Steffen kommt an

Kurzgeschichte zum Thema Schicksal

von  KonstantinF.

Viel gab es jetzt nicht mehr zu erledigen. Steffens akribisch geführte To-do-Liste enthielt nur noch wenige unwesentliche Punkte, die er leicht in den noch verbleibenden Tagen abhaken konnte.

Am kommenden Montag würde er endlich bei Caro und ihrer kleinen Familie in Irland sein. Er hatte nach Mariannes Tod vor drei Jahren lange gebraucht, um sich zu diesem Schritt zu entscheiden. Der kleine Ort an der irischen Westküste, wo seine Tochter Caro seit fünf Jahren lebte, erschien ihm geradezu als Paradies für seine letzten Lebensjahre als Rentner.

Plötzlich hatte sich nämlich alles sehr schnell gefügt: Caro und ihr Mann Seamus hatten ihm das kleine Cottage aus Seamus‘ Erbe angeboten, das jahrelang als Ferienhaus genutzt worden und deshalb komplett eingerichtet war. Steffen kannte es von zwei Besuchen und hatte sich sofort wohl darin gefühlt. So konnte er sein eigener Herr bleiben und doch in der Nähe der Familie im selben Ort sein. Langweilig würde es ihm dort bestimmt nicht werden – der kleine Sean, den er seit der Taufe nicht mehr gesehen hatte, konnte inzwischen laufen und erste Worte babbeln. Steffen freute sich wie ein Kind auf Spiele am Strand und Ausflüge mit dem Kleinen. Er legte Wert darauf, dass sein Enkel zweisprachig aufwachsen sollte. Caro teilte seine Meinung. Aber ein wenig Unterstützung seinerseits würde sicher nicht schaden. Caro hatte sowieso immer genug zu tun als Deutschlehrerin und im Büro ihres Mannes, der sich einen eigenen kleinen Handwerksbetrieb aufgebaut hatte. Seamus konnte ganz sicher hier und da Hilfe brauchen. Steffen freute sich auf alles, vor allem auch darauf, sein Englisch im Laufe der Zeit zu perfektionieren. Seamus' mehr als dezenten Hinweis, dass nebenan eine sehr nette alleinstehende ältere Dame wohne, hatte er geflissentlich überhört.

Eine Woche später landete er nach einem ruhigen Flug fast pünktlich auf dem Shannon Airport. Wenig später lagen sich Caro und Steffen in den Armen. Der kleine Knirps, der sich zunächst ein wenig zögerlich an die Beine seiner Mutter klammerte, fasste schnell Vertrauen zu Steffen und ließ sich von ihm auf den Arm nehmen. Er musterte ihn zwar kritisch, flüsterte dann aber fragend „Opa?“, was Steffen fast zu Tränen rührte. Caro musste Sean gut vorbereitet haben. „Brought me something?“, lispelte der Kleine dann, und Steffen konnte nicht umhin, den Teddy mit Lederhose aus seiner Reisetasche zu kramen, den Sean entzückt mit einem „Thank you, Opa!“ entgegennahm und an sich drückte. Auf dem Weg zur Parkgarage wurde der Kleine dann unruhig und rief aufgeregt: „Show you car!“. Caro erklärte ihrem Vater, dass Sean ganz vernarrt sei in ihren neuen kleinen Flitzer und am liebsten den ganzen Tag herumgefahren werden wolle.

Es regnete stark, als sie den letzten Teil der Strecke auf einer engen Landstraße zurücklegten. Steffen liebte diesen irischen Regen, der meistens nicht lange anhielt und nach dem sich die Landschaft mit ihren hohen Fuchsienhecken wieder strahlend und wie frisch gewaschen präsentierte. Er hatte dieses Land schon bei seinem ersten Urlaub vor etlichen Jahren lieben gelernt und Caros Wunsch nach einem Auslandssemester in Galway sofort unterstützt. Dass sie sich schon nach wenigen Wochen in Seamus verliebte und gar nicht mehr zurück nach Deutschland wollte, konnten ihre Eltern zunächst nicht so leicht verdauen. Aber an Seamus gab es absolut nichts auszusetzen. Einen besseren Schwiegersohn hätten sie sich kaum wünschen können, hatten seine Frau und er schnell erkannt.

Ein übergroßer roter Traktor scherte unvermittelt hinter einer unübersichtlichen Kurve aus einem Feldweg aus. Caro legte eine Vollbremsung ein, wich auf die andere Straßenseite aus und kam abrupt auf der Bankette zum Stehen. Der kleine Sean im Kindersitz auf der Rückbank umklammerte erschrocken seinen neuen Teddy und fing dann herzerweichend an zu weinen. Caro und Steffen saßen einen Augenblick wie versteinert da. Von hinten kam der Traktorfahrer angelaufen und bot mit kreidebleichem Gesicht seine Hilfe an. „Sorry, so sorry …“, murmelte er immer wieder. Mit seiner Hilfe schoben sie das Auto aus dem matschigen Randstreifen wieder auf die Straße. Es hatte offensichtlich keinen Schaden genommen.

Auf der Weiterfahrt schwiegen sie noch eine Weile, bis Caro fragte: „Erinnerst du dich noch an den bekannten irischen Segensspruch auf dem Kalender, den ich dir und Mama von meinem ersten Irland-Aufenthalt mitgebracht habe?“

„Ja“, antwortete Steffen mit belegter Stimme, „ich glaube, er beginnt mit May the road rise to meet you.“

„Genau, vielleicht hält hier jemand seine Hand über dich? Du wirst eine gute Zeit in Irland haben. Wir sind übrigens gleich zu Hause.“



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Kommentare zu diesem Text


 Jane_Doe (09.04.24, 18:34)
Hi Konstantin, 

Man kommt gut rein, aber ich fragte mich, Warum relativ viel angerissen wird, aber ich als Leser nicht zum wichtigen Punkt geleitet werde. Bzw nicht weiß, was jetzt das Wichtige ist: Die Auswanderung, das Verhältnis der Charaktere oder wirklich nur der Schockmoment am Ende? 

Aus der Short Story könnte man mehr machen. Hat Potenzial. 

LG, Jane

 KonstantinF. meinte dazu am 09.04.24 um 21:56:
Jane_Doe, die Frage ist doch: Muss ich den Leser an die Hand nehmen und ihn an den „wichtigen Punkt“ geleiten?  Oder kann dieser Punkt nicht schon aus dem Titel abgeleitet werden?

fragt Konstantin

 Jane_Doe antwortete darauf am 10.04.24 um 00:15:
Dem Leser alles vorkauen und dem Leser soviel zur Verfügung stellen, dass er nicht die Intention des Textes hinterfragt, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. 

Aber okay, not my circus, not my monkey. 
Jedem sein Himmelreich.

 Quoth (09.04.24, 22:23)
Du liebst Deine Figuren nicht, wenn Du sie so leichtfertig und schnell einem Unfall zum Opfer fallen lässt. Das spüre ich als Leser und habe das Gefühl, nur ein belehrendes Gedankenexperiment über Planung und Zufall vorgesetzt zu bekommen.

 KonstantinF. schrieb daraufhin am 09.04.24 um 23:17:
Ach Quoth, wie langweilig wäre es, wenn ich alle meine Figuren lieben würde! Dann könnte ich ja nie über einen Bösewicht, einen Wähler einer geächteten Partei oder einen unliebsamen Politiker schreiben. Wo käme ich als Autor denn da hin?

Antwort geändert am 10.04.2024 um 09:36 Uhr

 Quoth äußerte darauf am 10.04.24 um 09:52:
O, Bösewichte sind die absoluten Lieblinge vieler Autoren ... Aber ich werde mich hüten, Dich zu Überzeugungen bekehren zu wollen, die Du ablehnst.

 KonstantinF. ergänzte dazu am 10.04.24 um 09:58:
Überzeugungen (auch noch in der Mehrzahl), die ich ablehne? Da kann ich Dir nicht mehr ganz folgen.
Was stört Dich an meinem Text, den Du andererseits empfiehlst, denn wirklich?

 Fridolin meinte dazu am 11.04.24 um 03:01:
Empfohlen hätte ich Deinen Text auch gerne, wäre nicht dieses merkwürdige Ende. Eine "Moral" wird es wohl kaum transportieren wollen; dazu ist es allzu banal. Dass Strassenverkehr gefährlich ist, ist sattsam bekannt.  Bleibt die Frage, was Du denn sonst sagen willst mit diesem Ende? Macht es Dir eventuell einfach Freude, Deinen Lesern den Stinkefinger zu zeigen?

 KonstantinF. meinte dazu am 11.04.24 um 09:51:
Schade, Fridolin, dann muss ich mich wohl damit abfinden, dass ich mit diesem Text nicht rüberbringen konnte, was ich ausdrücken wollte, nämlich: Man kann sein Leben noch so akribisch planen, und es kann dann in Sekundenschnelle ohne eigenes Zutun doch alles zunichte gemacht werden.

Wie kommst Du übrigens auf die Idee, jemand könnte seinen Lesern einen Stinkefinger zeigen wollen? Kommt das hier öfters vor? Für mich unvorstellbar!

 Fridolin meinte dazu am 11.04.24 um 18:52:
Noch mal anders: Es ist ein Jammer, dass Du einen wirklich schönen Text für eine Plattitüde verschenkst.
Streich den Titel für "Das Leben kann schön sein" und streich diesen unsäglichen Schluss, und Du bekommst eine Eins mit Sternchen.
Oder hast Du Angst vor einem "happy end"?

 KonstantinF. meinte dazu am 11.04.24 um 19:10:
Nein, Fridolin, ich wollte keine „Das Leben kann schön sein“-Geschichte schreiben, auch für eine Eins mit Sternchen lasse ich mich nicht davon überzeugen. Geschichten mit happy end finde ich meistens langweilig. Eine merkwürdige Vorstellung, dass man „Angst“ vor einem happy end haben könnte.

Ich wollte gerade diesen Bruch und das Aufzeigen der Vergeblichkeit all seiner Planungen. Ich kann darin auch keine Plattitüde erkennen. Schade, dass Du ein Problem mit diesem „unsäglichen Schluss“ hast.

Antwort geändert am 11.04.2024 um 19:10 Uhr

 KonstantinF. meinte dazu am 16.05.24 um 10:52:
Hallo Fridolin,

ich habe mich nun doch überzeugen lassen (siehe weiter unten). Falls Du noch einmal Lust zum Lesen hast ..

Gruß vom Konstantin

 PaulCuba (14.05.24, 12:44)
Hallo Konstantin - wenn ich auch noch meinen Senf dazugeben darf...

Zunächst möchte ich die Geschichte gegen die Vorkritiker verteidigen.

Die Schwierigkeit, meiner Ansicht nach, besteht darin, dass, aus der Zehntausend-Fuß-Perspektive betrachtet, der Plot ja nicht besonders originell ist: Mensch hat Plan, Schicksal kommt dazwischen.

Was deine Geschichte originell und lesenswert macht, sind ja gerade die Details: ein bestimmter Mensch, mit einem Leben hinter und bestimmten Plänen vor sich. Dann haben wir auf einmal: "Der Tod kommt mitten im Leben" (und Fridolin, wenn es ihm gefällt, hat seine "Moral").

Dies gesagt, funktioniert sie jedoch auch für mich noch nicht so hundertprozentig.

Mein Verdacht ist, dass wir uns gerade nicht genug auf den Protagonisten einlassen. Ist doch alles seine Perspektive, oder? Doch immer wieder, sobald was Interessantes auftaucht, kommt der Erzähler ihm dazwischen. Als wäre da eine dauernd meckernd mahnende Stimme: "Das kannst du doch dem Leser nicht einfach so hinwerfen. Musst du doch erklären, sonst versteht es keiner."

Ich glaub, wenn du diese Stimme zum Schweigen bringst, wird deine Geschichte gewinnen.

Nur ein Beispiel von ganz am Anfang:

Seine Wohnung war gekündigt und Nachmieter, wie nicht anders zu erwarten, schnell gefunden. Die sympathischen jungen Leute...
Hieße es einfach nur: "Die Nachmieter waren sympathische junge Leute..." - ich würds schon kapieren, dass er seine Wohnung gekündigt und Nachmieter gefunden waren.

Genauso, wie du sagst:

Nach dem plötzlichen Herztod seiner Frau...
(gut! das heißt, bis auf das erklärende "seiner Frau", statt einfach den Namen zu nennen) - und nicht etwa: "Vor dreieinhalb Jahren war ... einen plötzlichen Herztod gestorben..."


Zum Titel noch ... darin schwingt natürlich was vom Krimigenre mit. Ich finde das etwas unglücklich hier.

Persönlich würd ich einen Titel bevorzugen, der etwas vielschichtiger ist, mehrdeutig, und erst am Ende so ganz verstanden wird, oder selbst dann noch geheimnisvoll bleibt.

Das alles natürlich eine Frage des Geschmacks.

Besten Gruß!
PC

Kommentar geändert am 14.05.2024 um 12:45 Uhr

Kommentar geändert am 14.05.2024 um 12:46 Uhr

 KonstantinF. meinte dazu am 14.05.24 um 13:17:
Es kommt selten vor, dass hier an einem älteren Text noch einmal ausführlich gearbeitet wird. Ich freu mich aber über jeden "Senf"(Deine Worte), der hier dazugegeben wird!

Dann muss ich wohl doch noch mal ran ... Vielleicht kann ich dann auch noch die anderen Kritiker zufriedenstellen. :unsure:

Danke und Gruß vom Konstantin

 KonstantinF. meinte dazu am 16.05.24 um 10:45:
Ich habe den Text jetzt noch einmal komplett überarbeitet, den Titel und auch vor allem den Schluss geändert. 
Es ist jetzt nicht mehr die Schicksalsgeschichte, die ich eigentlich erzählen wollte - aber ich habe mich überzeugen lassen, dass sie nicht funktionierte.
Nochmals danke für Deine Mühe
und Gruß vom Konstantin
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