Gruber, das wär sogar was für den amerikanischen Markt. Behindertengerechtes Road Movie trifft auf Heimatfilm mit Happy End-Garantie.
Autisten aller Länder vereinigt euch. Das Produktplacement verdealen wir an BMW oder Mercedes. Oder wir nehmen den roten Thunderbird aus der Kolbhallenhalle. Das Einzige, was zum Produktionsstart noch fehlt, liegt in Ihren erfahrenen Händen, Doc.“

„Also Herr Sorry“, winkte Gruber ab und entnahm dem oberen Schubfach sorgsam eine Büroklammer, die er seit zwei Jahrzehnten für leichte Fingerübungen aufbewahrte.

„Ihr Engagement in allen Ehren und obschon Sie sich mit der Skizzierung gewisser Ideen sicherlich Mühe gegeben haben; ich komme leider nicht umhin, die Schwächen Ihres ungeschriebenen Skripts zu bemängeln. Es ist kaum anzunehmen, dass sich das Publikum für eine solch hanebüchene Geschichte interessieren dürfte.“

Er bemerkte, wie der ungebetene Besucher enttäuscht auf seinem Sessel einsank und unterdrückte mühelos ein Lächeln. Wie viele Narren waren hier schon erschienen und hatten versucht, die Welt zu ändern.


„Sei´s drum“, bemerkte Sorry, lehnte sich zurück und schlug ein Bein übers andere.
„Ich habe auch nicht geglaubt, auf Anhieb bei Ihnen durchzukommen.  Deshalb habe ich noch eine Alternative, die müssen Sie sich anhören.“
„Ausgeschlossen, Herr Sorry. Zeit ist Geld.“
„Sechzig Sekunden. Dann werfen Sie mich raus.“
„Also gut. Die Zeit läuft.“

„Ich sehe - einen Modefotograf im Swinging London der 60er Jahre. Inszeniert ohne Computertechnik, sogar Schwarzweiß. Der Aufbruchsstimmung seiner Zeit entsprechend ist es ein künstlerischer Junge vom Typ Gunter Sachs mit sozialem Touch. Im Park beobachtet er ein Pärchen, junge hübsche Frau mit älterem Herrn und fotografiert die Szene. Später sucht die Frau den Fotofritzen in seinem Atelier auf und verlangt die Herausgabe des belichteten Films. Dieser rückt den vermeintlichen Film raus, tatsächlich aber entwickelt er ihn nach dem Abgang der Tusse und vergrößert die Fotos aus dem Park.
Auf den Vergrößerungen glaubt er , einen Mord entdeckt zu haben: der Lauf eines Schalldämpfers, die Leiche des Liebhabers, und er vergrößert sämtliche Details, um sich in einem Labyrinth mysteriöser Wahrnehmungen zu verlieren. Zwischendurch spicken wir den Film noch mit einer Fülle von Zitaten aus den Roaring Sixties, lassen den Fotofuzzi im Studio mit zwei Hippiemädchen Liebe machen und bringen das grotesk-kafkaeske in der Schlußeinstellung auf den Punkt, wenn unser britischer Playboy auf einem Tennisplatz den Aufschlag nicht existenter Tennisbälle zu hören vermeint.“

„Nicht existente Tennisbälle“, wiederholte Gruber. „Dafür brauchen Sie doch kein Geld von der Filmförderung, oder?“

„Man kann nie wissen“, erwiderte Sorry. „Aber wenn Sie ganz sicher gehen wollen, dass Ihr Geld irgendwo versickert, habe ich eine todsichere Anlage für Sie:
Wir gehen mit der Filmcrew nach Amerika! An die Westküste. Ein malerisches Fischerdorf lebt vom Tourismus. Wir haben einen schießwütigen Polizeichef samt unterdrückter Familie, einen ignoranten Bürgermeister, für den die mafiöse Geschäftswelt Vorrang hat sowie ein paar Schwimmvorfälle mit unvorsichtigen Amis, insbesondere verwöhnte Teenie-Gören, die sich einen Spass daraus machen, durch Wassertreten, laute Musik und schrille Schreie einen an sich harmlosen Haifisch aufzuschrecken, der jedesmal aus Gram und purer Verzweiflung zubeisst, um auf seine Misere hinzuweisen. Schließlich mieten die Land-Ungeheuer sogar noch eine Greenpeacetype und einen Haifänger samt Boot, um dem Hai nachzustellen. Das wird übrigens nicht billig, für den Hai brauchen wir eine ausgewachsene Attrappe.
Die Kerle brüsten sich mit ihren Seeabenteuern und schießen heimtückisch mit leeren Fässchen vertäute Harpunen in den Hai. Dieser rächt sich jedoch, ramponiert Boot und Mannschaft und reißt alle ins Verderben…“

„Zu deprimierend“, unterbrach Grube kopfschüttelnd.

„Also schön, Kompromiss!“ rief Sorry. „Weil Sie es sind. Im Angesicht des Todes schiebt der Polizeichef dem Hai eine Sauerstofflasche ins Maul und ballert mit ner Pumpgun drauf. Die Explosion wird das Publikum schockieren, aber Sie sind der Boss. Der Bulle und der Greenpeace-Typ überleben meinetwegen, dafür fährt allerdings der Haifänger zur Hölle.“
„Das Thema scheint Ihnen am Herzen zu liegen“, bemerkte Grube.
„Ich war schon immer gern high“, grinste Sorry und entblößte eine Reihe unregelmäßiger Zähne. Grube schnickte die Büroklammer zurück in die Lade.

„Nichtsdestotrotz fehlt Ihrem Plot das Grauen, was den schreckfreudigen Kinogänger gruseln läßt.“

„Soso“, gab Sorry von sich. Unter Grubes triumphierendem Blick warf er einen beleidigten Blick auf seine Fingernägel und schöpfte Atem. „Wenn Sie ein Freund des gesteigerten Grauens sind, habe ich was für Sie.“

„In Schwarzweiß?“

„Nee, in Color. Ein Ehepaar fährt mit seinem Sohn durch die herbstliche Bergwelt Colorados. Der Mann wirkt etwas durchgeknallt, zumindest wenn er grinst. Ein versoffener Ex-Lehrer. Seine Alte ist ein neurotisches Hippiegirl mit Röhrenblick.
Der sechsjährige Sohn ist normal bis auf eine harmlose Marotte. Er spricht mit seinem Zeigefinger. Das Trio übernimmt den Hausmeisterjob in einem weitläufigen Hotelkasten während der Winterpause.“
„Doch nicht in den Alpen?“
„Nee, wie gesagt in Colorado.  Das fliehende Hotelpersonal weist die Ankömmlinge noch in die Gegebenheiten ein. Zeigt ihnen die gefüllten Speisekammern, Kühlschränke usf.
Kaum ist die Bude sturmreif, kann sich der Ehemann seinen schriftstellerischen Neigungen widmen. Er hämmert bei zunehmend schlechter Laune unentwegt auf seine Schreibmaschine ein, während die dürre Hippietante seinen Hausmeisterjob macht und der Junge auf dem Dreirad durch die leeren Gänge fährt. Das alles im Stil der beknackten Siebzigerjahre, Gruber.  Dazwischen gibt’s jede Menge Visionen von gemetzelten Geschwistern, einem eingebildeten Barkeeper und anderen Schreckgestalten, die in der zugeschneiten Einöde für Abwechslung sorgen.  Außerdem schwebt mir dabei eine sich wiederholende Szene vor, in der hektoliterweise Blut aus einem Hotelfahrstuhl spritzt.
Und wie bereits angedeutet, dreht der Lehrer über den Anschlag durch und wirft mit Tennisbällen um sich. Jawohl, mit Tennisbällen. Er titscht sie nach Herzenslust an die Wände der leeren Hallen. Tock-Tock. Hier ein Tick und da ein Tock. Als er mal auf dem Klo ist, blättert die Ehefrau in seinem Manuskript, und sie ist nicht sonderlich  begeistert, weil er Hunderte von Seiten lang  immer nur denselben faszinierenden Satz getippt hat: “All work and no play makes Jack a dull boy”.  Daraufhin bewaffnet sie sich mit einem Baseballschläger und entdeckt ihre nihilistische Seite. Auch der Junge ist nicht mehr der Alte und sieht Gespenster. Seine abgedrehten Eltern haben allerdings ein ausgewachsenes Eheproblem. Die hysterische Frau versteckt sich nachts mit Söhnlein im Bad, worin sich der irre Tennistitscher mit einem Beil Einlass zu verschaffen sucht. Als er bereits mordlustig durch den Spalt linst, rutscht Sohnemann durchs Fenster. Zwischendurch wird der zu früh aus dem Urlaub gekehrte Küchenchef, der nach dem Rechten sehen will, von unserem Jack gemeuchelt. Dadurch erhält die Ehefrau eine Chance zur Flucht. Mittlerweile ist es Sohnemann gelungen, den verwirrten Daddy in den zugeschneiten Irrgarten vor den Hotelapparat zu locken. Während Hippiemom und Muttersohn mit einer Schneeraupe die nächtliche Flucht gelingt, friert dem verhinderten Schriftsteller im Irrgarten der Arsch ab, kurzum: er wird zur Eisskulptur. Breites Finale mit nachhallender Gänsehaut. Was sagen Sie nun, alter Schwede?“

„Unlogischer Schwachsinn“, zischte Gruber spöttisch. „Damit holen Sie nichtmal die Produktionskosten fürs Catering wieder rein. Wer hat Sie eigentlich dazu ermuntert, sich als Drehbuchautor auszugeben?“
„Nun, ein Engel erschien mir im Traum“, behauptete Sorry.
Gruber räusperte sich. „Ich finde, Sie haben die Situation jetzt schon reichlich ausgenutzt, Herr Sorry. Wir haben hier Wichtigeres zu tun, als uns mit Ihren unausgereiften Flopvorschlägen auseinanderzusetzen.“

„Aber eine Idee müssen Sie noch hören, Dr. Gruber. Danach können Sie mich erschießen.
Also ein hochgewachsener Fremder mit Hut und Armeemantel stiefelt verloren durch eine Schlammlandschaft, vermutlich irgendwo im mexikanischen Grenzgebiet. Im Schlepptau hat er eine dreckverschmierte Holzkiste. Nachdem er eine Mexikanerin vor zwei Banden gerettet hat, gelangt er mit ihr in ein abgefacktes Kaff, um dass es sich absolut nicht zu kämpfen lohnt. Es gibt nicht mal Straßen, nur meterhoch Schlamm. Und einen Saloon mit fetten alten Nutten. Wegen der Gärprozesse im Saloon ist Rauchen auf eigene Gefahr.  Hier also provoziert der wortkarge Fremde die herrschende Rassistengang, bis ihr faschistoider Anführer mit sämtlichen rot behalstuchten Bandenmitgliedern in die Stadt einreitet. Im letzten, ausweglos erscheinenden Moment öffnet der Fremde den Sarg, holt ein Maschinengewehr raus und legt alle Faschos um – außer dem Anführer natürlich. Na, wie schmeckt Ihnen das, Doc?“
„Überhaupt nicht“, winkte Gruber ab. „Westernfilme sind out, solange die Hauptrolle nicht von Schwulen oder Frauen besetzt wird.“

„Also gut, wenn Sie auf starke Frauen fixiert sind. Aufblende. Wir sehen eine taffe aber unglückliche Tippse in den besten Jahren. Sie arbeitet für einen Makler und unterschlägt 40.000,- Dollar. Damit will sie sich zu ihrem Freund absetzen, der am anderen Arsch der Welt wohnt. Sie hat also eine längere Autofahrt vor sich, auf der sie von Gewissensbissen geplagt wird. Wir zeigen ihr Gesicht, ihre zunehmende Nervosität, während aus dem Off der Chef, die Arbeitskollegin usw. zu hören sind, die sich über ihr Verschwinden wundern. Unterwegs macht sie sich gegenüber einem Highwaybullen und einem Autoverkäufer verdächtig, so dass man sich fragt, wann sie die erste Rohypnol einwirft. Aber stattdessen kommt sie bei strömendem Regen von der Straße ab und zu einem Motel, das von einem jungen, sympathischen Neurotiker betrieben wird, der dort unter der Fuchtel seiner streitsüchtigen Mutter lebt. Die Mutter macht sich nur akustisch bemerkbar bzw. durch ihren Schatten am Fenster des auf einem Hügel oberhalb des Motels stehenden schaurigen Wohnhauses im postproletarisch-viktorianischen Stil.
Jedenfalls der Neurotiker kümmert sich um die Sekretärin, sie bekommt Zimmer Nr. 1, er macht ihr Butterbrote, und nach dem Abendessen beobachtet er durch ein Loch in der Wand, wie die Sekretärin sich auszieht, um zu duschen. Dass sie einen Haufen Bargeld dabei hat, bleibt dem Spanner verborgen. Die Sekretärin duscht also. Dreht den Wasserhahn auf und reckt die belockte Rübe in den Strahl. Aber kaum ist ein wenig Entspannung angesagt nach dem Horrortrip, taucht, durch den Duschvorhang nur zu erahnen, die Gestalt der Mutter auf. Allerdings will diese nicht mitduschen, sondern sticht, mit einem langen Messer bewaffnet, immer wieder auf die Sekretärin ein, die eine möglichst proaktive Sterbeszene hinlegt.
Etwas später erscheint dann der neurotische Sohn, um überall Blut abzuwischen und die Leiche im Sumpf zu entsorgen.“

„Hören Sie bloß auf, das klingt doch total überkonstruiert!“ beschwerte sich Gruber. „Und vermutlich alles in Schwarzweiß. Haben Sie denn nichts Realistisches?“

„In Schwarzweiß?“ fragte Sorry verdutzt. „Nun ja… vielleicht ein Gelegenheitsarbeiter in italienischer Tristesse. Er braucht dringend einen Job, um Mäuler zu stopfen. Das seiner Frau, seines Sohnes, und außerdem sein eigenes. Als unser Italiener einen Job als Plakatkleber bekommt, für das er unbedingt sein Fahrrad benötigt, wird es ihm geklaut. Zusammen mit seinem Sohn will er es wiederbeschaffen. Vergeblich. Schließlich wird er selbst beim Fahrradklauen erwischt, aber zumindest sein Sohn hält zu ihm. Das ist fast realistisch, vielleicht sogar neorealistisch.“
„Sie meinen, dass alle Italiener Fahrraddiebe sind?“ fragte Gruber skeptisch. „Bauen Sie doch wenigstens noch einen Araber oder Polen ein.“

„Heureka!“ rief Sorry. „Wir verlegen das Ganze in die Südkarpaten, machen aus dem Fahrrad einen Schlitten und aus dem Plakatkleber samt Sohn einen alten trotteligen Professor, der sich mit seinem verträumten Gehilfen für Burgfriedhöfe interessiert. Während des Befreiungsversuchs der entführten Wirtstochter werden sie schließlich allesamt im Spiegelsaal einer von Vampiren behausten Burg zum Tanz gebeten. Zum Schrecken der Opfer sind die anwesenden Rokoko-Vampire im Spiegel online nicht zu sehen. Mit diesem amüsanten Trick verhelfen wir dem Horrorfilm zu britischem Humor.“

„Aber nicht mit deutscher Filmförderung, Sie Traumtänzer!“ protestierte Gruber.

„Wenn Ihnen das Vampirthema nicht deutsch genug ist, vielleicht etwas aus der Geschichte. Z.B. eine Abiturklasse in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs. Gegen den Willen von Eltern und Lehrer werden die Rotzlöffel im Zuge des „Volkssturms“ eingezogen und für die Bewachung einer Flussbrücke in ihrem Heimatort abkommandiert. Nach all der Gängelei sind die Jungs scharf drauf, sich endlich mal zu beweisen und werfen jegliche Schulweisheit übers Geländer. Gruppenkonflikte lösen sie durch deutsche Tugenden wie Streber- und Mitläufertum. Als endlich amerikanische Panzer anrollen, gibt es statt Goethes „Faust“ Panzerfaust und jede Menge Geballer, mit einer Zugabe, als herauskommt, dass die Flussbrücke sowieso gesprengt werden soll.
Nur einer der Jungs überlebt und vermittelt eine blasse Einschätzung der Stärke des Abiturjahrgangs seinerzeit.“

Gruber warf einen flüchtigen Blick auf das im Licht der vorüberziehenden Nachmittagssonne matt glänzende Fenster seines Büros, bevor er sich wieder dem hartnäckigen Besucher zuwandte.
„Was Sie da so von sich geben, ist im Allgemeinen doch sehr pessimistisch gefärbt“, sagte er mitfühlend. „Dem zeitgenössischen Medienrezipienten liegt jedoch erstrangig an hochkarätiger, intelligenter Bespaßung in cooler Optik, verstehen Sie?“

„Okay, was halten Sie davon: Ein zynischer Wetteransager vom Fernsehn reist mit Produzentin und Kameramann nach Rentenhausen, um dort über den sogenannten Murmeltiertag zu berichten. Aber entweder leidet er an einer ausgewachsenen Psychose, oder er ist tatsächlich in einer Zeitschleife hängengeblieben – jedenfalls erlebt er dort täglich den gleichen Ablauf von Geschehnissen. Flucht ist zwecklos. Was er auch anstellt, er wacht jeden Morgen um 6 in diesem Spießerhotel auf. Um dem Wahnsinn zu entgehen, verliebt er sich schließlich in die Produzentin und lebt mir ihr eine Art Alzheimer-Beziehung, da sie tagtäglich neu  erobert werden will.
Durch die Jahrzehnte entwickelt er sich zum klavierspielenden Wohltäter und kann schließlich das Zeitgefängnis gegen eine Dauerbeziehung eintauschen.“

„Allmählich komme ich mir ebenfalls vor  wie in einer Zeitschleife“, stellte Gruber fest.

„Geben Sie mir eine letzte Chance, Doc!“ forderte Sorry. „Der absoluter Knüller! Eine tragische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer berühmten Schiffskatastrophe. Oder sympathische, trendig gestylte Blutsauger mit veredelter Teenagerproblematik. Meinetwegen auch ein Superheld mit Orgasmusschwierigkeiten. Oder Halbwüchsige, die in einer postindustriellen Partydiktatur zum Showdown antreten müssen. Oder eine leere Leinwand, auf die Zuschauergeiseln eigene Emotionen projizieren müssen…“

„Nanana!“ tadelte Gruber und erhob sich.“Wir wollen doch nicht den Teufel an die Wand malen. Sehen Sie doch lieber mal im Kino oder TV eine von uns geförderte Produktion, Herr Porree. Holen Sie sich in ihrer Auszeit einen Eindruck vom Erfolg. Machen Sie halblang und geben anschließend Vollgas. Und schlagen Sie sich diese irrsinnigen Einfälle aus dem Kopf, davon kann man ja Krebs kriegen.“

„Herr Dr. Gruber, Ihr Gesprächspartner ist eingetroffen“ meldete sich die Sprechanlage. Gruber drückte eine Taste. „Schicken Sie ihn rein, Frau Karma!“

Eine blondierter Leithengst spazierte im Börsenoutfit herein und lachte wiehernd.
„Sind Sie mir böse wegen der kleinen Verspätung, Herr Doktor?“
„Aber nein“, beschwichtigte Gruber. „Ich hab hier mehr Unterhaltung als mir lieb ist.
Haben Sie alle Antragsformulare unterzeichnet?“

Der Blondierte reichte ihm eine Mappe und scharrte mit den Hufen. „Mit Ihnen immer wieder ein Vergnügen, Doktorchen. Servus!“
„Denken Sie an die Premierekarten!“ rief Gruber ihm nach.

„War das nicht Till Schweighöfer?“ fragte Sorry verblüfft. „Der Regisseur von Filmen wie Kikeriki und Fummeldenlatz?“

„Deutsche Qualitätsproduktionen“, sagte Gruber. „Nur keine halben Sachen. Wie es scheint, hat er meine Vorzimmerdame auch gleich mitgenommen. Na kommen Sie, Porree, ich spendier Ihnen eine Fanta Morgana am Getränkeautomat auf dem Weg nach draußen…“

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (28.03.20)
Habe den Text, ehrlich gesagt, nur angelesen. Da sind mir persönlich zu viele blumige Adjektive und vulgäre Wertungen drin.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 17.05.20:
Klingt eher danach, als hättest Du da noch eine Rechnung offen ...?

 Willibald (17.05.20)
Sehr feine Skizzen von Topppppfilmen, unerkannt vom Boss. Ein wenig problematisch doch die stupide Ignoranz des Chefs und dann der Auftritt des Leithengstes. Er produziert weitgehend selbst und die Landesfilmförderung will seinen Skrpten weitgehend unwohl. Vielleicht die Rahmenhandlung überdenken?
greetse
ww
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