Blätter am Baum des Lebens

Erzählung zum Thema Reinkarnation

von  Regina

In einem Tal, wo die reinen Wasser vom Gebirge herabrauschten und die Luft den Körper mit jedem Atemzug erfrischte, war ich als zweites Kind meiner Eltern aufgewachsen. Meine Mutter war nur fünfzehn Jahre älter als mein Bruder, aber fünfundzwanzig Jahre jünger als mein Vater. So fühlte sie sich mit ihrem ersten Sohn enger verbunden als mit dem Ehemann, was in unserer alten Kultur durchaus beabsichtigt war. Söhne ließ man langsam etwa bis zum vierzigsten Jahr in der Atmosphäre der Familie heranreifen, damit sie sich nicht in den Versuchungen der Welt verlören und verfrüht in unglückliche Beziehungen schlidderten. Denn das Ideal war der feinfühlige und sanftmütige Mensch. Erst in diesem Alter des Mannes arrangierten die Verwandten eine prachtvolle Hochzeit, mit der dann allerdings die Pflicht verbunden war, dem Haus der Familie vorzustehen, während der alt gewordene Vater sich nur noch mit geistigen Fragen abgab. 

In den meisten heutigen Gesellschaften wird eine derartige Heirat ja verpönt. Aber damals nahmen wir uns alle wie Blätter am Baum des Lebens wahr, dem wir uns ohne Murren hinzugeben hatten. Die Empathie der Mutter fand diejenige Braut für ihren Sohn, von der sie wusste, dass er sie auf Lebenszeit würde lieben können.   

Als Tochter eines Priesters konnte ich keinen hart arbeitenden Bauern heiraten, denn ein solcher Mann hätte mir mit seinen groben physischen Bedürfnissen und seinem Unwissen über die feinstofflichen Körper die empfindliche Zartheit geraubt, die sich in unserem Haus durch die Behandlung mit Düften, heilenden Klängen, seidenweichen Kleidern und Kissen, erlesenen Gewürzen, schönem Geschirr und der Hinwendung an das Bewusstsein der Erde und des Universums entwickelte, sowie dem Wunsch, dass alle Wesen in Frieden leben mochten. In der heutigen Zeit kann ja jeder Bauernsohn und auch die Tochter ein Studium aufnehmen und dadurch unabhängig von seinen charakterlichen Anlagen in eine höhere Gesellschaftsschicht aufsteigen, aber damals gab es keine soziale Mobilität. Der Sohn übernahm den Beruf des Vaters. So bildete sich ein ausgeprägtes Spezialistentum heraus. Auf diese Weise hat unsere Gesellschaftsform Jahrtausende überlebt.

Ebenso wenig kam ein Händler oder Handwerker als Ehepartner infrage. Diesen Leuten war es erlaubt, Gewinne zu erzielen und in die eigene Tasche zu stecken, obwohl sie durchaus Steuern zu entrichten hatten. Die Gefahr einer solchen Verbindung lag darin, dass ein solcher Mann mich in die Sphäre der Gier hinabgezogen hätte, was für eine Priestertochter zu schweren inneren Konflikten geführt hätte, weil sie für die Denkweise des profitorientierten Wirtschaftens nicht erzogen war. Auch kam es in dieser Schicht häufiger zu Streitigkeiten um die Mitgift der Braut, und die Väter, die diese zu zahlen hatten, fühlten sich bei der Geburt eines Mädchens unglücklich.
Schließlich war auch die Heirat mit einem Angehörigen des Militärs, einem Richter oder einem Mitglied der Regierung, ja selbst mit dem König undenkbar. Diese Leute, vor allem die Soldaten, hatten im Ernstfall ihren Aufstieg in der Evolution ganz und gar zu opfern, denn, wer Recht sprechen, streiten, Krieg führen und töten muss, findet sich in der Sphäre des Hasses wieder und verliert so seine humane Entwicklung in Gänze. Eine Priestertochter aber musste wie ihr Ehemann dem Leben streitlos begegnen. 

Selbstredend kamen wir nie in Berührung mit derjenigen Gesellschaftsschicht, die schmutzige Arbeiten wie das Entfernen von Fäkalien oder das Gerben verrichten mussten. Heute glaubt vor allem die westliche Welt, dass eine solche von Geburt an festgelegte Arbeitsteilung ungerecht sei, aber wir dachten damals, dass der Mensch sich sein Schicksal in einem früheren Leben selbst geschaffen hatte und in der nächsten Inkarnation entsprechend seiner Lebensausrichtung durch alle Daseinsformen aufsteigen können würde.

Unsere Familie gehörte am Baum des Lebens zu den Blättern in der Krone und hatte sich seit Urzeiten mit der Lehre von Weisheit und Spiritualität beschäftigt. Diese Aufgabe wurde vom Vater auf den Sohn übertragen und die weiblichen Familienangehörigen hatten die Berufung zu unterstützen. Auch ich würde einem Priester zur Frau vermittelt werden und unsere beiden Familien würden sich dabei energetisch miteinander verbinden. Wie erwähnt, kannten wir das Gefühl, ein von allen Bindungen unabhängiges Wesen mit einem egozentrisch gestalteten Schicksal darzustellen, damals nicht, sondern wir bemühten uns um Hingabe und Gehorsam.
Bei allem lebten wir von unserem Erbe und von den Spenden, die uns die Bevölkerung freiwillig zur Verfügung stellte. 
 

 




Anmerkung von Regina:

Dieser Text ist nicht autobiografisch. Autorin und Erzählerin sind nicht identisch.

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Kommentare zu diesem Text


 Verlo (20.02.24, 00:03)
Regina, wie kommt eine Priester-Familie zu einem Erbe?

Ansonsten hast du gelebt wie ich jetzt lebe.

 Regina meinte dazu am 20.02.24 um 00:29:
Hausbesitz, Mitgift, Spenden. Text nicht autobiografisch.

Antwort geändert am 20.02.2024 um 00:53 Uhr

 Verlo antwortete darauf am 20.02.24 um 12:31:
Regina, dann nimm das "du" als das "ich" des Textes.

Bekommen Priester hin und wieder ein Haus als Spende?

Vielleicht sollte ich auch Priester werden.

 Regina schrieb daraufhin am 20.02.24 um 15:51:
Damals waren Häuser nicht so teuer wie heute.

 Verlo äußerte darauf am 20.02.24 um 15:52:
Damals hat man auch weniger Lohn bekommen.

 Regina ergänzte dazu am 20.02.24 um 18:41:
In der Erzählung spielt Geld nicht die gleiche Rolle wie heute, sondern die gegenseitige Verpflichtung zur Dienstleistung. Also, da wurde ein Haus für die Priesterfamilie gebaut und dann gehörte es ihnen.

 Regina meinte dazu am 20.02.24 um 18:43:
.. und vor langer, langer Zeit.

 AZU20 (20.02.24, 13:07)
Dennoch spannend. Gern gelesen. LG

 Verlo (20.02.24, 15:47)
Anmerkung von Regina:

Dieser Text ist nicht autobiografisch. Autorin und Erzählerin sind nicht identisch.
Dann schlüpft die Autorin also in die Rolle einer Priesterin aus einer Priester-Familie, aufgewachsen, wo Wasser und Luft noch rein waren.

 Regina meinte dazu am 20.02.24 um 18:57:
Genau. Hineingeschlüpft.

 harzgebirgler (13.03.24, 10:47)
die krone der schöpfung ist zwar der mensch an sich
doch als solche auch seit je sehr unterschiedlich.

lg vom harzer

 Teichhüpfer (23.04.24, 14:09)
Aus welcher Religion das kommt, der christliche Glaube an sich, die Kirche, oder? Regina, ich denke mir, die Zeit, in der ich lebe, ist so wie es ist.

 Regina meinte dazu am 25.04.24 um 13:13:
Der Text ist ohne Nennung einer bestimmten Religion und Zeitangabe gestaltet, wie eine vage Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Im Christentum gibt es zwar auch Sekten, die an Reinkarnation glauben, im allgemeinen aber nicht.

 Krakel (25.04.24, 10:16)
Gehorsam, gegenüber wem?

 Regina meinte dazu am 25.04.24 um 13:15:
Familie, Vater, Mutter und letzten Endes gegenüber Gott im Rahmen der Religion.

 Krakel meinte dazu am 25.04.24 um 14:14:
man braucht doch keine Religion, die einem Respekt vor gesetz und Familie vorschreibt.Ein Gott und erst recht eine Religion, die Gehorsam vorschreibt, sollte suspekt sein. Denn Gehorsam bedingt Nicht-Hinterfragen... es grüßt Krakel

 Regina meinte dazu am 25.04.24 um 17:42:
Der Text handelt nicht davon, was man braucht oder nicht, sondern er zeichnet ein Bild des Lebens in einer bestimmten Gesellschaft.

Antwort geändert am 26.04.2024 um 07:57 Uhr
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