Die Kinder haben sie fort geschickt

Text

von  kalira

Die Kinder haben sie fortgeschickt, die Alten sind trotzdem gestorben. Die, die übrig geblieben sind, sind Menschen wie du und ich. Wir haben uns entweder nicht infiziert und sind durch ein ausgezeichnetes Immunsystem gekennzeichnet oder wir waren infiziert, sind genesen und nun immun aufgrund körpereigener Antikörper. Die Altersspanne der Übriggebliebenen reicht von Mitte Zwanzig bis Mitte Fünfzig. Das Alter war für das Erkranken und Sterben nicht allein verantwortlich. Der noch vor Monaten befürchtete demografische Wandel ist abgewandt. Die hochaltrige Generation stirbt, ist zum Großteil weltweit bereits ausgestorben. Menschen wie du und ich begleiten sie. Wir legen die ultrasterile Einmalbettwäsche aus, wir marschieren wie Drohnen zwischen den  Betten umher, wir streichen Haare aus dem Gesicht, wir empfangen die tausenden Neuankömmlinge, begleiten die Transporter, wie wir sie nennen, bis zu den Betten, weisen ein, als wiesen wir Autofahrern den Parkplatz auf dem Altstoff- und Entwertungshof zu. Wir wenden und waschen, wir wechseln Laken, wenn überhaupt jemand so lange am Leben bleibt, dass ein Wechsel notwendig wird. Wir begleiten die Transporter aus der Halle hinaus, hinein in die Desinfektionsschleuse. Die Neuankömmlinge begleiten wir bis wir sie schließlich verabschieden. Dann übernimmt ein anderer TT. Die Abkürzung für Transportertrupp hat sich nach nur einem Tag etabliert.

Wohin sie die Kinder gebracht haben, weiß ich nicht. Es gibt Gerüchte, es kreisen Geschichten. Niemand weiß etwas, nicht einmal die Eltern der Kinder, sofern sie noch am Leben sind, haben eine Ahnung. Die öffentlichen TV-Sender sind bereits vor Wochen zusammengebrochen. Es gab keine Mitarbeiter mehr, die sich hätten vor die Kamera stellen können oder die Kamera bedienen oder die Informationen einholen und aufbereiten. Wer kann, versucht Informationen aus dem Netz zu fischen. Wer diese Informationen allerdings streut, weiß wiederum auch niemand. Die Drohnen surren tagein, tagaus. Die Arbeitsanweisungen erhalten wir direkt auf unsere Nachrichtenbänder. So ein Band hat jeder, der wie du und ich zugewiesen und ausgebildet worden ist, um den Arm gelegt bekommen. Man kann das Band nicht öffnen, nicht durchschneiden, nicht zerreissen. Sie orten uns, sie sehen uns, sie hören uns, sie führen uns, sie bestimmen.
Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich surrend die schmalen Flure durch die Halle ablaufe.

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