Literarische Rätsel 10

Ansprache zum Thema Erkenntnis

von  EkkehartMittelberg

Manche meinen, dass die österreichische Literatur nach 1945 mit ihr begonnen habe. Als Verlagslektorin für S. Fischer konnte sie literarische Erfahrungen sammeln.

Mit einer reflektierenden Kurzgeschichte gewann sie den Preis der Gruppe 47.

Man kann streiten, ob ihr Mann oder sie literarisch prominenter waren. In ihrem einzigen Roman spiegelt sie mit dem Schicksal einer Halbjüdin im Nationalsozialismus ihr eigenes Schicksal.

Ihre selbstreferentiellen Prosaerzählungen kreisen um die Spannung zwischen Traum und Realität sowie zwischen Freiheit und Zwang.

Ihr Misstrauen in die Sprache als Ausdrucksmittel führte sie zu subversiver Sprachkritik.

Sie erreichte das biblische Alter von 95 Jahren.



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (30.06.23, 07:21)
I. A. gehört für mich zu den weltbesten Dichterinnen. (Die Prosa kenne ich kaum.)
Ohne jedweden Schnickschnack, in strengster Verdichtung, hinterlässt sie ein eher schmal bemessenes Werk.
Das aber unübertroffen großArtig!

Liebe Grüße
Piccola

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.06.23 um 09:29:
Merci Piccola, ich stimme dir voll zu. Bin gespannt, wer sie hier noch kennt.

Liebe Grüße
Ekki

 Saira antwortete darauf am 30.06.23 um 10:34:
Lieber Ekki,

schön, dass du auch an diese bemerkenswerte Autorin erinnerst.

Sie erlangte mehr Berühmtheit als ihr Mann G.E., der als Hörpielautor und Lyriker bekannt war.

Liebe Grüße
Sigi

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 30.06.23 um 11:01:
Grazie, Sigi,
sie waren beide gleichermaßen anerkannt. Ich möchte ihr bekanntestes Werk, die Spiegelgeschichte, hier noch einmal vorstellen:
"Die Spiegelgeschichte von  Ilse Aichinger wurde 1949 verfasst und im August desselben Jahres in vier Folgen in der Wiener Tageszeitung veröffentlicht. Die Autorin erhielt 1952 für dieses Prosastück den Literaturpreis der  Gruppe 47. Die Geschichte handelt von einer  Frau, deren  Lebensgeschichte rückwärts erzählt wird. Am Anfang und am Ende der Geschichte steht der  Tod. Eine außenstehende Stimme erzählt der jungen Frau in der „ Du-Form“ ihr Leben.
Analyse[ Bearbeiten |  Quelltext bearbeiten]
Ilse Aichingers Kurzgeschichte Spiegelgeschichte behandelt den Zeitraum zwischen Geburt und Tod einer Frau in umgekehrter Reihenfolge. Es handelt sich hierbei um einen epischen Prosatext der Spezialgattung Kurzgeschichte. Dies ist am offenen Anfang der Geschichte und dem Vorhandensein einer einzigen Hauptfigur zu erkennen. Die Geschichte wird von einem  auktorialen Du-Erzähler erzählt, meist im Präsens Indikativ mit Zukunftsreferenz, stellenweise auch im Imperativ [„Geh jetzt, jetzt ist der Augenblick ...“]. Der Erzähler kommentiert die Handlung und ist allwissend, was die auktoriale Erzählsituation ausmacht. Die Geschichte wird aus der Innensicht der Figur vermittelnd erzählt (Telling). Dies erkennt man an der detaillierten Beschreibung der Gefühlswelt der Hauptfigur (Innenansicht), jedoch ist der Erzähler allwissend und beschränkt sich nicht nur auf das Wissen der Hauptfigur (Telling). Die Handlung wird berichtend erzählt, jedoch verläuft die Handlung nicht kontinuierlich. Belege dafür findet man häufig an Stellen, in welchen Personen miteinander interagieren. So ist die Szene, in der die Bestatter den Sarg öffnen, vorwärts gerichtet, obwohl die Geschichte rücklaufend erzählt wird. Auch die Szene mit der „Alten“ ist ein Beweis für die Diskontinuität, da sie, so wie sie im Text steht, logisch ist, jedoch nicht zu der Erzählform, die rückwärts läuft, passt. Die Erzählstruktur ist auf einen Erzählstrang beschränkt. Es finden sich auch  Vorausdeutungen und  Rückblenden, etwa unmittelbar am Anfang: „Wenn einer dein Bett ...“. Da es sich um eine Kurzgeschichte handelt, die vom ganzen Leben einer Frau handelt, muss die Geschichte notgedrungen in Zeitraffung erzählt werden. Die Lesezeit ( Erzählzeit) beträgt etwa 5 bis 8 Minuten und die erzählte Zeit ein ganzes Leben. Als  Symbole und  Chiffren finden sich in der Geschichte u. a. der grüne Himmel, die Schiffe, die gelben Blumen und vor allem der blinde Spiegel. Der blinde Spiegel wäre näher zu erläutern, da er die Diskontinuität der Geschichte rechtfertigt und somit das Absurde wieder geraderückt." (Wikipedia)

 Graeculus äußerte darauf am 30.06.23 um 15:47:
Ich kannte nichts von ihr. Aber als ich bei Niklas Stiller ("Ein Requiem für Dich") gelesen habe, wie jemandem in der Du-Form sein Tod geschildert wird, hielt ich dies in der Form für sehr originell.

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 30.06.23 um 17:44:
Wurde "Ein Requiem für dich" durch die Spiegelgeschichte ausgelöst?

 Graeculus meinte dazu am 30.06.23 um 19:46:
Das weiß ich nicht. Niklas Stiller war (ist?) ein Düsseldorfer Arzt, der damals literarisch aktiv war, u.a. mit der sogenannten Litfaßliteratur, kleinen Texten an Litfaßsäulen.

 Graeculus meinte dazu am 30.06.23 um 19:54:
Schau mal:

Niklas Stiller: Ein Requiem für Dich (1978):

[...] Du liegst seit einigen Wochen elend im Bett. Du ißt nicht, trinkst wenig, du wirst größtenteils durch die Vene ernährt. Du bewegst dich kaum. Flach atmend, mit grauem Gesicht, eingefallenen Wangen, offenstehendem Mund, liegst du da, die Bettdecke wird von den Krankenschwestern bis unter dein Kinn gezogen und bleibt so, stundenlang.
Stuhlgang hast du nicht; dein Urin läuft andauernd in geringen Mengen durch den einen Strang eines doppelläufigen Gummischlauchs von der Dicke eines Bleistifts. Dieser Schlauch ist durch deinen Penis bis in deine Blase hochgeschoben worden; und durch den zweiten, viel dünneren Strang des Schlauchs ist dann Luft in eine kleine Gummiblase gepumpt worden, die am oberen Ende angebracht ist und das Herausrutschen des Schlauchs verhindert. Durch den Schlauch läuft der Urin in einen kleinen viereckigen, durchsichtigen Nylonsack, der an einem Haken an der Seite des Bettes hängt.
Du bist nur noch ab und zu bei vollem Bewußtsein, und du hast zu hoffen aufgehört.
Neben deinem Bett auf einem Gestell an der Wand steht ein automatisches Überwachungsgerät, ein Monitor. Auf deine Brust sind drei Elektroden mit Pflasterungen aufgeklebt, von denen Kabel zur Hinterseite des Geräts laufen. Der Monitor hat vorn einen kleinen runden Bildschirm aus Glas, auf dem ein grüner Lichtpunkt von rechts nach links wandert und dabei leuchtende Kurvenlinien schreibt, die hinter dem weiterwandernden und weiterschreibenden Lichtpunkt allmählich wieder verblassen. Die Kurven, die auf dem Oszillographenschirm entstehen, sind ein Elektrokardiogramm, mit dem die Impulse deines Herzens laufend aufgezeichnet werden. Immer wenn der Lichtpunkt den linken Rand des Bildschirms erreicht hat, springt er ohne Verzögerung zurück zum rechten Rand und schreibt weiter, dort wo das soeben beim letzten Durchlauf Geschriebene inzwischen verblaßt ist.
Wenn der Rhythmus deines Herzens zu langsam wird, wird eine Klingel draußen auf dem Flur der Station in Gang gesetzt.

In einer Nacht tritt eine akute Verschlechterung deines Zustandes ein. Dein Atem setzt aus. Der Lichtpunkt des EKG zeichnet eine Serie von unregelmäßigen Zacken. Der Atemmangel führt in deinem Organismus sofort zu einer allgemeinen Unordnung. Dein Herz hört auf zu schlagen. Draußen auf dem Flur schlägt die Klingel an.
Das Elektrokardiogramm geht zur Nullinie und bleibt dort, der grüne Lichtpunkt läuft auf einer geraden waagerechten Linie von rechts nach links, von einigen kleinen plötzlichen Spitzen und Bogenschwankungen abgesehen, die nicht mehr wichtig sind. Dein Kreislauf ist zusammengebrochen, auch in den Blutadern in deinem Kopf kommt das Strömen zum Stillstand, und du verlierst das Bewußtsein. Die Pupillen werden weit in deinen Augen.

Die Nachtschwester kommt ins Zimmer. Sie hat die Klingel abgestellt. Sie schaut auf den Oszillographenschirm, auf dem der grüne Lichtpunkt still und gleichmäßig von rechts nach links zieht. Sie geht aus dem Zimmer und kommt mit einem Arzt zurück. Der Kittel des Arztes ist nicht zugeknöpft.
Er schaut nach dem EKG, das in der Nullinie weiterläuft, fühlt an einem deiner Handgelenke nach dem Puls. Er nickt mit dem Kopf, schlägt die Decke auf, setzt sein Stethoskop auf deine Brust. Er nickt wieder, nimmt eine dünne Stablampe aus der Brusttasche des Kittels. Die Lampe hält er dicht vor deine Augen, knipst sie an. Mit einem Zipfel des Bettüberzugs berührt er die Oberfläche deines linken Auges, das Lid bleibt unbewegt.
Dein Mund ist jetzt fast geschlossen, die Lippen sind nur Millimeter voneinander entfernt. Der rechte Mundwinkel steht noch tiefer als sonst. Dein Gesicht ist blaß geworden.
Der Arzt schaut auf seine Armbanduhr, holt einen Kugelschreiber und ein Stück Papier aus den Taschen des Kittels und notiert die Uhrzeit. Er entfernt die EKG-Elektroden von deiner Brust und knipst den Monitor aus, er zieht den Venenkatheter aus deinem Arm, klemmt den Infusionsschlauch oben ab. Gemeinsam mit der Schwester fährt er das Bett in ein leeres Zimmer.
Die Krankenschwester entfernt den gelben Gummischlauch aus deiner Harnröhre und zieht dir das Krankenhausnachthemd aus. Mit Daumen und Zeigefinger drückt sie deine Lider herunter. Sie schüttelt die Bettdecke in dem Überzug so weit herunter, daß sie dir nur noch bis zur Brust reicht, und zieht den weißen Überzug bis über dein Gesicht, sie hakt den Urinbeutel vom Bett ab und nimmt ihn und das Nachthemd und verläßt den Raum. [...]

Alles ist still wie Bilder ohne Ton in einem Tonfilm (z.B.: Türen stehen offen, der Wind zieht durch das Haus, bauscht Vorhänge durch die Fenster, draußen scheint die Sonne).

[Niklas Stiller: Der Tod und das Flugzeug. Prosa, Essays, Gedichte. Reinbek 1978, S. 11-17]

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.06.23 um 22:45:
Der Text beeindruckt durch die protokollarische Sachlichkeit.
Ich weiß nicht, ob es Verbindungen zu Aichinger gibt.

 Graeculus meinte dazu am 30.06.23 um 22:54:
Geradezu klinisch-sachlich, aus der Perspektive eines Arztes, der Stiller ja war. Auffallend, daß er den schon Toten noch mit "du" anspricht. Das macht kein Arzt, das ist Literatur.

Gibt es denn irgendwelche Ähnlichkeiten zu Aichingers Text?

 Dieter_Rotmund (30.06.23, 13:47)
Angeblich ging sie oft ins Kino, allerdings ist diese Aussage bei wikipedia nicht zuverlässig belegt.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.06.23 um 17:51:
Ich habe das auch gelesen, Dieter, und kann diesen Hinweis nicht interpretieren, außer, dass sie in ihren letzten Lebensjahren literarisch nur noch wenig aktiv war.

 FrankReich (30.06.23, 15:08)
Was Aichinger in der Prosa, war Eich in der Lyrik. Wenn ich meine jeweiligen Lieblingstexte der beiden, also "Das Fenstertheater" und "Kleine Reparatur" vergleiche, fällt die Entscheidung zwar zugunsten Eichs, nehme ich aber bspw. "In und Grimm" der Aichinger, wüsste ich keinen Prosatext von Eich dagegen zu setzen. 👋🙂

Ciao, Frank

Kommentar geändert am 30.06.2023 um 15:10 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 30.06.23 um 18:06:
Hallo Frank,
aus meiner Sicht siehst du es richtig: Eich war als Lyriker bedeutender, Aichinger in der Prosa.
LG
Ekki
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