Maler der Mönche, ich komme

Erzählung zum Thema Tränen

von  toltec-head

Gleich nach dem Aufstehen erst einmal schneller Blick aufs Tablet, vielleicht findet sich ja eine Ausrede. Immer noch keine Flüchtlingshorden, die plündernd durch Fußgängerzonen ziehen, also Zurbarán. Aber wird man so bequem. Früher, ja früher. Früher hätte ich für nach der Ausstellung einen Saunabesuch in Essen oder Köln eingeplant, um nach alt bewährtem Rezept nach alten jungen Meistern in die Arme zu fallen. Tempi passati mein lieber passer Catulli. Heute Hauptsache 11 Zuhause im Bett. An die Stelle von Sex treten immer mehr Texte für kV. Ein Irrsinn löst den anderen ab. Früher in Jungens, löse ich mich jetzt in Buchstaben auf. Der sinnlichen Verschwendung folgt die sinnlose. Zeit fürs Kloster. Maler der Mönche, ich komme.

Früher. Früher hätte ich nach dem Einsteigen erst einmal  auf der Suche nach Augen- oder potentiellem Fußsex genüsslich Abteil für Abteil durchquert. Heute freue ich mich wie ein altes Waschweib auf den ersten freien Sitz und den ungestörten Blick aus dem Fenster. Die Strafe folgt auf den Fuß: Eine Familie (Vater, Mutter, pubertierender Sohn, pubertierende Tochter) lässt sich gegenüber dem Mönch auf einem Vierer nieder und beginnt sofort mit Familiengeschwätz. Früher wäre sofort mein Testosteron aufgeschäumt und ich wäre ins nächste Abteil gegangen. Heute - geschieht ein Wunder. Ich bleibe sitzen und fange an, das Familiengeschwätz quasi als Kontrastprogramm zu genießen. Und ist es nicht wirklich eine sehr schöne Familie! Die Frau deutlich jünger, die beiden Teenies sehr harmonisch, der Junge im Stimmbruch und mit süßen Pickeln.

Schon werden die Karten gezückt. Es sind Playboy-Karten, die der Junge mitgebracht hat, was zur allgemeinen Erheiterung beiträgt. Papa wünscht sich bitte nur Karten mit nackten männlichen Oberkörpern und blinzelt zu mir hinüber. Der Junge fragt seine Mutter, wenn es denn seine Mutter ist, ob sie 21raus kenne. Schon davon gehört, hat sie. Na, schau an. Tolstoi: Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. Nabokov: Es ist alles ganz anders: Alle unglücklichen Familien sind einander ähnlich, jede glückliche Familie ist glücklich auf ihre Weise. An das Glück einer Patchworkfamilie auf dem Weg zum Strandurlaub in der Türkei hat niemand von beiden gedacht. So ist es: Das wahre Glück steht immer außerhalb jeder Literatur. Schon huscht die Porta Westfalica draußen im Nebel vorbei. Die Beobachterrolle bleibt wie vielleicht auch beim Sex die Königsrolle. Ich glaub, ich brauch erst einmal einen Kaffee.

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Kommentare zu diesem Text

Abulie (45)
(13.11.15)
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