Stengeleseis

Tagebuch zum Thema Anpassung

von  tulpenrot

So konnte man im Sommer als Ankündigung beim Dorf-Metzger lesen. Er hatte sein Angebot zur Mittagszeit erweitert. Es gab also nicht nur Schnitzel mit Gurken-Kartoffelsalat als (halb)warme Mahlzeit, sondern auch Stengeleseis. Ich musste zweimal hinschauen und lange überlegen, was das wohl war. Ich habe es nie gekauft, weiß also immer noch nicht, wie es schmeckt. Auch das Schnitzel kaufe ich sehr selten, den Kartoffelsalat schon eher. Er war „schwäbisch“ angemacht; ich denke mal, dass das Rezept echt schwäbisch ist, ohne Zwiebeln, aber mit Brühe und reichlich Pfeffer. Sehr saftig. Allerdings war er mir mit der Zeit zu saftig und oft zu pfeffrig, die Kartoffeln schwammen regelrecht in der viel zu salzigen Brühe. Bei Emma, einer älteren Einheimischen, die uns früher öfter einlud, schmeckt er mir besser. Kartoffelsalat gehört zu jedem Mittagessen hier im „Länd“ dazu. (Kennt man nicht? „Länd“ statt „Ländle“ ist eine seltsame Werbung der Landesregierung um Fachkräfte aus aller Welt. Ich finde „Ländle“ sympathischer.)

   Ich kenne mich immer noch nicht so richtig aus hier, was die Essgewohnheiten angeht. Und auch sonst fällt es mir schwer, mich heimisch zu fühlen. Aber das ist ein persönliches Gefühl, ein Manko, ein grundsätzliches Problem. Mein Leben besteht seit jeher immer nur aus „zugereist sein“, nie gehörte ich von Anfang an dazu, ob es die Wohnorte sind, ob es die Kirchen-Gemeinden sind, die Bibelkreise, ob es die Musik-Ensembles sind. Alle anderen Teilnehmer kennen sich schon jahrzehntelang, haben ganze Lebensphasen mit einander durchgestanden, kennen das ganze Dorf, das Wohnviertel. Nur ich bin Außenseiter, kann nicht „mitschwätze“, wenn es um Dinge geht wie „wer hat wo gebaut?“, „wer hat wen geheiratet“, „wem gehörte das ‚Stückle‘ dort am Hang und wann wurde es verkauft“, „weshalb weiden jetzt da hinten am Dorfende Kamele, wem gehören die?“ oder „weiß jemand etwas Neues über die kürzlich gestohlenen Kängurus?“. Darüber kann man stundenlang sinnentleert reden, so scheint es.

   Zurück zum Stengeleseis. Das war gestern der „Burner“. Naja, und der Grieche neben dem Metzger auch. Das Stengeleseis und der Grieche, die beiden waren unsere Retter. Sonntags darf ich nämlich mit meiner Tochter einen Ausflug machen, jedenfalls solange sie noch nicht so viel Mut hat, alleine im Auto unterwegs zu sein. Ich genieße es, denn ich kann leider nicht mehr Auto fahren. Die Schwäbische Alb sollte es werden. Nach einer Stunde Fahrzeit parkten wir vor einem besonders guten, ausgesuchten Café. Die Frühlingssonne schien von einem strahlend blauen Himmel, wir freuten uns auf guten Kaffee oder Tee – das war noch nicht ausgemacht – auf irgendeinen ausgesucht schmackhaften Kuchen und natürlich einen Eisbecher – warm genug war es ja an diesem Frühlingsanfangs-Sonntag. Und auf ein geschmackvoll eingerichtetes Ambiente. Naja, es würde einiges kosten, aber warum nicht? Wir leben sonst sehr sparsam. Das Vergnügen sollte uns das wert sein.

   Doch das Café hatte geschlossen. So ein Pech aber auch. Also auf zu dem nächsten Café im Ort. Das ist das genaue Gegenteil vom ersten: Die Einrichtung aus dem letzten Jahrhundert, viel Trödelkram überall im Raum, ein selbstgemachtes Solitärspiel aus Glasmurmeln und einem hölzernen Vesperbrett, mit dem sich der Gast die Wartezeit verkürzen kann, und zwei alte Leute, die das Ganze mit den beiden nächsten Generationen betreiben. Und selbstgemachte Schwarzwälder Torte. Die schmeckt sogar ganz gut. Eine zischende Kaffeemaschine, die auch Cappuccino machen kann, bringt ein bisschen moderne Technik in die Gaststube. Der alte Besitzer – ob er noch lebt? – hat uns in das Solitärspiel eingewiesen. Wir kannten es allerdings schon, sagten wir ihm. Aber er verstand uns nicht, lesen schien er noch zu können. Denn als er genug mit uns geredet hatte, setzte er sich mit der Tageszeitung an einen Tisch, während die Frauen den Cappuccino machten und die frische Torte anschnitten, las ein bisschen und schlief ein. Er schnarchte hörbar, trotz Kaffeemaschine. So war es also vor etwa 4 Jahren. Und jetzt? Natürlich: Es hatte auch geschlossen. Mir wurde klar: Es war ja noch nicht Ostern, man rechnete hier generell noch nicht mit Gästen. Der Ort schlief seinen Winterschlaf. Das hatten wir vergessen.

    Einen Ausweg gab es noch: Stengeleseis? Ja, das wär’s! Also weg von unseren hohen Ansprüchen, dem Machbaren ins Auge sehen. Vielleicht haben wir Glück. Im Ort gibt es einen Klettergarten und eine Sommerrodelbahn. Ob die geöffnet haben? Wir stiegen wieder ins Auto und fuhren zu dem Gelände. Schon von weitem sahen wir: Hier herrschte reger Betrieb. Und hier gab es Stengeleseis. Sogar unsere Lieblingssorten! Welch eine Freude! Wir setzten uns ins von der Sonne warme Auto, ließen es uns schmecken und lachten uns kaputt. Wie schnell sich die Ansprüche herabschrauben lassen und ein gewöhnliches Industrieeis von der Stange zum Leckerbissen wird und unser Auto zum gemütlichen Platz an der Sonne mutiert!

    Wir überraschten uns noch einmal: Statt zu Hause unser Abendbrot zu essen, kehrten wir nach unserer Heimfahrt ganz ungewohnt und spontan beim Griechen ein, eine Gaststätte im Dorf, in der vor allem meine Tochter gerne isst. Ich könnte jedoch genauso gut nebenan beim Türken ein Kebab essen, dachte ich boshafterweise, sagte aber nichts und stellte mich auf „Genuss um jeden Preis“ ein. Das Niveau ist dasselbe – fast. Der kleine braune Pudel des Hauses begrüßte uns freundlich an der Tür ohne zu bellen. Er sprang an mir hoch – aus Freude? Das machte er auch später immer wieder, als ich in Ruhe meinen Salat essen wollte, wohl voller Erwartung, dass ich etwas für ihn hätte. Die Wirtin kommentierte das Gehabe des Hundes mit den Worten: „Er mag Sie offensichtlich.“ Ich war auf diese Liebes-bezeugungen nicht sehr erpicht. Mit meiner Tochter gab er sich nicht ab, nur ich war sein Ziel. Die anderen Gäste ignorierte er. Die Wirtin fragte, ob ich Tiere im Haus hätte, anders konnte sie sich das Verhalten nicht erklären. Ich habe aber keine Tiere in der Wohnung. Natürlich bin ich trotzdem schuld an dieser misslichen Lage. Wie immer in meinem Leben. Seltsam. Der Pudel gehorchte der Wirtin nur widerwillig, als sie ihn ermahnte von mir abzulassen. Ich kenne mich mit Hundehaltung nicht so aus und überlegte krampfhaft, was das sein könnte, was mich für ihn so anziehend macht. Mir fiel nichts ein. Ich bin doch nur eine alte gewöhnliche Frau. Mir war etwas unwohl, rebellierte aber nicht, ertrug die „Unbill“ stillschweigend, kommentarlos. Ich wollte niemandem die Laune verderben. Mir wird ja oft nachgesagt, dass ich bei jeder Gelegenheit etwas zu kritisieren hätte. Das wollte ich heute Abend jedenfalls vermeiden.

    Aus dem Nichts erschien plötzlich eine junge, noch unbeholfen wirkende, aber sehr freundliche Servicehilfe. Sie trug unser verdrecktes Geschirr ab, verlor dabei aber eine der benutzen Servietten. Das kann ja mal passieren. Dass sie aber danach noch zweimal die Wegstrecke zur Küche und wieder zu uns lief und dabei die Serviette, die meiner Meinung nach unübersehbar auf dem Boden lag, ignorierte, war mir unverständlich. Ich sagte nichts. Wieder um dem Vorwurf zu entgehen, dass ich ja immer was zu meckern hätte.

    Und so wurde es ein harmonischer Abend und ein nächtlicher Heimweg unter einem strahlenden Sternenhimmel („Schau mal, da drüben ist der Orion“) zu Fuß mit Rollator. Meine Tochter umarmte mich, bevor sie nach oben in ihre Wohnung ging. Anscheinend hat es ihr gefallen. Und ich habe danach gut geschlafen mit Stengeleseis und griechischem Salat im Bauch. Nur daran erinnere ich mich seit diesem Sonntag. War da sonst noch was?

 

*Eis am Stiel, Mundart, alte Schreibweise



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