8. Bernhard

Text

von  Elisabeth

Bernhard saß mir gegenüber, fertig angezogen, aber die gefütterte Jacke hatte er noch nicht geschlossen. "Was ist los? Du siehst elendig aus. Noch immer Schmerzen?"

Ich war zu kaputt, um zu sprechen, schüttelte nur den Kopf.

"Soll ich dich nach Hause fahren? Mit den Fräcken in der U-Bahn ist doch eher unpraktisch, oder?" gab Bernhard zu bedenken, und ich nahm dankend an. Bernhard half mir, die fünf durchgeschwitzten Jacken und Hosen im Kofferraum seines Autos zu verstauen, ich setzte mich auf den Beifahrersitz und quälte meine Adresse hervor.

"Ach, das ist ja bei mir in der Nähe, auf der anderen Seite des Parkes", bemerkte Bernhard, dann fuhren wir los.

Ich sah hinaus in die von Straßenlaternen erhellte Dunkelheit, die bald in die Morgendämmerung übergehen würde, erkannte Wegmarken wie U-Bahn-Eingänge und große Leuchtwerbungen, wurde schließlich von den vereinzelten entgegenkommenden Autolichtern hypnotisiert, und Bernhard respektierte mein Schweigen. Als wir den Parkplatz vor dem modernen Mietshaus erreichten, in dem ich nun wohnte, öffnete Bernhard mir schweigend die Autotür, reichte mir die Jacken aus dem Kofferraum, behielt aber die Hosen im Arm und bestand darauf, mir beim Hinauftragen zu helfen, obwohl das Haus über einen Fahrstuhl verfügte. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Metallwand der Kabine, musterte mich, folgte mir zu meiner Wohnungstür, wartete bis ich aufschloß, das Licht im Flur anschaltete, die Bügel mit den Jacken an meine Garderobe hängte, reichte mir die Hosen. "Ich werd sie bis Freitag reinigen lassen", beschloß ich und legte sie ab.

"Eine schöne Wohnung hast du", bemerkte Bernhard, während er sich umsah. Ja, die Wohnung war schön und so zeigte ich Bernhard mit gewissem Stolz vier der fünf Zimmer, das großzügige Badezimmer, die moderne Küche, zuletzt mein Wohnzimmer, hinter der Balkontür den großen, durch Wohnzimmer- und Küchenlicht schwach beleuchteten Balkon, den ich bisher noch nie wirklich genutzt hatte. Ich bot Bernhard sogar einen Sitzplatz auf meinem Sofa und eine Cola an. In der anderen Wohnung hätte ich ihm allenfalls Leitungswasser und einen Platz auf meiner Matratze anbieten können.

"Kann ich statt dessen davon was haben?" fragte er und zeigte auf eine fast volle Flasche Calvados, die neben den Gläsern im Regal stand.

"Aber du mußt doch noch fahren", wandte ich ein, als ich schon nach der Flasche griff, um ihm und mir eine großzügige Menge einzuschenken.

"Wenn ich zu blau bin, schlaf ich einfach hier auf deinem Sofa, wenn das OK ist. Heute wartet ohnehin niemand auf mich." Ob irgendwann mal jemand auf mich warten würde? Aber ich durfte gar nicht damit anfangen, an irgend jemandes Liebesleben zu denken.

"Was ist mit dir los?" fragte Bernhard dann, als wir einander gegenüber saßen, guckte so besorgt wie am Vorabend, als er mich vor Ahmet retten wollte, vor dem wunderschönen Ahmet, der mich lieber ficken wollte, als sich ficken zu lassen... "Liebeskummer?" Ich muß wohl zusammengezuckt sein, denn Bernhard fuhr fort: "Ich weiß, daß du meinen Rat sicher nicht willst, aber sprich doch mal mit deinem... deinem ehemaligen Nachbarn. Als er sich von seinen Fachschaftskollegen verabschiedete sah nicht viel fröhlicher aus als du jetzt."

"Ich...", ich mußte mich räuspern, um den Kloß aus meinem Hals zu bekommen, "ich glaub' nicht, daß er mich sehen will, wenn ich nicht... wir passen eben nicht zusammen. Und es gibt so viele andere Typen."

"So wie du das sagst, klingt das, als ob es noch viele andere Typen für ihn gibt - aber nicht für dich."

Wieso konnte Bernhard mich so leicht durchschauen? Und wieso sprach ich überhaupt mit ihm darüber? Ja, er hatte mich vor Ahmet beschützen wollen und schien sich wirklich Sorgen um mich zu machen, wie auch immer ich das verdient hatte. Damals hatte mir Ahmet geholfen, als ich so abgebrannt war wie nie zuvor. Jetzt hatte ich zwar Geld, aber die Art des Gelderwerbs war nichts, was ich weiter durchhalten konnte, ohne in irgendeiner Weise daran kaputt zu gehen. Spätestens wenn ich die Kundinnen nicht mehr zu ihrer Zufriedenheit bedienen konnte, war meine Karriere als 'Don Juan' doch ohnehin beendet. "Ich bin... ich muß...", begann ich hilflos, ohne recht zu wissen, worauf das hinauslaufen sollte. Bevor mich der Teufel im eigentlichen oder übertragenen Sinne holte, mußte ich endlich Schluß machen mit diesem Job. "Ich werde meinen Job kündigen", sprach ich es also aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

"Wegen deines kürzlichen... Erlebnisses?" Vielsagend klopfte Bernhard sich an den eigenen Hintern.

"Nein, weil der Job mich fertig macht. Damit hattest du vollkommen recht. Die Sache mit... meinem letzten Kunden hat nur dazu beigetragen, mir die Augen darüber zu öffnen, daß du auch mit dem anderen recht hattest."

"Womit?" fragte Bernhard und trank einen großen Schluck Calvados.

"Ich meine deine Rudelgeschichte", gab ich widerwillig zu, drehte das Glas mit der goldenen Flüssigkeit zwischen meinen Händen. Meine eigene Begierde, endlich wieder einen Mann in den Armen zu halten, hatte mich zu einem so leichten Opfer für Norbert gemacht, richtiger: zu einem Opfer meiner eigenen Fehleinschätzung. Norbert konnte ich nichts vorwerfen. Vielleicht wäre es etwas anderes gewesen, sich einem Mann hinzugeben, den man wirklich liebte, aber ich hätte mich nicht einem Kunden so ausliefern dürfen, egal wie hoch das Trinkgeld war.

"Spricht mit Ahmet", sagte Bernhard ernst. "Was immer da zwischen euch steht, bereinigt das, sonst wirst du es vielleicht dein Leben lang bereuen."

"Ermutigt hat er mich nicht gerade", gab ich zu bedenken.

"Hast du denn gar nicht gemerkt, wie er dich angesehen hat?" Bernhard schüttelte den Kopf und trank noch einen Schluck von meinem Calvados. "So was wirft man nicht ungeprüft weg."

'Komm mit deinem Leben klar', hatte Ahmet damals gesagt, doch wenn ich die Agentur verließ und nichts vergleichbar Lukratives fand, saß ich da mit meiner schönen, teuren Wohnung und würde bald wieder am Hungertuch nagen, vielleicht sogar das Studium aufgeben müssen, weil ich es nicht mehr finanzieren konnte. Aber wollte Bernhard nicht zum Ende des Monats aus seiner bisherigen Wohnung ausziehen? Wir hatten uns schon einige Male dort getroffen, die Vermieter wohnten unten im Haus, es gab einen schönen Garten, den die Mieter ebenfalls nutzen konnten, und da die Wohnung im obersten Stockwerk des Altbaus lag, war sie auch herrlich lichtdurchflutet, mit Blick auf den nahen Park, aber im Sommer nicht zu aufgeheizt, weil es darüber noch einen Dachboden gab. Dabei war sie nicht einmal halb so groß wie meine eigene, aber für eine Person, oder sogar zwei durchaus ausreichend. "Was zahlst du eigentlich an Miete, Bernhard?" fragte ich.

Er zahlte gut ein Drittel von dem, was mich meine Wohnung monatlich kostete. "Aber für Kinder ist die Wohnung zu klein", erklärte Bernhard dann. "Außerdem gibt es keinen Fahrstuhl, und Susanne muß in ihrem Zustand immer die ganzen Treppen hoch. Und später, wenn die Kleine..."

"Du wirst Vater?" folgerte ich verdutzt. Da gratulierte man wohl: "Herzlichen Glückwunsch!"

Bernhard strahlte plötzlich. "Danke. Kam etwas überraschend, wir sind ja beide noch nicht mit dem Studium fertig, aber irgendwie werden wir das schon packen. Und Susanne ist die Frau meines Lebens, da bin ich mir ganz sicher."

Ich seufzte. "Ich wünschte, ich könnte mir auch so sicher sein."

"Mit deinem Ahmet?" fragte er mitfühlend.

"Ja, mit 'meinem' Ahmet. Er ist so unwiderstehlich, aber... naja, du weißt ja, es kann immer nur einer oben sein."

"Ihr könntet euch abwechseln", schlug Bernhard vor.

Meinte er das im Scherz? Er sah zumindest nicht so aus. "Natürlich könnten wir das", stimmte ich ihm wenig überzeugt zu, denn darauf konnte ich mich ebensowenig einlassen, wie Ahmet.

*


Bernhard übernachtete tatsächlich auf meinem Sofa, verschwand aber schon früh am Sonntag morgen, weil er seine Freundin vom Bahnhof abholen wollte. Ich verbrachte den halben Tag in der Wanne und vor den Fernseher gefläzt, bis ich mich endlich hinsetzte und ausrechnete, wie lange ich noch wie viel verdienen mußte, um genügend Geld für das nächste Semester, für die Miete einer kleineren Wohnung und meinen täglichen Bedarf zu haben. Wenn ich Bernhards Wohnung übernehmen konnte, würde fast das Geld durch die Volltönenden ausreichen, zusammen mit meinen ersparten Trinkgeldern. Ich würde es mir also tatsächlich leisten können, in den drei Monaten bis zur Wirksamwerdung der Kündigung nur ein paar Wochentagsabende für die Agentur zur Verfügung zu stehen. Auf diese Weise würde ich nur gelegentlich arbeiten müssen, aber faktisch sofort mit den Premiumdiensten aufhören können, ohne vertragsbrüchig zu werden. Wenn ich mir für die Dreizimmerwohnung von Bernhard noch einen Mitbewohner suchte, der einen Teil der Miete übernahm, war auch das Weiterstudieren über das kommende Sommersemester hinaus kein Problem. Und irgendeinen Supermarktjob würde ich immer finden können, um die kleine Finanzierungslücke, die blieb, zu schließen. Keine teuren Anzüge mehr, kein importiertes Aftershave, noch immer kein eigenes Auto, aber das war völlig in Ordnung.

Danach prüfte ich meinen Mietvertrag. Drei Monate Kündigungsfrist auch hier, ansonsten verfiel die Mietkaution, und die allein würde zwei weitere Semestergebühren sichern. Nachdem ich eine Weile mit mir gerungen hatte, rief ich bei Bernhard an, hatte aber seine Freundin an der Strippe. Moment, sie war doch schwanger, nicht wahr? "Herzlichen Glückwunsch", sagte ich artig. "Bernhard hat gestern abend erzählt, daß ihr beide ein Kind bekommt."

"Oh danke, Juan. Ja, wir freuen uns sehr darauf. Aber du willst sicher Bernhard sprechen, oder?" Dann reichte sie mich weiter.

Bernhard hörte meinem Vorschlag eines Wohnungstausches aufmerksam zu, schwieg eine Weile. Ich erwähnte die Tiefgarage für die Mieter, den schönen Ausblick von meinem Balkon, den Kindergarten und die Grundschule, die eine Straßenecke weiter lagen "Die ist ziemlich teuer, deine Wohnung", sagte er dann. "Ich muß da erst einmal mit Susanne drüber sprechen", wieder zögerte er. "Also ihre Eltern wollen ihr ja zu unserer... na ja, hätt' ich am Dienstag ohnehin erzählt, also wir heiraten und die Volltönenden sind natürlich eingeladen. Wir wollten eigentlich erst einmal zu ihren Eltern ziehen, weil die uns eine Eigentumswohnung zur Hochzeit schenken wollen, aber noch nichts Geeignetes gefunden haben."

"Die Wohnungen hier kann man als Eigentum erwerben", warf ich ein. "Überlegt es euch, kommt noch mal tagsüber zum Gucken, und ansonsten suche ich mir halt einen anderen Nachmieter. Aber eure Wohnung übernehme ich definitiv. Seht zu, daß ihr im April wirklich raus seid."

Bernhard versprach das lachend, und erleichtert beendete ich das Gespräch. Dann setzte ich noch die Kündigungsschreiben an die 'Agentur Casanova' und meinen Vermieter auf, suchte mir aus meiner inzwischen neu angelegten Plattensammlung Rossinis 'Il turco in Italia' aus und ließ den Abend mit dem Rest der Flasche Calvados ausklingen.

*


Frau Neuhaus war über die Kündigung, die ich ihr am nächsten Vormittag persönlich überreichte, nicht besonders glücklich. "Haben sie sich das gut überlegt, Juan?" fragte sie. "Sie werden nicht so schnell wieder etwas finden, daß ihnen mit vergleichbar wenigen Stunden ein ähnlich hohes Einkommen verschafft. Und es ist sehr schwer, sich mit dem Verlust der Annehmlichkeiten, die das Geld ermöglicht, abzufinden."

"Das wird schon gehen", versicherte ich ihr.

"Hat es etwas mit dem Kunden, den sie am Donnerstag besucht haben, zu tun? Meine Mitarbeiterin hatte mir eine etwas kryptische Notiz auf den Schreibtisch gelegt. Gab es irgendwelche Unstimmigkeiten?"

Ich dachte an die glücklicherweise vergangenen Schmerzen in meinem After, dann schüttelte ich den Kopf. "Nein, es gab keine Unstimmigkeiten, ich habe einfach gemerkt, daß ich trotz gelegentlicher anderer Interessen eher ein 'ladies man' bin", behauptete ich.

Frau Neuhaus lächelte über meine Bemerkung. "Und trotzdem wollen sie uns ganz verlassen? Haben sich ihre persönlichen Verhältnisse geändert?"

Ich überlegte, ob ich darauf anspringen sollte, aber ich schob besser wieder das Studium vor, als eine nicht existente Beziehung. "Leider nimmt mich mein Studium zur Zeit sehr in Anspruch, und das wird sich noch verstärken. Meine Prüfungen in diesem Semester sind durch die Verpflichtungen für die Agentur schon nicht ganz so ausgefallen, wie es wünschenswert gewesen wäre, daher habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Aber das heißt ja nicht, daß ich nicht eines Tages wiederkomme", schloß ich mit einem verheißungsvollen Lächeln.

Das wirkte anscheinend noch immer, denn Frau Neuhaus' Gesichtsfarbe wurde doch tatsächlich etwas rosiger. "Sie sind uns immer willkommen, Juan." Frau Neuhaus nahm mit unbewegter Miene zur Kenntnis, daß ich nach meinem Urlaubsmonat nur noch an Mittwochen zur Verfügung stünde, auch wenn sie mir noch einmal erklärte, daß es unvernünftig sei, nicht noch einige sichere Premiumbuchungen mitzunehmen. "Es haben viele Damen nach ihnen gefragt."

"Aber gebucht hat noch keine, oder?" vergewisserte ich mich.

"Nein, da sie sich für den April ja noch nicht festlegen wollten. Ihr weiteres Gehalt werde ich nach den bisherigen Erfahrungen aber schon jetzt deutlich kürzen müssen, und wenn sie wirklich kündigen, kann ich ihnen nicht mehr die Freiheit gestatten, die Buchungstage für den Mai und Juni noch einmal zu ändern."

"Damit hatte ich gerechnet."

"Also gut. Ich nehme ihre Kündigung an, wenn auch schweren Herzens. Sie waren eine wahrhafte Bereicherung für die Agentur. Unter Zugrundelegung von fünf Buchungstagen pro Monat wird ihr letzter Arbeitstag der...", sie zählte die Mittwoche im Auftragskalender ab", ... der 12.06. sein."

Mein Vermieter bestätigte mir die Kündigung der Wohnung schriftlich und wies mich darauf hin, daß meine Kündigung trotz verspäteten Eingangs bei ihm dennoch zum 31. Mai wirksam werde, ich also bis dahin Mieter mit allen Pflichten sei. Wollte ich den Mietvertrag vorzeitig auflösen, würde die Kaution verfallen, es stünde mir allerdings frei, statt dessen einen Nachmieter zu benennen. Das waren, in anderen Worten, noch einmal die Vereinbarungen aus dem Mietvertrag, stellte ich beruhigt fest. Als Bernhard und Susanne dann am Mittwoch meine Wohnung besichtigten und Susanne Schreie der Verzückung ausstieß, als sie die Aussicht vom Balkon auf den naheliegenden Park entdeckte, war die Sache zur allgemeinen Zufriedenheit entschieden. Wir sagten uns gegenseitige Umzugshilfe zu, faßten für den ersten Schwung schon einmal die Woche nach unserem ersten 'Provinztrip' mit den Volltönenden ins Auge und entschieden uns aus Kostengründen für einen Klaviertausch, anstatt zwei Klaviertransporte zu bezahlen.

* * *



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