3. Ilona

Text

von  Elisabeth

Als ich aufwachte, war es stockdunkel, ich lag nackt unter einer Decke, fühlte einen warmen, ebenfalls nackten Körper neben mir, einen männlichen Körper. Ich strich sanft über Ahmets Rücken, sein festes Gesäß. Er murmelte irgendwas im Schlaf, schmiegte sich an mich, und ich schlief wieder ein.


Das zweite Mal weckte mich Ahmets Wecker, das erbarmungslos aufflammende Licht, das fröhliche: "Guten Morgen, Juan", aus Ahmets grinsendem, bartstoppeligen Gesicht. Er war schon fast fertig angezogen, griff noch nach seinem Wollpulli. "Ich habe dir deine Sachen dort hingelegt", zeigte auf das Sofa, auf dem er meine Kleidungsstücke ordentlich zusammengelegt hatte. "Ich mache uns Frühstück", und er ging. Draußen war es doch noch finstere Nacht!

Ich hörte ihn in der Küche wirtschaften, während ich mich anzog, ging dann zu ihm, konnte mein Gähnen nicht zurückhalten und erst danach fragen: "Wie früh ist es denn eigentlich?"

Es war sechs Uhr, das Frühstück war fast ebenso reichlich wie am Sonnabend, in einer halben Stunde mußte Ahmet aufbrechen, und er strahlte mich die ganze Zeit über den Tisch hinweg an. Aber ich fühlte mich mies. Ich versuchte zu lächeln, aber die finsteren Gedanken konnte ich nicht unterdrücken. Wieso hatte er mir nicht erlaubt, ihn zu befriedigen? Wieso hatte er sich mir nicht ebenso hingegeben, wie er mich... ja, wirklich 'genommen' hatte? Und wieso diese Schamhaftigkeit am Anfang, wenn er solche Kunstfertigkeit an den Tag legen konnte? Ganz unerfahren konnte er angesichts dessen ja wohl kaum sein, also hatte er mir am Wochenende etwas vorgespielt.

"Was ist los?" verlangte Ahmet zu wissen, vielleicht zeichneten sich meine Gedanken auch zu deutlich in meinem Gesicht ab.

"Hast du einen Freund?" fragte ich also, hörte selbst die Feindseligkeit in meiner Stimme.

Ahmet ignorierte diese Feindseligkeit. "Ja, er heißt Juan", antwortete er, noch immer lächelnd.

"Was soll der Blödsinn?" fragte ich aufgebracht. "Du scheinst doch einen Kerl zu haben, oder meinetwegen gehabt zu haben, mit dem du rumgemacht hast. Wieso solltest du sonst so... so...", mir fehlten die Worte. Es war so heiß gewesen, was er mit mir gemacht hatte, aber trotzdem fühlte ich mich jetzt benutzt und verraten.

"Es hat dir doch gefallen", stellte Ahmet etwas erstaunt fest.

"Das ist nicht der Punkt", fuhr ich auf. "Du bist doch keine Jungfrau, wenn du solche Sachen mit einem fremden Kerl machst."

"Was geht dich mein Privatleben an, wenn du nicht mein Freund bist?" fragte Ahmet mit ärgerlich zusammengezogenen Brauen zurück. "Wolltest du denn nicht mein Begehren wecken? Sei stolz auf dich, es ist dir gelungen. Hast du ein Problem damit, dich hinzugeben? Willst DU immer derjenige sein, der sagt, wo es lang geht? Damit kann ich nicht dienen!" Er sah mich wirklich böse an, biß ein Stück Brot ab, als wünsche er sich, es wäre mein Kopf - oder mein Schwanz.

"Ich brauche weder dein Mitleid, noch deine Psychoanalyse!" Ich stand auf und verließ seine Wohnung, mußte viel zu lange an meiner Tür pfriemeln, bis ich sie endlich aufgeschlossen hatte, warf sie hinter mir wieder zu, lehnte mich dagegen, ließ mich mit Bauchschmerzen auf den kalten Boden sinken. Wieso hatte er sich so aufgeblasen? Wieso konnte er nicht einfach meine Frage beantworten, dieser Scheißtürke? Es war ja nicht so, daß ich ihn und sein Mitleid so dringend brauchte, es gab da notfalls noch Bianca - und das 'Tagesblatt' vom Dienstag mit den Stellenanzeigen.

Ich kratzte mein Bargeld zusammen, warf den von meiner Mutter nachgeschickten Parka mit Teddyfutter über und lief zur U-Bahn Station, um mir die Zeitung zu kaufen. Im 'Stellenmarkt' gab es für ungelernte Kräfte auf den ersten Blick nicht viel anderes als bei den Aushängen im AStA-Gang, aber dann sprangen mir die Worte "Gute Bezahlung... gerne Studenten" entgegen. Ich las die Anzeige, sie war von einer 'Agentur Casanova' geschaltet worden, einem 'Gehobenen Begleitservice für die Dame', die angegebene Telefonnummer sollte täglich rund um die Uhr besetzt sein. Gepflegte Erscheinung und gute Umgangsformen waren gefordert, eine freie Zeiteinteilung und hohe Trinkgelder wurde versprochen. Suchten die so eine Art Callboy? Ich schüttelte darüber den Kopf und wollte schon weiterblättern, aber dann fiel mir ein, daß ich für eine Bekochung durch Bianca ja beinahe so weit gegangen war.

Natürlich hatte ich eine gepflegte Erscheinung, außerdem war bisher keines der Mädchen, das ich im Bett gehabt hatte, unzufrieden mit mir gewesen. Warum sollten also die vermutlich etwas älteren Frauen unzufrieden mit mir sein, die sich so einen 'Begleitservice' leisten konnten? Eine Frau war eine Frau, und hieß es nicht, an jeder könne man irgendetwas finden, was sie attraktiv und einzigartig machte? Vielleicht war das im hohen Alter nur noch ihr Geld, aber das war doch auch nicht schlecht. Und ich verleugnete bei so einem Job ja auch nicht meine sexuellen Vorlieben, denn zu den Frauen würde ich rein geschäftliche Beziehungen haben. Trotz der noch frühen Stunde versuchte ich also mein Glück.

"Agentur Casanova, Neuhaus am Apparat", meldete sich eine melodiöse, wohlartikulierende Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

"Äh...", brachte ich nur heraus, während ich noch einmal in den Anzeigentext schielte, da hatte ich ja gleich die Inhaberin der Agentur erwischt.

"Rufen sie wegen unserer Anzeige an?" fragte Frau Neuhaus am anderen Ende hilfsbereit.

"Äh, ja, ich rufe wegen der Anzeige an", antwortete ich noch immer etwas verblüfft. So hatte ich mir die Stimme einer Puffmutti nicht vorgestellt.

Frau Neuhaus erklärte mir, daß es sich zunächst um eine zwanzigstündige Probeanstellung zu einem Pauschalgehalt handele. Bei beiderseitigem Interesse, könne daraus sogar eine sozialversicherte Anstellung bei der Agentur werden. Auf meine vorsichtige Anfrage, was denn während der Probeanstellung zu meinen Aufgaben gehören würde, betonte sie, daß es auch bei einer Festanstellung um die bloße Begleitung alleinstehender Damen ginge.

Das klang gar nicht schlecht, aber natürlich wollte Frau Neuhaus sich zunächst im persönlichen Gespräch überzeugen, daß ich dem Anspruch der Agentur an ein gepflegtes Äußeres und tadelloses Benehmen gerecht wurde und vereinbarte mit mir für den Nachmittag einen Termin. Nach meinen Veranstaltungen rasierte ich mich also gründlich, parfümierte mich mit dem sündhaft teuren Aftershave, das ich mir in wohlhabenderen Tagen geleistet hatte, zog meinen einzigen und leider für die Wetterverhältnisse viel zu dünnen Anzug an, den gar nicht elegant wirkenden Parka noch darüber und merkte, daß ich mir mit dem Zurechtmachen viel zu lange Zeit gelassen hatte. Mit noch offenem Parka stürmte ich also aus der Wohnung und lief die Treppe hinunter, fast Ahmet in die Arme.

"Uh, so schick?" fragte er.

Was ging ihn das an? "Vorstellungsgespräch", rief ich trotzdem und hastete weiter, hörte noch sein 'Viel Glück' im Treppenhaus nachhallen, verlogener Kerl. Im Galopp zur U-Bahn, aber dort mußte ich dann doch warten und langsam fraß sich die Kälte durch die dünnen Ledersohlen meiner elegantesten Schuhe. Immerhin war ich dank der Minustemperaturen trotz der Hetzerei nicht in Schweiß geraten.

Ich schaffte es so gerade zu meinem Termin, da die 'Agentur Casanova' ihr Büro gleich in der Nähe der U-Bahn-Station hatte. Laut Wegweiser im marmorgefliesten Foyer des hell erleuchteten Bürohauses residierte die Agentur im zweiten Stock. Inmitten einer kreisrunden Theke saß ein alter Wachmann oder Portier in blauer Uniform, der mich ob meiner offensichtlichen Orientierungslosigkeit mißtrauisch musterte, aber da entdeckte ich eine Wand mit vier Fahrstühlen, betrat den einzigen offenstehenden und drückte auf die '2', neben der ein graviertes Messingschild den Weg zur 'Agentur Casanova' wies.

Eine Glasfront lag der Fahrstuhltür im zweiten Stock gegenüber, auch hier noch einmal der verschlungene Schriftzug 'Agentur Casanova', darunter: 'Inh. Ilona Neuhaus'. Die unauffällig gekleidete Vorzimmerdame schickte mich gleich durch eine Tür zu ihrer Chefin.

Frau Neuhaus war in den Vierzigern und selbst eine sehr gepflegte Erscheinung, brünette Kurzhaarfrisur, dezent geschminkt, in einem eleganten grauen Zweiteiler. Sie hätte auch Filialleiterin einer Bank sein können. Bei meinem Eintreten hatte sie sich erhoben, war um ihren antiken Schreibtisch herumgegangen und streckte mir zur Begrüßung die Hand entgegen. "Guten Abend, Herr Calatrava. Ich freue mich wirklich, sie kennenzulernen." Sie bot mir einen Platz auf der Ledersitzgruppe in einer Ecke an, dann etwas zu Trinken, griff sich von ihrem Schreibtisch Papier und Stift und setzte sich mir gegenüber. Den Parka hatte ich über die Lehne eines Sessels gelegt, öffnete die Anzugjacke und ließ mich nieder, nippte an dem Glas Mineralwasser, wußte nicht so recht, wie beginnen.

Anscheinend merkte Frau Neuhaus das. "Meine Agentur vermittelt interessierten Damen einen Kavalier zur Begleitung, also etwa ins Theater oder Konzert, aber auch ins Restaurant oder zum Tanzen. Die Auslagen tragen dabei natürlich unsere Kundinnen. Von unseren Herren erwarten wir ein tadelloses Auftreten und Benehmen, sie holen unsere Kundinnen ab und bringen sie wieder zurück, die Agentur stellt dafür einen Wagen mit Chauffeur. Sollte eine Kundin unzufrieden sein, garantieren wir die Geldrückzahlung, die der entsprechende Herr zu fünfzig Prozent tragen muß - das betrifft die Probeanstellungen allerdings nicht. Und selbstverständlich erwarten wir von unseren Herren, daß sie keine Informationen über unsere Kundinnen nach außen tragen."

"Das klingt ja ganz seriös", rutschte mir heraus, denn ich hatte befürchtet, daß sich im direkten Gespräch vielleicht herausstellte, daß es mit meinem ersten Gedanken doch seine Richtigkeit gehabt hatte.

"Natürlich, ich führe ein überaus seriöses Unternehmen, Herr Calatrava, und wir haben einen sehr guten Ruf, um den wir natürlich auch besorgt sind. Darf ich vielleicht auch etwas über sie erfahren?"

Ich erzählte von meinem Studium, meinen spanischen Wurzeln, meiner Freude am Gesellschaftstanz und meiner Unzufriedenheit mit meinem momentanen, monotonen, schlecht bezahlten Supermarktjob. Darauf sprang Frau Neuhaus an, betonte, wie frei ihre Herren in der Zeiteinteilung seien, sie müßten sich nur einen oder zwei halbe Abende in der Woche freihalten, um dann, wenn sie gebucht wurden, auch zur Verfügung zu stehen. Über die Buchung würde man spätestens am Abend des Vortages Bescheid erhalten. Trinkgelder der Damen ständen mir zur Gänze zu, darüber wäre ich auch nur dem Finanzamt rechenschaftspflichtig, ansonsten würde bei einer Festanstellung je nach Buchungsinteresse der Damen ein Gehalt pro Monat vereinbart. Frau Neuhaus schien sehr zufrieden mit mir, bat mich in einen Nebenraum, um noch ein Foto von mir zu machen - für die 'Mappe' wie sie sagte - damit hatte ich den Job; eine Sozialversicherungsnummer und die Lohnsteuerkarte würde ich erst bei einer Festanstellung brauchen, aber sie meinte, ich hätte gute Chancen. Während der Probeanstellung stand ich wöchentlich sonnabends für fünf Stunden zur Verfügung, so ließ sich 'Agentur Casanova' gut mit meinem Lagerhilfejob und dem Studium vereinbaren.

Von meiner ersten Kundin erfuhr ich bereits am Mittwoch abend. Ich besuchte mit der anscheinend recht wohlhabenden, grauhaarigen Dame eine sehr moderne Theateraufführung und anschließend ein Nobelrestaurant, ließ sie reden, über ihre Mitarbeiter lästern, nickte höflich und versuchte ansonsten, eine gute Figur zu machen. Als ich sie zu Hause ablieferte, bekam ich ein fürstliches Trinkgeld und einen fast schüchternen Kuß auf die Wange.

Mit einem solchen Trinkgeld pro Woche würde ich bald meine erste Rossini-Platte kaufen können. Außerdem war ich von Ahmets Wohlwollen dadurch vollkommen unabhängig. Überhaupt konnte mir der Feigling gestohlen bleiben, der solche Angst davor gehabt hatte, von mir verführt zu werden, daß er lieber in die Offensive gegangen war, als sich mir hinzugeben - als hätte das seinem Ego oder seiner Männlichkeit Abbruch getan.

Ich ging Ahmet nicht einmal bewußt aus dem Weg, aber vielleicht vermied er ja den Kontakt, denn ich sah ihn nie. Und wenn nicht noch sein Name auf dem Klingelschild gestanden hätte und gelegentlich eine frische Rolle Toilettenpapier, die nicht ich deponiert hatte, neben der Toilette zu finden gewesen wäre, hätte ich vermutet, er sei ausgezogen.

Meine nächste Kundin sollte ich zum Tanzen begleiten, sie war ganz hübsch, wenn auch schon nicht mehr ganz jung, ließ sich wirklich gut führen und redete nicht viel, sondern schmiegte sich lieber in meine Arme. Anscheinend war sie auch zufrieden gewesen, denn sie buchte mich für die nächste Woche gleich wieder. Und als wir nach dem zweiten Termin mit der Firmenlimousine zu ihrem Haus gefahren wurden, sagte sie: "Zu schade, daß sie nicht auch für die Premiumdienste zur Verfügung stehen. Mit ihrer Spannkraft, ihrem wunderbaren Körper...", aber mehr sagte sie nicht, lächelte mich nur an, ließ sich zur Haustür bringen und verabschiedete sich, indem sie mir einen Hunderter in die innere Brusttasche meines inzwischen angeschafften Wintermantels steckte.

*



In der Hochschule hatten die Weihnachtsvorbereitungen bereits begonnen. Von uns Studenten wurde erwartet, daß wir uns an einer der Gesangsaufführungen im Rahmen des Weihnachtskonzertes beteiligten. Als Solist war ein großer Chor definitiv nichts für mich, aber als Erstsemester mußte ich mir eine Gruppe suchen, und die kleinste Gruppe, die ich unter den Ausschreibungen freier Plätze gefunden hatte, war ein a-cappella-Quintett namens 'Die Volltönenden', das einen neuen Bariton suchte. Unter einem Herrn Wintermann wollten sie ein Programm mit Schlagern aus den zwanziger und dreißiger Jahren einstudieren, für eine Aufnahme mußte man 'Ein Freund, ein guter Freund' zusammen mit den anderen Sängern des Ensembles vortragen. Diese Musik, mit der ich während meiner Schulchorzeit schon einmal konfrontiert worden war, sagte mir zwar weniger zu, aber es war immer noch besser, alberne Schlager als einer von fünfen zu Gehör zu bringen, als in einem Chor von annähernd fünfzig Sängern unterzugehen. Also tauschte ich wieder einmal meine späte Dienstagschicht, besorgte ich mir den Text und die Noten in der Bibliothek und war an dem Dienstag nachmittag vorbereitet und überpünktlich im angegebenen Studienraum, wie drei weitere Baritone. Ich war jedoch der einzige Erstsemester.

Dann kamen die vier Volltönenden, stellten sich kurz vor. Die beiden Bärtigen, die schon auf die dreißig zugehen mußten, waren Holger, schwarzhaarig mit Brille, und Bernhard, dunkelblond mit deutlichem Bauchansatz. Dann war da noch Felix Wintermann, der Felix vom AStA, an dessen Rockzipfel im Sommer der rothaarige Florian gehangen hatte, und ein außergewöhnlich attraktiver Schwarzer namens Ike, der aus Nigeria stammte und gerade einmal ein Jahr älter war, als ich. Seine weißen Zähne blitzten zwischen seinen üppigen, dunklen Lippen, als er mich aufmunternd anlächelte. Derart motiviert gab ich bei meiner Gesangsprobe natürlich alles. Die Konkurrenz war jedoch hart und die Volltönenden brauchten zehn Minuten Beratung, bis sie sich dazu entschlossen, tatsächlich mir die Ensemblestelle als zweiter Bariton zu geben. Das hieß auch, daß ich im Anschluß noch eine Probe mit den Volltönenden hatte.

Natürlich wurde 'Ein Freund, ein guter Freund' geprobt, vor allem wohl, um mich mit dem Ensembleklang vertraut zu machen. Dazu kamen Regieanweisungen von Felix, die zu einer ausgefeilten Choreographie der Schritte, Armbewegungen und Gesichtsausdrücke kumulierten. Das erinnerte mich an die Übungen in der Opernklasse, in der wir zur Zeit Verdis 'Aida' erarbeiteten. Felix arbeitete jedoch an einer humorvollen Präsentation und probierte für die gewünschte Wirkung verschiedene Ansätze, bis die anderen Volltönenden auch zufrieden waren. Als ich dann einen von Felix Anweisungen abweichenden Vorschlag hatte, wurde dieser nicht abgeschmettert, sondern ebenfalls erprobt, dann sogar für gut befunden. Alle waren konzentriert bei der Sache, und so machte die Probe, obwohl es nur ein Schlager war, erstaunlich viel Spaß. Und durch eine Nachfrage von Holger erhielt ich auch noch die Gelegenheit, von meinen geliebten Rossini-Opern zu schwärmen.

Im Anschluß erfuhr ich, daß der Dienstag der übliche Probentag der Volltönenden war, außerdem drückte Felix mir noch eine Liste mit den Stücken in die Hand, die ich bis zum nächsten Treffen einstudieren mußte, so daß wir uns in den Proben bis zur Jahresabschlußfeier auf die Arbeit an der Aufführung konzentrieren konnte. Jetzt mußte ich also nur noch meine späte Dienstagschicht dauerhaft loswerden.

Ich konnte endlich meine Unabhängigkeit genießen, da sie angesichts der großzügigen Trinkgelder der Kundinnen von 'Agentur Casanova' keine bloße Illusion mehr war. Eine der wichtigsten Rossini-Platten hatte ich mir schon kaufen können, und mein Gehalt für die Probeanstellung bei der Agentur würde sicherstellen, daß ich über den Jahreswechsel weder frieren noch hungern mußte. Es war einfach wunderbar, nun wirklich auf eigenen Füßen stehen zu können. Und wenn ich bei meinem Weg durchs Treppenhaus an der Tür zu Ahmets Wohnung vorbeikam, verschwendete ich kaum noch einen Gedanken an ihn.

Nach meiner vierten Verabredung bestellte Frau Neuhaus mich zu sich. "Mein lieber Juan, ich darf sie doch so nennen? Sie sind ja ein wahres Phänomen", begrüßte sie mich überschwenglich. "Sie haben schon jetzt für die nächsten zehn Sonnabende Vormerkungen. Ich hoffe sehr, sie entscheiden sich für eine Festanstellung in unserer Agentur." Sie machte mir ein Angebot für ein Gehalt bei vier bis fünf Sonnabenden im Monat, das so hoch war, daß ich spontan zusagte. Erst danach fragte ich: "Ich wurde auf Premiumdienste angesprochen. Was umfassen diese denn?" Ich hatte ja den Verdacht, daß sie eher in die Callboy-Sparte zielten, als die gewöhnlichen Begleitdienste der Agentur.

Frau Neuhaus räusperte sich. "Ja, wir hatten zu ihnen sogar schon vier Nachfragen diesbezüglich, obwohl aus der Mappe eindeutig hervorgeht, daß sie dafür nicht zur Verfügung stehen. Zuerst bräuchten wir selbstverständlich ein Gesundheitszeugnis - immer vorausgesetzt, sie sind überhaupt interessiert. Sie müssen bedenken, daß die Kundinnen bei einer Buchung von Premiumdiensten zu Recht erwarten, daß ihr Kavalier die entsprechenden Leistungen auch erbringt."

"Die wären?" fragte ich nun doch noch einmal direkt nach. Sollte Frau Neuhaus doch aussprechen, was sie verkaufen wollte.

"Zu der Begleitung kommt bei den Premiumdiensten noch der die Dame befriedigende Geschlechtsakt, selbstverständlich ausschließlich mit Kondomen. Zu Praktiken, die über einen vaginalen Verkehr hinausgehen, sind sie natürlich auch als Premium-Herr nicht verpflichtet, dafür gibt es andere Dienstleister. Allerdings erwarten einige unserer Kundinnen, daß die Premium-Herren auch massieren können. Bei Bedarf bezahlt ihnen die Agentur einen entsprechenden Kurs."

"Und das Gehalt würde dann dem entsprechen, was sie mir vorhin..."

Frau Neuhaus schüttelte mit einem strahlenden Lächeln den Kopf. "Nein, natürlich nicht. Sie können als Premium-Herr mit dem Dreifachen rechnen, zuzüglich der Trinkgelder selbstverständlich."

Ich bat um einen Tag Bedenkzeit, aber eigentlich hatte ich mich schon mit meinem Anruf auf die Anzeige vor einem Monat entschieden. Ich war sicher, daß es keine Probleme damit geben würde, jeden Sonnabend eine andere Frau zu beglücken, denn das hatte mir ja auch in der Vergangenheit nie Probleme bereitet, nicht einmal bei den Mädchen, die meine Klassenkameraden als unattraktiv angesehen hatten. Und jede der drei Frauen, die ich während meiner Probezeit bei 'Agentur Casanova' kennengelernt hatte, hätte ich bedenkenlos besprungen, wenn sie dafür gezahlt hätten. Geld machte zumindest insoweit schön, als die Kundinnen von 'Agentur Casanova' sich professionelle Schönheitspflege leisten konnten. Mehr Geld bedeutete zudem, daß ich meine Plattensammlung noch schneller rekonstruieren und einen hochwertigen Plattenspieler erwerben konnte. Und es würde mir ermöglichen, eine wirklich schöne, moderne, komfortable Wohnung zu beziehen. Ich kündigte noch an dem Tag im Supermarkt und igelte mich mit einer Flasche Calvados und einem im Kiosk gekauften 'Herrenmagazin' in meiner, mit Gardine und Schaumstoffmatratze inzwischen etwas behaglicheren Wohnung ein. Ich wollte die Probe aufs Exempel machen, daher hatte ich extra ein Heft ausgesucht, in dem kein einziger Mann abgebildet war. Und trotzdem war es gar kein Problem, angesichts der entblößten Weiber zweimal relativ kurz hintereinander zu kommen, und irgendwann, als der Calvados schon zur Hälfte geleert war und ich daran ging, ein drittes Mal abzuwichsen, schlief ich ein.

* * *



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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (06.12.23, 20:16)
Hallo Bettina,

du schreibst mit leichter Feder stilistisch sicher eine spannende Milieustudie.

Mit Lust auf mehr
Ekki

 Elisabeth meinte dazu am 07.12.23 um 22:51:
Hallo lieber Ekki,

ganz herzlichen Dank für Dein freundliches Lob. Das freut mich wirklich sehr.
Herzlichen Dank auch für Deine Empfehlung.
Für mehr werde ich auch gleich sorgen

Schöne Grüße von Bettina
Agnete (66)
(07.12.23, 19:18)
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 Elisabeth antwortete darauf am 07.12.23 um 22:58:
Hallo liebe Agnete,

ganz herzlichen Dank für Deine freundlichen Worte. Insbesondere, daß Du bis zum Ende (des Kapitels) gelesen hast, freut mich natürlich sehr.
Meiner Meinung nach sind Menschen (im weitesten Sinne) das Interessante - egal ob es ein realistisches oder ein phantastisches Umfeld ist, in dem sie sich bewegen. Daher versuche ich dem Leser Einblicke in die Gedankenwelt meiner 'Geschöpfe' zu geben. Wenn das gelingt, hab ich anscheinend ja was richtig gemacht.
Ganz herzlichen Dank für Deine Empfehlung und natürlich auch für das Lob, gut geschrieben zu haben!

Schöne Grüße von Bettina
Agnete (66) schrieb daraufhin am 09.12.23 um 21:51:
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 Elisabeth äußerte darauf am 09.12.23 um 21:56:
Ganz herzlichen Dank!
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