Stalking

Geschichte zum Thema Literatur

von  KayGanahl

Sie lief ihm nach. Das war nicht zu übersehen. Ich beobachtete beide, wie sie auf dem Bürgersteig - eine junge, etwa zwanzigjährige Frau hinter einem eher Fünfzigjährigen -  unterwegs waren. Die im Ort als "Büchertante" verschriene Frau, die sich vorgenommen hatte, diesen Menschen für sich selbst zu vereinnahmen, ließ seit Tagen nicht locker. Sie hatte dies ja überall verkündet. Und er konnte das, was sie tat, so nahm ich in diesen Augenblicken als Beobachter an, nur als Stalking wahrnehmen. Ich beobachtete ganz genau: Sie war jetzt nur ein paar Meter hinter ihm. Ihr gelber Jeansrucksack, in dem sie irgendetwas Schweres transportierte, war an der Seite schon leicht eingerissen. Schaute ein Buch heraus? In ihrem verzerrten Gesicht las ich die blanke Wut. Ich dachte aber nicht, dass sie Böses beabsichtigte, denn sonst hätte ich eingreifen müssen. Der verfolgte Hans blickte sich nervös um, wenn nicht sogar etwas ängstlich. Was er wohl dachte? Sie stieß dann einen Fluch aus, woraufhin er weiterstrebte. Offensichtlich stark verunsichert. Dann geschah es: Sie nahm den Rucksack herunter, um ihn dem Mann in den Rücken zu werfen, so dass dieser vornüber auf den Bürgersteig stürzte. Er schrie laut auf. Alsdann fiel sie über ihn her. Die sportliche junge Frau setzte ihm ordentlich zu. Er wehrte sich kaum dagegen. Seine Hilfeschreie hörte keiner, nicht einmal ich. Jedenfalls wollte ich ihm nicht helfen. Und so machte sich bei mir das schlechte Gewissen bemerkbar. Ich lief zu beiden, und dann riss ich den gelben Rucksack von beiden weg. Ich öffnete ihn in einem nahen Hauseingang. Was ich an Sachen erblickte, erstaunte mich durchaus: Einige Bücher. Durfte mich das denn erstaunen - ? Sie war doch die "Büchertante". Der Kampf der beiden ging ohne mein Eingreifen weiter, noch lauter gar. Und ich setzte mich mit einem der Bücher in Händen auf die Treppe des Hauseingangs, wo ich mich in die schön gedrechselten Sätze dieses Goethe vertiefen konnte ...

Copyright By Kay Ganahl, 2016.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(23.08.18)
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