Die Rasseln

Gedicht zum Thema Krankheit/ Heilung

von  DerHerrSchädel

Ein Läuten, Zwielicht, Abendsonnenwende,
Da humpeln sie im Gassendreck entlang,
Eingehüllt in Lumpen und Verbände,
Und Stöcke stützen ihren Krüppelgang.

Die Lumpen flattern um die dürren Glieder
Gespensterhaft, wenn sie sich vorwärts mühn.
Sie halten müde ihre Köpfe nieder,
Darüber tief sie die Kapuzen ziehn

Und Masken schirmen ab ihr Angesicht,
Darin in Löchern tief die Lepra frißt.
Sie sind wie Geister, Mumien, Gezücht,
Ein Anblick, denn man herzlich gern vergisst.

Die Rasseln drehen sie wie Musikanten.
Und jeder flüchtet vor der Melodie.
Grausames Lied der Kranken und Verbannten,
Erzählt von Aussatz und von Agonie


(Dezember 2007/ März 2014)

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (17.05.14)
Die, die früher die Rasseln verteilt haben, schreiben heute Bücher, immer mit dem Subtext: "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen." Und wenn sie jemand beim Wort nimmt: "Da haben sie mich falsch verstanden." So ändern sich die Zeiten... doch nicht...

 DerHerrSchädel meinte dazu am 17.05.14:
Als studierte Historiker stimme ich dir zu, merke aber kritisch an, dass man natürlich auch immer den spezifischen Kontext bedenken muss...

Auf der gesellschaftpolitischen Eben bemerke sage ich einfach:
(Antwort korrigiert am 17.05.2014)

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 17.05.14:
Den spezifischen Kontext: Du meinst wenn ein Nachkomme von Einwandere auf Einwandere schimpft?

 DerHerrSchädel schrieb daraufhin am 17.05.14:
Nein, ich meine den spezifischen Kontext, der im Gedicht beschriebenen Situation.

Im Gedicht wird eine Gruppen von Lepra-Kranken beschrieben, die durch Rasseln ihre Kommen ausdrücken, woraufhin sich die Menschen vor ihnen zurückziehen.

Sie werden gefürchtet und verabscheut, andererseits war vor 7-800 Jahren die Ausstattung der Kranken mit Rasseln vielleicht auch die einzige Möglichkeit, die Verbreitung der Seuchen einzudämmen. Zumindest wurde das im Mittelalter so gedacht.

Das meine ich mit kontextspezifisch.

 AZU20 äußerte darauf am 17.05.14:
Ich denke auch, dass es darum in erster Linie ging. LG

 TrekanBelluvitsh ergänzte dazu am 17.05.14:
O.k., da Ironie hier nicht ankommt...

Im MA war bei ansteckenden Krankheiten die Ausgrenzung mit Sicherheit die einzige Möglichkeit des Schutzes der Gesunden. Das findet sich heute sogar noch in unserer Sprache wieder.

In Venedig wurden Schiffsbesatzungen, bei denen man glaubte, sie würden eine Krankheit einschleppen, abgesondert und zwar 40 Tage lang. Das italienische Wort für '40' lautet 'quaranta'. Daraus entwickelte sich der heute noch gebräuchliche Begriff 'Quarantäne'.

Allerdings blieb es nicht der bloßen Macht des Faktischen. Krankheiten wurden spirituell gedeutet, die auf Verfehlungen des Kranken hinwiesen, in einem christlichen Umfeld wie dem christlichen Europa im MA zumeist auf vorgebliches unchristliches Verhalten. Und die Deutung dieser Stigmatisierung war mit der Zeit in beide Richtungen verwendbar. Krankheit war nicht nur ein Zeichen für unchristliches Verhalten, Nichtchristen wurden auch als Überträger von Krankheiten gesehen, eben weil sie keine Christen waren. Letzteres fand z.B. seinen Weg vom Antijudaismus in den Antisemitismus.

Man darf auch nicht übersehen, dass die Einsicht, das die Ausgrenzung oft die einzige Möglichkeit zum Schutz vor ansteckenden Krankheiten war (und ja auch immer noch ist), eine Einsicht der modernen Medizin seit dem 19. Jhd. ist. Der überwiegende Teil der Menschen im MA war dazu gar nicht in der Lage, weil ihnen das Wissen über die Funktionsweise von Krankheiten fehlten - was oft auch für die galt, die sich Ärzte schimpften. Darum kann ein solcher Vorgang, wie näherkommenden Kranke, auch nicht ohne die spirituelle Überfrachtung von Krankheit im MA betrachtet werden, quasi als objektive Notwendigkeit, weil das einen durch und durch retrospektive Betrachtung ist.

Was für zynische Folgen eine solche gänzlich spirituelle Betrachtung von Krankheit haben konnte, zeigt ein Blick auf die Geißlerbewegung, die letztlich für einen noch schneller Verbreitung der Pest in Europa sorgte - natürlich alles im Namen des Herrn und der gottgefälligen Buße wegen.


Und damit bin ich bei meinen ursprünglichen Ausführungen: Gerade die Genetik dient Rassisten und Pseudoweltverstehern heute dazu, auf diese Gedankenkonstrukte zurückzugreifen. Die Genetik ersetzt dabei den Gottesbezug. So hat z.B. ein Thilo Sarrazin - Nachkomme französischer Einwandere ins in Religionsfragen tolerante Preußen - eben genetisch argumentiert, warum die Moslems eine Gefahr für Europa darstellen, ähnlich eine Hendryk Broder. Dahinter steckt natürlich nur platter Rassismus, was man schon daran erkennen kann, dass alle Moslems einer 'Rasse' zugeordnet werden, und diese Gedankenwelt lässt sich auf das Gedankenpaar von 'falsches Verhalten=Krankheit und Krankheit=falsches Verhalten' zurückführen.

Man kann und muss den Kontext als sehr viel weiter spannen, auch eben weil du ein Gedicht geschrieben hast und keine historisch klar verortbare Erzählung.

Habe ich erwähnt, dass ich Geschichte studiert habe?

 DerHerrSchädel meinte dazu am 17.05.14:
Mir war schon klar, dass dein Kommentar nicht bierernst gemeint war.

Meiner übrigens auch nicht.

Ein schöner Essay, den du geschrieben hast. Interessante Gedanken.

Viele Grüße

DerHerrSchädel
Bierkuh (33) meinte dazu am 27.05.14:
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 DerHerrSchädel meinte dazu am 27.05.14:
Oh, Bier ist eine sehr ernste Sache...

...weißt du das denn nicht?

Danke dir!
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