Trost suchen

Text zum Thema Alltag

von  shinai

Herrn Schmidts Welt ist grau. Neblig grau würde er sagen, wenn man ihn fragte. Das postmoderne Haus im Vorort – Beton, darum grau. Sein Wagen silbern mit einer starken Tendenz zum rauchigen. Sein Lieblingsanzug – helles Anthrazit. Seine Brieftasche milde grau gefärbtes Leder. Die Strasse, die er jeden Tag entlangfährt – Asphalt. Der Himmel meist bewölkt. Seine Haare sind braun mit silbernen Strähnen und seine Haut fahl. Seine Aura unscheinbar.

Aber davon ahnt Herr Schmidt nichts. Er findet sich bunt, phantasievoll, wichtig. Er weiss nur, dass ihm etwas fehlt. Eine Nuance. Etwas, das das Bunte in ihm nach draussen kehrt. Denn das Draussen versteht Herrn Schmidt nicht. Es behandelt ihn grau. Redet von Statistiken und Budgets und Projektplänen und Sollerfüllung. Im Büro unter dem bewölkten Himmel. Redet von einem neuen erzfarbenen Sofa, von Ferienplänen, von Kostümen, Taschen, Schuhen en gris und dem Trauergottesdienst nächsten Montag, vergiss es nicht. In seinem Haus am Ende der Asphaltstrasse.

Da sind keine Farben, kein schillerndes Mosaik inspirierender Kreativität. Nur Grauheit. Und Wollen. Wollen, Wollen, Wollen. So begegnet die Welt Herrn Schmidt. Immerzu will sie etwas. Geld, Effizienz, Verlässlichkeit. Was er will, interessiert nicht. Herrn Schmidts Farbigkeit ist nicht gefragt. Dazu ist er zu alt, zu akkurat – grau halt.

Das macht Herrn Schmidt melancholisch. Was er nicht sein will, weil es grau ist.

Darum fährt er einmal die Woche an den Stadtrand zum buntesten Ort, den es gibt. Mit roten Lichtern und wogenden Körpern. Mit Champagner und lächelnden Gesichtern und Kurven – oh die Kurven. Zu Marina, die all das ist und noch mehr. Die ihn fragt, was er will. Die ihn so sieht, wie Herr Schmidt sich sieht. Die niemals drängt, die niemals verlangt. Sondern gibt. Stundenweise.

Aber daran denkt Herr Schmidt nicht. Auch nicht an die Geldscheine, die diskret von Hand zu Hand wechseln. Die existieren eine Sekunde nach Transfer nicht mehr. Nur Marina existiert und er, der farbige Herr Schmidt.

Marina mag ihn, das weiss er. Und er mag sie. Weil sie zuhört, weil sie allein für ihn da ist. Für eine Stunde oder zwei. Weil ihr Zimmer so schön rot ist – wie aus einer anderen Welt, Eine bunte, fröhliche, exotisch erotische. Wo die Sinne in wildem Tanz explodieren. Wo es nach Massageöl und Liebe riecht. Wo er der Herr Schmidt sein kann, der er sein will. Der er immer ist. Ohne dass es die Welt sehen würde. Und dann, wenn er heimfährt, warm von den Stunden in der roten Welt, ist das Grau erträglich, etwas blau vielleicht, etwas grünlich. Vielleicht sogar ein klein wenig rosa. Dann ist Herr Schmidt mit der Welt beinahe im Reinen. Für eine weitere Woche.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (18.01.14)
Hallo shinai,

das Grau und seine Nuancen. Die Farbigkeit und ihr Schillern. Und dazwischen Herr Schmidt. Du schaffst es, die Gegensätze so miteinander zu verweben, dass ein Ganzes entsteht. Kein Herr Schmidt des entweder-oder sondern ein Herr Schmidt des sowohl-als auch. Das gefällt mir sehr gut.

Nur die Überschrift passt für mein Empfinden nicht so recht über diesen Text, der beide Perspektiven ansonsten wunderbar klar nebeneinander bestehen lässt.

Wie auch immer: Es war mir ein Vergnügen!

Liebe Grüße
princess
Zweifler (62)
(19.01.14)
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kungfuschnitzel (31)
(22.01.14)
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