Drei Monate

Text

von  apocalyptica

Drei Monate haben ihm am Schulabschluss gefehlt, drei Monate nur. Aber was sind drei Monate, wenn der Vater seit drei Jahren an der Front kämpft? Wenn die Mutter drei kleine Kinder zu ernähren hat, während der Vater mitsamt seiner Generation in einem sinnlosen Gemetzel untergeht?

Dann wird der älteste Sohn zum Familienvorstand, muss Geld verdienen, um Mutter und Geschwister zu ernähren. Heil.

Er wird auf die Zeche geschickt, Zeche Victoria, der Sieg, welche Ironie! Oh ja, er lernt dort zu siegen, zu besiegen. Den inneren Schweinehund zu besiegen, seine Wünsche zu besiegen, jeden verdammten Tag aufs Neue die Kohle zu besiegen, seine Schmerzen zu besiegen, sie zu ignorieren. Viel zu jung ist er, viel zu schwach. Aber er muss malochen, schuften, Kohle schleppen. Nein, er merkt zunächst nicht, dass sein Rücken immer krummer wird, seine Augen immer schlechter. Unter Tage gibt es keine Spiegel, es gibt kein Licht. Es gibt schwarz. Punkt.

Und es gibt Arbeit, Arbeit bedeutet Geld. Geld bedeutet Nahrung. Nahrung für Mutter und Geschwister. Für ihn selbst einen Henkelmann und ein paar Stullen pro Tag, täglich weniger. Lange schon hat er vergessen, wie Fleisch schmeckt, aber das Gemüse und die Kartoffeln halten ihn am Leben, an der Arbeit. Kohle brechen, Geld verdienen. Mit hungrigem Magen. Wie sehr mag sein Vater gehungert haben, bevor er an der russischen Front gefallen ist? Wie lange? Drei Tage, drei Wochen, drei Monate?

Betrogen um seine Jugend, betrogen um seine Zukunft und seine Gesundheit kehrt er irgendwann ans Tageslicht zurück. Ja, das deutsche Wirtschaftswunder versorgt ihn mit Arbeit. Gelegenheitsarbeit tagsüber, er hat ja nichts gelernt. Aber das zählt nicht, er ist ja fleißig. So fleißig, dass er abends noch kellnern geht oder an der Tankstelle aushilft. Als Tankwart mit einer dunkelblauen Kappe. Inzwischen hat er geheiratet und zwei Töchter bekommen, die sollen es einmal besser haben als er. Für sie spart er die wenigen Pfennige Trinkgeld, die er bekommt. Für sie rackert er sich ab und kennt keinen Feierabend.

Nur manchmal, freitags, wenn er seine Lohntüte bekommt, gönnt er sich ein paar Bier in der Kneipe an der Ecke. Und vergisst. Vergisst für kurze Zeit. Um dann in der darauf folgenden Woche zu bereuen, denn der Lohn reicht nun nur noch für Kartoffeln. Bratkartoffeln, Kartoffelpuffer, Kartoffelbrei. Kartoffeln mit Kartoffeln.

Jeden Samstagabend verfolgt er die Ziehung der Lottozahlen und wartet auf das große Glück, vergeblich. Er hat kein Glück, aber er hat immer noch Arbeit. Langsam baut er sich und seiner Familie ein kleines bisschen Wohlstand auf. In Maßen, aber immerhin.
Sein geschundener Rücken, sein Buckel, macht ihm immer mehr zu schaffen und die Staublunge lässt ihn oft kurzatmig werden. Er kämpft. Jahrelang. Er kämpft um Anerkennung der Berufskrankheit, vergeblich.

Dann endlich die ersehnte Rente. Nicht viel, aber ausreichend, um einen ruhigen Lebensabend zu gewährleisten. Ausreichend, um erstmalig zusammen mit seiner Frau in den Urlaub zu fahren. Zu leben. Ohne Arbeit einfach zu leben. Drei Monate lang genießt er sein Rentnerdasein, bis ihn eines Tages plötzliche Bauchschmerzen quälen und er mit Blaulicht ins Krankenhaus eingeliefert wird. Krebs. Inoperabel. Magen, Bauchspeicheldrüse, Darm. Todesurteil.

Er kämpft seinen letzten Kampf, verhungert bei vollem Verstand, bis Morphium ihm das Bewusstsein nimmt. Und ein einziges Mal in seinem Leben hat er Glück. Er verliert seinen Kampf. Drei Monate später wird er erlöst. Drei Monate.


Anmerkung von apocalyptica:

[In Gedenken an meinen lieben Papa, der vor 18 Jahren verstorben ist.]
Mach's gut da oben im Himmel, ich hoffe, dort geht es dir besser...

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Kommentare zu diesem Text

steinkreistänzerin (46)
(13.06.06)
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 apocalyptica meinte dazu am 30.06.06:
Du liebe Freundin, ja...auf der Wolke sitzen und Beine baumeln lassen, das ist wohl die Idealvorstellung! Eigentlich bin ich froh, dass keiner von uns weiß, was danach wirklich kommt! Auch wenn es noch so viele Vermutungen gibt, wissen ist etwas anderes!
Ich umarme dich auch und wünsche dir ein wunderschönes Wochenende. Ganz liebe Grüße,
die -bea
seelenliebe (52)
(13.06.06)
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 apocalyptica antwortete darauf am 30.06.06:
Du liebe Seele, ich denke, ich verstehe sehr gut, wie du diesen Kommentar meinst. Aber es kommt beim Nachdenken immer mehr hoch...was hätte man in diesen drei Monaten alles machen können...was hätte man ihm vorher alles schenken können. Und hinterher sagt sich dann jeder immer wieder dieses hätte, wenn und aber....dann, wenns zu spät ist, wenn man Versäumtes nicht mehr nachholen kann. Aber es gibt immer wieder Phasen, in denen ich die drei Monate nochmals nachempfinde, wenn man mittendrin steckt, können sie unenedlich lang werden, aber rückblickend waren sie dennoch sehr kurz...für meinen Papa zum Glück, für uns als Familie eigentlich auch, denn es gibt kaum etwas Schlimmeres, als einen Menschen so leiden zu sehen und nichts tun zu können...
Ich grüß dich von Herzen und wünsch dir alles Liebe,
deine -bea
seelenliebe (52) schrieb daraufhin am 30.06.06:
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 apocalyptica äußerte darauf am 30.06.06:
Du bist so unglaublich lieb...ich danke dir so sehr dafür, liebe Anne!
Deine -bea

 Traumreisende (13.06.06)
ich weiß, es wird verächtlich beguckt, aber... ich sitze auch mikit tränen hier... der texte so schlicht so rasend durch ein leben, ganz klasse in der klammer mit den drei monaten... und dann deine anmerkung...
sei lieb gedrückt
silvi

 apocalyptica ergänzte dazu am 30.06.06:
Nein, liebe Silvi, man braucht sich seiner Tränen nicht zu schämen, ich denke, man darf Gefühlsregungen durchaus zeigen. Verachtung ist dann falsch. Es ist so wichtig, Gefühle zu leben und nicht kalt und abgezockt durchs Leben zu ziehen, denn nur so kann man wirklich intensiv leben und weiß auch dann, wenn es zu Ende geht, dass nicht alles umsonst gewesen sein kann, eben weil man Wärme und Spuren hinterlässt...
Ich grüß dich herzlich,
die -bea
Grateful_Dead (49)
(15.06.06)
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 apocalyptica meinte dazu am 30.06.06:
Ja, lieber Axel, da gibt es wirklich noch sehr viel zu erzählen, wir tun es ja auch immer wieder, und eben das tut auch immer wieder gut. Zu wissen, dass man nicht allein ist mit seinen Gedanken. Und dass es anderen ähnlich geht!
Erstaunlich übrigens mal wieder, wie sich die Bilder doch so sehr gleichen!
Mir fiel gerade wieder ein, wie sehr sich mein Vater immer gewünscht hat, einmal ein Fußballspiel live im Stadion zu erleben...wie leicht wäre es gewesen, ihm diesen Wunsch zu erfüllen, wenn man es beizeiten getan hätte, aber es war ja immer noch soooo viel Zeit! Genau die Zeit, die uns allen dann hinterher weggelaufen ist...
Ich grüß dich herzlich,
die -bea
TanzderSinne (30)
(16.06.06)
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 apocalyptica meinte dazu am 30.06.06:
Na klar weiß ich, was du und wie du das meinst, kleine Schwester! Der Text ist bewusst schlicht gehalten, so, wie eben sein Leben auch war...ohne viele Schnörkel, ohne viel Drumherum...beschränkt auf das Wesentliche!
Ich drück dich,
die -bea
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