Bis zu meinem 19. Lebensjahr verbrachte ich mein Dasein in einem Lügengebäude, das sie Welt nennen. Wer sind sie? Alle. Alle Großen: Staatsleute, IWF und WHO, Geistliche, die Wissenschaft, die Medien. Und alle Kleinen: Lehrer, Nachbarn, Stammtischbrüder und Kollegen, meine Eltern. Die Kleinen lügen natürlich noch schlimmer als die Großen, weil sie die großen Lügen, die sie nachplappern, nicht einmal mit ihrem Verstand fassen können, die Lügen aber noch viel dringender brauchen, damit sie die Ohnmacht nicht spüren müssen. Ich werde später noch darauf zurückkommen. Mein 19-jähriges Ich gehörte zu den Kleinen und mit den Großen hatte ich wenig zu tun, das waren nur Namen und Buchstabenkürzel, es waren die anderen Kleinen, die mich seit meiner Geburt und an jedem Tage meines Daseins belogen. Aber mit 19 war Schluss damit. Im April 1986, ich hatte gerade meine schriftlichen Abiturprüfungen hinter mich gebracht, verließ ich Deutschland.
Der Grund für meine Reise war natürlich eine Lüge, die größte, hartnäckigste Lüge überhaupt: die sogenannte Liebe. Ich reiste einem Mädchen hinterher. Es gibt über dieses Mädchen nicht viel zu sagen. Ich kann mich nicht daran erinnern, warum sich mein 19-jähriges Ich einbildete dieses Mädchen zu lieben. Es war nicht besonders schön oder beliebt, es war auch nicht besonders klug. Halt. Dass ich nicht weiß, warum ich glaubte dieses Mädchen zu lieben, war natürlich eine Lüge. Natürlich weiß ich es. Es schmeichelt mir nicht. Ich glaubte das Mädchen zu lieben, weil ich glaubte, dass es mich bewunderte. Ich war damals ein ganz gewöhnlicher Mann, dessen Dasein in einem Lügengebäude festhing und zu diesem Lügengebäude gehörte, dass ich mich gut fühlte, wenn ich glaubte, bewundert zu werden. Das Mädchen hieß Swetlana und war Russlanddeutsche aus Kasachstan. Swetlana war in ein Lügengebäude hineingeboren und in ein anderes verfrachtet worden. Doch, ich muss sagen, dass sie vielleicht klüger war, als ich damals annahm. Immerhin lebte sie nicht in einem Lügengebäude, sondern in seiner Ruine. Ihr Fehler war zu glauben, dass es zwei Lügengebäude gebe und nicht ein großes, weltumspannendes. Trotzdem muss ich ihr zugestehen, dass sie damals einen Gedankenschritt weiter war als ich. Jedenfalls reiste Swetlana im April 1986 in die UDSSR, weil sie es im Lügengebäude des Westens nicht mehr aushielt und ihre Oma in Kasachstan besuchen wollte. Ich selbst bin in Kasachstan nie angekommen.
Ich lebe noch heute in einem Loch, in das man mich warf, um das Lügengebäude nicht zu gefährden. Ich schreibe diese Zeilen aus diesem Loch heraus. Aus dem Herzen der Ukraine. Aus diesem Loch irgendwo bei Tschernobyl.
Sie haben erzählt, dass die Menschen an der Strahlenkrankheit starben oder an Krebs. Das ist eine Lüge. Kein Mensch, der mit der Strahlung in Kontakt kam, ist heute tot. Wir werden versteckt. Wir fristen unser Dasein, erleuchtet durch die atomare Strahlung, in einem Loch. Unsere Beerdigungen waren vom KGB inszeniert. Natürlich haben die westlichen Geheimdienste dem KGB ihre Zustimmung gegeben. Die Gefahr, die von Tschernobyl ausging, war um so vieles größer als der Tod eines Menschen, sogar größer als der Tod vieler Menschen oder der Tod eines ganzen Volkes. Die Gefahr heißt Erkenntnis. Wir, die Verstrahlten haben erkannt, um was es im Leben wirklich geht. Unsere Erkenntnis wäre in der Lage, das Lügengebäude namens Welt einstürzen zu lassen. Deshalb hat man uns in dieses Loch gesteckt. Dieses Loch ist der eigentliche Grund für den Krieg in der Ukraine. Putin traut Selenski nicht zu, die Welt vor unserer Erkenntnis zu schützen und Selenski traut es Putin nicht zu. Und beide haben sie Recht damit.