Teil 12

Roman

von  AnastasiaCeléste

„Wenn ich den beiden nicht zu hundert Prozent vertrauen würde, würde ich dich ihnen nicht anvertrauen. Du bist bei ihnen gut aufgehoben, glaub mir.“ Ian verstand ihr Misstrauen. Sie hatte nun einmal eine gebrochene Seele, die man nicht einfach mit vertrauensvollen Worten reparieren konnte. „Sie werden dich aufnehmen, bis du soweit bist und einen Plan hast, was du machen willst.“ Nachdenklich sah Cat Richtung Flur, in dem Asher geduldig wartete, um sie mitzunehmen. Es tat Ian leid, sie so ängstlich zu sehen, sie diesem psychischen Stress auszusetzen, aber er konnte sie wirklich nicht bei sich behalten. Die Patienten liefen ihm momentan die Türe ein. Das war einfach keine Umgebung, um zur Ruhe zu kommen. Noch ruhiger und einfühlsamer als zuvor sprach er ihr Mut zu: „Du hast Asher in den letzten Wochen kennengelernt, er ist ein toller und anständiger Kerl. Ich kenne die beiden schon so lang, noch aus guten Zeiten. Und vor Ave brauchst du keine Angst haben. Er kann schwierig sein. Aber das darf man ihm nicht übel nehmen.“ Die junge Frau ergab sich. Sie konnte ohnehin nichts machen. Sie ließ eine kurze Umarmung von Ian zu und schenkte ihm ein dankbares Lächeln, bevor sie mit Asher die Kellerräume verlies. Der Weg ins Freie war für sie, als würde sie jeglichen gewonnenen Schutz verlieren. Asher hielt ihr die Tür eines Oldtimers auf und sprang dann gut gelaunt auf den Fahrersitz. Als das tiefe Grollen des Motors erklang, erschrak sie. Er schaute prüfend, als wolle er sicher gehen, dass alles in Ordnung sei. Erst dann lenkte er den schwarzen Chevy auf die Straße.
Niemand sagte etwas. Asher navigierte den großen Wagen sicher durch die Stadt, während Cat ehrfürchtig aus dem Seitenfenster schaute. Sie sah nach über zwei Jahren zum ersten Mal die Welt draußen, außerhalb des Innocents. Nur ein einziges Mal während dieser Zeit durfte sie die Mauern ihres Gefängnisses verlassen, für wenige Minuten. Wenige Minuten, an die sie sich nicht erinnern wollte. Ein kurzer Augenblick, der an Grausamkeit kaum übertroffen werden konnte.
Sie sah die Häuserblocks, die sich düster und trist aneinanderreihten. Ihre Fenster schauten wie hohle Augen auf die Straßen und nur selten deuteten noch Gardinen oder Deko auf ihre Bewohner hin. Die Straßen voller Müll, den der Wind mit der Zeit zu kleinen Haufen zusammengekehrt hat. Ausgebrannte Autos standen in den Gassen. Hier und dort noch ein Zeichen von Leben. Streunende Hunde und Katzen, die über die Straßen huschten, auf der Suche nach Nahrung und Zuflucht, genauso wie die Menschen. Wenige Schaufenster von intakten Läden, die noch nicht zerstört wurden, strahlten mit ihrer Beleuchtung einen Hauch Normalität aus.
Cat war diesen Anblick nicht mehr gewohnt. Sie war erschrocken über dieses kriechende Leben in dieser grauen Stadt. Die Spuren der Kindheit und Jugend, als die Stadt noch lebte waren verblasst und ausgewaschen. Sie fuhren an Menschen vorbei - Junge und Alte, Obdachlose, Menschen, die einfach nur versuchten zu überleben und dubiose Gestalten. Und in jedem sah Cat eine potentielle Gefahr, Corvins Verbündete, die nur darauf aus waren, sie zurückzubringen. Ganz unbewusst machte sie sich klein auf ihrem Sitz, damit sie vor den Blicken der Fremden geschützt war.
Als Asher ihr wenig später erneut die Wagentür aufhielt, kostete es sie einige Überwindung auszusteigen, genauso wie die Türschwelle zu ihrem neuen Zuhause zu übertreten. Eine wohlige Wärme und Ruhe empfing sie, doch ihr Herz schlug schnell, bei dem Gedanken vielleicht gleich seinem Bruder gegenüber zustehen, der sich die letzten Wochen nicht bei Ian hat blicken lassen. Hatte sie ihn schon Mal gesehen?
Ihr Lebensretter begann sie herumzuführen. Sie befand sich in einer großzügigen Vier-Zimmer-Wohnung. Die Küche war modern und sauber. Das Wohnzimmer, hell und gemütlich eingerichtet. Das Bad war ein Traum in Hellgrau und Anthrazit. Asher ließ sie einen Blick in sein Reich werfen. Sie erhaschte einen Blick auf ein liebenswertes Chaos aus Büchern und CD’s und einem ungemachten Bett, umrahmt von roten Wänden. 
An der nächsten Tür blieb er stehen. „Das ist Aves Zimmer.“ „Ist er da?“, fragte Cat leise. Asher nickte. „Mal sehen, wann er sich zeigt. Er weiß, dass du hier bist.“ Das weckte nicht gerade ihr Vertrauen. Doch da zeigte ihr Asher auch schon das nächste und somit ihr neues Zimmer. Gegenüber, am Ende des Flurs betrat sie einen luftigen Raum mit einem großen Fenster. Ein Bett stand dort, zwei kleine Schränke und ein paar Sachen, die hier wohl vorübergehend gelagert wurden.
„Ich hoffe es gefällt dir. Wir haben diesen Raum bislang nicht großartig genutzt, nur als Abstellraum. Entschuldige daher die Unordnung. Du kannst dich hier einrichten wie du magst. Wenn dich Möbel oder Gegenstände stören, sag Bescheid!“ Asher schenkte ihr ein warmes Lächeln. Cat wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Hätte er gewusst, wo sie die letzten Jahre gelebt hat, hätte er gewusst, dass ihr dieses Zimmer mehr als nur gefällt. Es war nicht zu vergleichen, mit der fensterlosen kleinen Kammer. „Es ist großartig“, gab sie zu und sie sah in seinem Gesicht Freude darüber.
Asher legte den kleinen Beutel mit Medikamenten und Verbandszeug, den Ian ihm für sie mitgegeben hatte, auf den Schrank zu seiner Linken. Plötzlich drehte er sich um und betrachtete sie eingehend. „Was ist?“, fragte sie verwirrt. Er lächelte wieder, als er sie dort stehen sah, in einem viel zu großen Hemd, dass an ihrer schmalen Hüfte verknotet war. Mit der weiten Jeans, die von einem Gürtel gehalten wurde und einem alten paar Schuhe, dass Ian irgendwo hergeholt hatte. Die Männerkleidung, versteckte ihre hübschen Züge nicht im Geringsten. Sie war ungefähr einen Meter siebzig groß und schlank. Ihr mittelbraunes Haar hatte je nach Lichteinfall einen Rotstich, wodurch sie irgendwie wild wirkte. Es reichte ihr bis unter die Brust und umspielte ihre zarten Gesichtszüge. Die schmale, hübsche Nase, die wohlgeformten, weiblichen Lippen fügten sich perfekt ein, in dieses unschuldige Antlitz. Nur ein dunkler Schatten über ihrem rechten Auge erinnerte auf den ersten Blick noch an das was ihr passiert war. Ihre Augen - sie fingen alles Licht und bündelten es in einem seltenen Grau-Blau, dass ihn immer wieder aufs Neue fesselte. Groß und aufmerksam sahen sie ihn an, umrahmt von einem dunklen, dichten Wimpernkranz. Und auch sie hatten etwas Unberührtes, gar unschuldig wären sie, wenn nicht diese Traurigkeit einen Teil ihres Schimmers erloschen hätte.
Als sie fragend eine Augenbraue hochzog, konnte Asher sich wieder auf sein Anliegen konzentrieren. „Wir sollten dir morgen mal ein paar anständige Klamotten besorgen, meinst du nicht?“ Sie warf einen Blick auf ihr Outfit und lächelte schief: „So schlimm?“ Asher schüttelte den Kopf. „Nein, nein, du siehst bezaubernd aus. Aber du verschwindest ja fast da drin.“ Cat konnte nichts dagegen tun, aber sie spürte ganze deutlich, dass sich ein verlegenes Rot auf ihre Wangen legte.
Dem jungen Mann entging das nicht, aber er wollte sie nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. „Komm erst mal in Ruhe an. Wenn du irgendwas braucht, sag einfach Bescheid!“ Während Asher das Zimmer verließ, tappte Cat langsam um ihr neues Bett. Als könnte sie jemanden wecken, setzte sie sich ganz langsam und mit größter Vorsicht darauf und war überrascht wie bequem es war. Sie fühlte die weiche Decke unter ihren Handflächen,  beobachtete wie das Licht durch das Fenster auf die hellen Wände fiel und blieb letztlich an der Aussicht hängen. Sie konnte das Dach des gegenüberstehenden Hauses sehen und einige Weitere dahinter. Doch das schönste daran, war der weitläufige blaue Himmel, der sich über den Dächern abzeichnete.
Cat konnte das Gefühl nicht beschreiben, was sich in diesem Moment in ihr ausbreitete, doch sie wusste, dass schöne Momente viel zu schnell vorbeigehen können. So versuchte sie sich voll und ganz auf diesen Moment zu konzentrieren, jedes Gefühl, das sie durchströmte festzuhalten. Und nach einer Weile hatte sie eine leise Ahnung davon, wie sie es nennen könnte. Es war das warme Gefühl das Angekommen seins, der Freiheit und des Lebens. Und sollte es morgen schon wieder vorbei sein mit dieser Freiheit, so hatte sie sie doch wenigstens für einen wertvollen Moment gespürt.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (28.07.13)
Ich finde es beeindruckend, dass du es immer wieder schaffst in den verschiedenen Teilen ganz unterschiedliche Stimmungen zu kreieren, die - wenn man deine Geschichte als Ganzes betrachtete - so gegensätzlich zueinander sind. Hier, in Teil 12, ist ja schon fast ein zufriedenes Wohlfühlen, dass du dem Leser vermittelst.

(Ganz nebenbei stellst du so die allgemeingültige Frage, was Zufriedenheit eigentlich ist und die ist in unser heutigen konsum- und gierorientierten Zeit mehr als berechtigt.)

Doch über allem lauert die Katastrophe. Nach 12 Teilen ist dem Leser klar, dass das, was eben hier geschehen ist, zu gut ist für die düstere Welt des 'fressen und gefressen werden', die ihr blutiges Schwert über der Stadt schwingt.
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