Marinas letzter Brief

Brief zum Thema Selbsthass/verletzung/mord

von  AlexxT

Ich bin müde. Ich bin rundweg müde von dieser Welt, die mir keine einzige Chance gibt, mich zu erholen, in dem sie mir immer und immer wieder Schmerz zufügt. Kaum hatte sie Zeit, mir den alten Schmerz zuzufügen, kommt schon neuer.

Schmerz, Schmerz, Schmerz. Gestern Schmerz, heute Schmerz und morgen kommt wieder Schmerz. Und die Zeit heilt nichts. Wie in dieser kleinen Stadt im Norden Russlands, wo wir lebten, als ich noch klein war: Die Spuren des LKWs, der vor zig Jahren einmal über die Tundra fuhr, sind immer noch nicht zugewachsen - und trotzdem fahren Menschen immer und immer wieder genau über die gleiche Stelle.

Ich bin ein Lebewesen. Ein Lebewesen mit dem angeborenen natürlichen Wunsch, mich zu freuen und zu genießen. Und trotzdem habe ich den Eindruck, dass diese Welt extra konstruiert ist, um Leid zuzufügen. Ich habe Angst, zur Schule zu gehen. Ich habe Angst, nach Hause zu kommen. Meine Klasse tut nichts als mir das Leben schwer zu machen, die Erwachsenen schreien, verletzen und schinden mein Gehirn, aus den verschiedensten Anlässen. Verlangen Wissen, das sie selber nicht mehr haben. Verlangen, dass man nach irgendwelchen komischen Regeln lebt, immer wieder zu sich selbst Nein sagt - und wissen selbst nicht, warum. In Wahrheit ist das alles nur Bewegungsträgheit, dient dem Erhalt einer gewissen gewohnten Lebensweise - einfach weil das so ist und Punkt. Nein, noch nicht mal der Lebensweise - des hartnäckigen Anscheins, dass sie funktioniert und für lebendige Menschen irgendwie geeignet ist. Und dass an ihr in der Tat irgendwas Echtes dran ist. Und ihr braucht mir nicht zu versichern, dass dieses ganzen Anschreien, die ganzen Vorträge und die anderen Hirn- und Seelenschindereien nur zu meinem Besten (und zum Besten meiner Altersgenossen) dienen.  Sehr oft schieben Erwachsene die „Erziehung“ nur vor, um einfach nur unsere Probleme an uns Jugendlichen auszulassen. Weil es ihnen mit ihren gewohnten Lebensweise in Wirklichkeit auch nicht gut geht - in dieser angeblich akzeptablen Wirklichkeit, die in Wahrheit randvoll ist mit Schmerz, Bosheit, Unterdrückung, Not und allen Arten von Dreck, die mit dem Feigenblatt der „Bravheit“ überdeckt werden.

Winkt mich nicht ab mit der für euch tröstlichen Phrase, ich sei noch klein und würde wenig verstehen. Ich verstehe das Ganze sehr gut. Besser als ihr es versteht - nein, besser als ihr zugebt zu verstehen, auch vor euch selbst. Und ehrlich gesagt ist mir schon lange ziemlich übel von eurer fauligen, übel riechenden Heuchelei, die fast schon euer einziger... noch nicht einmal Lebensinhalt, sondern einfach nur euer Leben geworden ist.

Alles, was ich in der Stadt sehe, wenn ich meinen täglichen Kreuzweg von zu Hause zur Schule und umgekehrt zurücklege, ist lauter Trug, Leere und Fäulnis. Ja schon, äußerlich wirkt alles gar nicht einmal so schlecht. Aber aus jedem kleinen Riss eurer Fassaden sickert das widerliche Zeug, das ihr wahrer Inhalt ist. Ein Zeug, das man schon deutlich mitbekommt, wenn man von außen aufmerksam hinriecht und wovon man kotzen muss, wenn man drin ist.

Wovon sprach noch mal einer der Autoren eurer Bibel? Von Pauken ohne Spieler, die dumm und sinnlos im Wind rumklimpern? Das ist es nämlich. Euer ganzes Leben ist genau das.

Apropos Bibel. Hätte ich beinahe vergessen. Einige von euch erzählen gerne, dass diese ganze Zeug im Endeffekt durch einen Gott zu erklären und von ihm geheiligt ist. Und dass dieser Gott uns liebt und wir Leid brauchen, um all das Gute anzunehmen, was er uns geben will. Müsst ihr denn selber nicht lachen? Ich denke, er ist allmächtig? Wenn ja, könnte er uns leicht auch ohne Leid das Gute geben, das er uns geben möchte, anstatt „durch das Leid“. Und wenn er es anders gewollt hat, ist er einfach nur ein Sadist. Oder aber, er ist nicht allmächtig - aber dann hat er seine Stellung schlicht nicht verdient.

Heute Nacht gehe ich zum Strand. Im Moment ist das Meer hier in Sotschi selbst in der Nacht noch warm und sanft. Sicher, man kann bei Mondschein schlecht braun werden - aber eine Leiche soll ja auch fahl sein. Eine Weile werde ich einfach in aller Ruhe auf dem Sand liegen, mit dem Körper halb im Wasser. Und dann - dann werde ich mir unter der Wasseroberfläche die Schlagadern öffnen. Mein Körper wird von einer plötzlichen, aber angenehmen Schwäche erfasst werden, ein sanfter Nebel wird mein Bewusstsein umhüllen, und ich selbst werde einfach dahinschmelzen im sanften Meer und dem kommenden sanften Tod. Und am Morgen wird man meine fahle, blutleere Leiche finden, sogar erstaunlicherweise im sauberen Sand - obwohl, wer weiß, vielleicht wird er nicht völlig sauber.

Heute Nacht werde ich ein letztes Mal wirklich entspannen und genießen. Und dann werde ich für immer entspannt sein.

Und wenn nicht? Wenn es wirklich ein Danach gibt? Ehrlich gesagt ist mir das egal, solange ich nicht weiter euren Gestank einatmen muss. Hölle? Und wenn. Selbst wenn die Kirche die Wahrheit sagt und ich wirklich schon für den Suizid dahin komme, von den anderen Sünden ganz zu schweigen. Wenn das so ist, ist Gott wenigstens ehrlich in seinem Sadismus. So was kennt noch nicht einmal diese Welt: Einen Menschen nur dafür bestrafen, dass er den Schmerz und die Sinnlosigkeit nicht ausgehalten hat... Und wenn alles, was die Kirche sagt, die Wahrheit ist, sitzt in der Hölle so eine Unmenge Leute, dass es nicht unmöglich sein kann, irgendwann einmal eine Rebellion zu organisieren. Und den Hauptsadisten des Universums dorthin zu bringen, wo er, wenn man recht darüber nachdenkt, eigentlich weit eher hingehört als irgend ein Anderer. Sogar eher als Satan, den dieser Gott nicht nur geschaffen hat - meinetwegen - sondern ihm auch irgendwie ziemlich viel erlaubt. Immerhin hatte er übrigens als Einziger die Intelligenz und die innere Freiheit, sich die Frage zu stellen, ob dieser seltsame Gott wirklich so durch und durch gut und wunderschön ist.

Ich weiß, wie gern Leute mit einem religiösen Gehirnsyndrom, auch mit dem orthodoxen, die fürchterlichen Qualen schildern, unter denen die Ungerechten sterben. Aber ich werde keine solchen Qualen haben. Warum? Natürlich tut es weh, die Schlagadern zu öffnen - aber dann löse ich mich einfach auf und fertig. Ich glaube nicht, dass die Trennung von Seele und Körper - wenn Ersteres überhaupt existiert - so viele Schmerzen verursacht oder irgendwie schrecklich ist.

Ihr braucht mir auch nicht mit den Horrorgeschichten von der Verwesung zu kommen, die auf Seiten wie pobedish.ru detailgetreu erzählt werden. Ja, ich weiß, dass ich zu einem fahlen, stinkenden, widerlichen Etwas werde, das vor aller Augen vergammelt und zerfällt. Und ihr werdet sehen, was eure ganze Moral, all eure Werte, Bräuche, Fassaden etc. wirklich wert sind. Weil das genau das ist, wozu mein Körper wird.



In Ewigkeit nicht eure



Marina


Anmerkung von AlexxT:

Ich will damit weder jemanden in seinem Glauben angreifen noch zum Suizid raten. Die Meinung der Hauptperson ist nicht unbedingt die Meinung des Autors - aber ich denke, das ist hier auch jedem bekannt :)

Dieser Text wurde von mir ursprünglich in Russisch verfasst und liegt hier in eigener Übersetzung bzw. Neuformulierung vor.

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Kommentare zu diesem Text

Nimbus (41)
(16.12.14)
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 AlexxT meinte dazu am 16.12.14:
Na ja, ich denke, das mit dem "Und" ist einfach Geschmackssache :) Herzlichen Dank für die positive Rückmeldung und die Empfehlung! :)
Nimbus (41) antwortete darauf am 16.12.14:
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 Dieter_Rotmund (16.12.14)
Das Genre "Suizidgeschichte" ist bei kV in den letzten Monaten sehr aus dem Mode gekommen, jedenfalls bei den Prosatexten, was keine Bewertung sein soll, nur eine Bemerkung.
Handwerklich ist am Text wenig auszusetzen, hier und da vielleicht etwas zu redundant. Vorwerfen kann man, dass das inhaltlich "olle Kamellen" sind, will sagen: So oder ähnlich schon 1000mal gelesen. Selbstmitleid als Grundtenor ist nun man per se nicht sehr unterhaltsam. Erzählt wird eigentlich wenig bis gar nichts, das ist schade, da könnte mehr sein, finde ich.
Gut getroffen ist der pubertäre Zug der offenbar sehr jugendlichen Protagonistin, die alles zu verstehen und durchschauen glaubt, vor allem spiegelt das die Unterscheidung "die Erwachsenen" vs. "wir Jugendliche" gut wieder.
Alex T., Deine russischen Texte kann ich nicht lesen, aber ich werde mal die Augen aufhalten, falls wieder ein deutschsprachiger Prosa-Text von Dir auftaucht.

 AlexxT schrieb daraufhin am 16.12.14:
Ich kann mir vorstellen, dass das so oder ähnlich schon oft gelesen wurde. Weil das Thema und die dahinter stehende Wahrheit jedoch leider nach wie vor eine traurige Aktualität aufweisen, bewegen sie mich immer noch. Zumal in dem Land, in dem diese Geschichte spielt. Und ich finde auch, dass das Ganze mehr als nur Selbstmitleid ist: Wer sich ernsthaft umbringen möchte, hat mehr als nur das, da ist eher Verzweiflung oder Depression. Weniger als das kriegt einen nicht über die natürliche Anti-Suizid-Hemmschwelle. Ja, die Protagonistin ist in der Pubertät - generell ein Thema, das mir sehr wichtig ist :) An pubertärem Verhalten ist nämlich mehr ernst zu nehmen als viele glauben. Ich finde zum Beispiel auch hier, dass ständige Verletzungen und das Gefühl genereller Sinnlosigkeit durchaus auch plausible Gründe für Erwachsenensuizid sind (und wenn wer bei Ersterem überempfindlich ist, ist er vermutlich depressiv oder ein spezieller Mensch). Danke für deine Aufmerksamkeit und liebe Grüße, Alex

 Dieter_Rotmund (26.05.20)
(neuerliche Bewertung)
Ein Brief, in dem die Verfasserin ausschließlich ihre eigene Befindlichkeit in wolkig-blumiger Weise schildert? Was soll das? Wieso ist es dir so wichtig, die Verfasserin derart unsympathisch darzustellen? Verstehe ich nicht.

Kommentar geändert am 26.05.2020 um 17:16 Uhr
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