Über den Dächern der Stadt

Text zum Thema Abschied

von  ZornDerFinsternis

Der Himmel ist heute strahlend blau. So blau, wie er nicht mal in einer schönen Erinnerung
gewesen war.
Meine Gedanken sind klarer als sonst. Als hätte jemand das bleierne Schwarz aus meinem
Schädel radiert und über den zarten Grauschimmer eine Spur Deckweis gezogen.
Die Sonne lächelt anmutig zwischen den Wolken hindurch.
Und, wenn die Welt mich jeden Tag so angeblickt hätte, hätte ich mich und meine Depressionen
für verrückt erklärt.
Doch ich weiß, dass die Vergangenheit eine andere war und ist. Die Welt und die Menschen
verkommen zunehmend.
Es gibt nichts mehr, was man richtig tun könnte. Weil niemand mehr mit voller Gewissheit
behaupten kann, den schmalen Grad zwischen richtig und falsch zu kennen.
Es sind lediglich Gedanken wie dieser, der uns dazu verleitet zu glauben, dass wir im Recht stehen.
Und heute, fühlt sich das Leben so leicht an. Trotzdem sitze ich hier auf dem Dach unserer Wohnsiedlung.
Mit meiner Flasche Whisky und dem Cutter in der Hand.
Die Flasche ist noch viertelvoll. Die Uhrzeit interessiert mich nicht. Ja, heute auch nicht.
Der Lärm der Autos, unten auf der Straße und das Gepöbel der Jugendgangs da unten, zieht an mir vorbei.
Habe mir viel zu lange um alles und jeden einen Kopf gemacht. Mein Herz immer viel zu weit offen getragen.
Ein Fehler. So, wie dieses ganze verschissene Dasein ein einziger Fehler ist.
Mein System funktioniert nicht mehr. Ich steuer mich nicht mehr selbst. Eine fremde, übermenschliche Hand
hat das für mich übernommen. Schickt schmerzliche Impulse durch meinen Körper. Strom pulsiert mit jedem
Herzschlag durch mein Aderwerk. Ich möchte noch immer schreien und es geht noch immer nicht.
Wie viele Male bin ich schon hier hochgestiegen, in der Hoffnung, die Treppen nicht für den Abstieg
nutzen zu müssen? Gefühlte abermillionen Mal. Und heute, bin ich mit einer Gewissheit hier hochgekommen.
Trotzallem, traf mich die strahlende Schönheit der Welt, heute, wie ein Faustschlag mitten ins Gesicht.
Vielleicht wollte mich jemand damit wachrütteln. Mir den Abgang schwerer machen. Aber FUCK OFF, heute
zieht nichts mehr ungelebt an mir vorüber.
Schiebe das Cutter auf. Seine Klinge glänzt wirklich schön im Vormittagslicht.
Ja, und ich denke nicht an dich. Deine großen, dunklen Augen. Die langen Haare. Die kalten Hände, die
sich an meinem Körper vergangen haben. Und nein, ich denke nicht an die Frau, die mir dieses "Leben" "geschenkt" hatte.
Ich denken an niemanden. Auch nicht, an die Schule. Mit diesen verrückten, prügelnden Kindern. Die mir
jeden Tag zu einem Alptraum gemacht haben. Nein.
Und ich denke auch nicht daran, welche Schuld auf mir lastet, weil ich 6 geliebte Menschen an den Tod verloren habe.
Nein. Ich schäme mich nicht, für 4 Selbstmordversuche und die vielen Besäufnisse, die eigentlich in einer Klinik hätten enden müssen. Nein.
Und es tut mir auch nicht leid, dass ich immer versucht habe, jedem ein guter, lieber Freund zu sein.
Ich denke nicht an meinen besten Freund, der jetzt irgendwo auf der Arbeit sitzt und an eine andere denkt.
Nein. Ich denke nur an mich. Ja, weil ich schon immer ein dreckiger, verrückter Egoist gewesen bin.
Und ich schäme mich nicht, für die klaffenden Schnittwunden an meinen Unterarmen, an meinem ganzen Körper.
Nein, ich schäme mich sicher nicht, weil ich begriffen habe, dass Leben bloß leiden bedeutet.
Und, ich werde nichts vermissen, weil es hier nichts mehr zu vermissen gibt.
Ein leichtes Brennen zieht sich durch mich hindurch. Die Klinge schiebt sich durch mein Fleisch.
Stehe ungeschickt auf. Der Wind weht mein Haar durch mein Gesicht und ich trete dichter an die Dachkante.
Starre nach unten.
Blut tropft vor mir aufs Dach. Ja, und ich merke, wie die Schwärze zu mir kommt. Mich in die Arme schließt.
Liebevoll. Nicht abweisend. Nichts einfordernd, was ich nicht geben wollte.
Und es scheint mir ein weiches, wärmendes Licht entgegen. Als würden die Sterne, in der noch so finstersten Nacht
von einer Taschenlampe angestrahlt und ihr Licht würde direkt mit ihrer Schönheit in mein Herz eingehen.
Und ich weiß, wenn ich heute nicht gehe, dann gehe ich nie.
Nur wir, die wir wissen, was das "Leben" noch an Schmerz bereit hält, und einen Ausweg gefunden haben, nur wir, können diesen Himmel einmal so unglaublich strahlen sehen.
Ich springe...

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Kommentare zu diesem Text


 Seelenfresserin (10.08.10)
Nur wir, die wir wissen, was das "Leben" noch an Schmerz bereit hält, und einen Ausweg gefunden haben, nur wir, können diesen Himmel einmal so unglaublich strahlen sehen.
Ich springe...

Liebe Anni,

Aber wir wissen auch, das es, auch wenn diese Momente sich äusserst rar machen und sich im hintersten Loch verstecken können, das es Momente gibt, die weder Schmerzvoll noch Leidvoll sind. Und auch wenn wir diese Momente verfluchen, weil sie uns immer und immer wieder vom Springen abhalten, sind wir manchmal doch froh, wenn wir nicht gesprungen sind...

Ich denke "wir" gehören zu der Sorte Mensch die trotz all der Schmerzen irgendwie das Leben lieben.
Guter Text, er spiegelt die Gedanken wieder, die ich damals hatte als ich beinahe "gesprungen" wäre. Er hat also was Nostalgisches an sich, auch wenn es für mich bitter klingt.

Aber ich drück dich herzlich und lieb *drück* weil du auch eine kleine Kämpferin bist.

ganz liebe Grüße, jenny

 ZornDerFinsternis meinte dazu am 10.08.10:
Ja, Liebes... wir sind Kämpfer. Und wir werden uns auch nicht dem Schwarz ergeben. Ich möchte dir immer diese Umarmung sein und an jedem Tag dieses helle Sternenlicht. -knuddel-
Schön, dass du hierher gefunden hast. Danke. -knuddel-

 Mondgold (10.08.10)
ein LI das seinen nick begreift?
ein sehr reifer text, liebe anni! ja, es ist höchste zeit sich zu verabschieden/befreien, diesen symbolen nicht auf den leim zu gehen... spring! spring! ... denn das dunkle birgt auch das helle und du wirst nicht fallen, egal wie schmutzig dein kleid geworden ist... DU bist es nicht!!!
dieser komm wird wohl manchen anderen leser irritieren, doch ich weiß, dass du etwas begriffen hast... der sprung geht aus dem traum heraus, nicht vom dach und du wirst vielen dadurch ein tor öffnen... das ist der ZornderFinsternis!... der seine wunde aufreißt ... nicht nur symbolisch um das "verkommen" in der welt mit seinem ich-ohnmachts-blut zu nähren... nein, er weiß, es geht um viel, um alles...
sein zorn ist/war berechtigt
staunendes herzlächeln zu dir*
(Kommentar korrigiert am 10.08.2010)

 ZornDerFinsternis antwortete darauf am 10.08.10:
Ja, das stimmt, Liebes. Es stimmt. Alles Dunkle, beheimatet auch das helle, strahlende Licht. Und in meinem Herzen, da scheint schon lange, dein wärmendes Mondgold. Umarme dich. Anni

 Dieter Wal (10.08.10)
Einer meiner Lieblingsfilme ist Harald und Maude (Danke für den Hinweis auf den Tippfehler, AnnaMombasa!). Nicht nur wg. der total witzigen fingierten Selbstmordparodien, die wirklich alle sehr unterhaltsam und auf makabere Weise lustig sind. Vor allem die Zeitkritk gefällt mir. Und dann die großartigen Stimmungen, die da eingefangen wurden. Du hast die seltene Gabe, hervorragende Geschichten erzählen zu können. Mögen sie autobiographisch sein. Vielleicht. Das ist (in einem Literaturforum) nicht so wichtig. Klar, ich würd deiner Leiche noch gern den Hintern versohlen, würdest du eines Tages wirklich so dumm sein, einen so wunderbar begabten und liebenswürdigen Menschen wie dich selbst zu töten. In deinen Texten steckt viel Gefühl und die Autorin hat ohne Zweifel eine enorme emotionale Bandbreite, die den meisten anderen Menschen abgeht.
(Kommentar korrigiert am 10.08.2010)

 ZornDerFinsternis schrieb daraufhin am 10.08.10:
Dieter.... du solslt mich doch nicht immer so in den Himmel loben :(
Und zum Heulen gebracht, hast du mich auch schon wieder - piek-
Dankeschön :')
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