Die Zeit ist ein Dieb

Gedanke zum Thema Leben/Tod

von  Elia

Es war ein Samstagabend im Mai. Die Flagge im Dorf wehte seit Tagen auf Vollmast und der Ortsvorsteher erklärte bei Facebook, dies geschehe wegen des bevorstehenden fünfundsiebzigsten Jahrestages des Inkrafttretens des Grundgesetzes. Mich berührte es und berührte es doch nicht.

Es berührte mich, weil ich als Jugendliche in der Schule ein flammendes Referat darüber gehalten habe, wie groß der Unterschied zwischen den Verheißungen der Grundrechte und der Lebensrealität ist. Ich hatte diesen Unterschied erfahren, denn ich war das einzige Arbeiterkind in einer Gymnasialklasse gewesen, genauer: ein katholisches Mädchen vom Land. Der im Grundgesetz verankerte allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz prägte meinen Alltag nicht. Ich durchlebte meine Pubertät ohne teure Kosmetik und in bescheidenen Klamotten, was dazu führte, dass ich meine Besonderheit auf intellektuelle Weise betonen musste. Während meines Studiums und Referendariats in der Justiz wurde ich unverschämt oft gefragt, was meine Eltern beruflich machten, welches Gymnasium ich besucht hatte und wohin ich schon gereist sei. Die Antwort: Mein Vater ist Industrieschlosser und feilt den ganzen Tag Metallteile für Webstühle, meine Mutter hat zwar keine Lehre gemacht, aber sie kann für kleine Unternehmen die Buchhaltung übernehmen, halbtags natürlich. Ich war nicht auf dem altsprachlichen Traditionsgymnasium, sondern auf dem ehemaligen Mädchengymnasium, auch „Puddinglyzeum“ genannt, und ich habe die Ostsee, die Nordsee und Bayern bereist. Das war besser als die Situation meiner, Anfang der Vierziger geborener Eltern, aber dennoch kostete es Kraft, eigene Kraft, denn die Antworten auf diese, meinen Lebensstatus erkundenden Fragen, wurden zwar mit der politisch verordneten Duldung, aber doch mit skeptisch hochgezogenen Brauen beantwortet.

Doch nicht allein die Tatsache, dass der allgemeine Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 I GG Diskriminierungen zumindest bremste, erweckte das Gefühl, dass mich das Jubiläum des Grundgesetzes etwas anging, auch die Tatsache, dass ich schließlich Jura studiert und es zur Volljuristin gebracht hatte. Zugleich berührte mich der Jahrestag nicht, denn ich hatte in eben jenem Jurastudium auch gelernt, dass die Grundrechte „nur“ Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat seien und dass die in ihnen verkörperte Werteordnung „nur“ über die „Generalklauseln“ der einfachen Gesetze in „mittelbarer Weise“ auf die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander einwirkte. Es war also nicht grundrechtswidrig, als katholisches Arbeiterkind weiblichen Geschlechts weiterhin benachteiligt zu sein. Das abstrakte Wissen über das Wesen der Grundrechte jedenfalls bremste meine jugendliche Empörung und lenkte die rührigen Gefühle, welche das Grundgesetz bei laienhafter Lektüre erwecken kann, in juristisch technisierte Bahnen. Am Ende ging mich dieses Jubiläum aber dennoch sehr viel an:

Es war also am Samstagabend so, dass ich meinen Mann gebeten hatte, mit mir ein Eiscafé am Wermelsee aufzusuchen und anschließend den dortigen Badeort zu besichtigen. Bummelnd gelangten wir auf den Friedhof. Ich besichtige seit einiger Zeit gern Friedhöfe. Es ist dort immer so still und frisch, überall Grün, oft alte, hohe Bäume, liebevoll geschmückte Gräber, fantasievolle neue Bestattungsformen. Der Kontakt zur Vergänglichkeit tat mir gut. Jetzt, wo ich die Sechzig überschritten hatte, suchte ich nach einer Perspektive, vielleicht für die nächsten zwanzig Jahre, vielleicht auch nur für zehn und natürlich mochte das Schicksal auch viel früher zuschlagen. In jedem Fall kam die Endlichkeit in Sicht und ich wünschte, auch diese zu gestalten.

Die Sonne schien durch die Eichen, die durch die zunehmende Urnenbestattung frei gewordene Wiese leuchtete hellgrün, dort prangten lila Stiefmütterchen auf einem einzelnen historischen Kindergrab, dort prunkte das Grab der früheren Pfarrer und der Ordensfrauen, die hier im Krankenhaus ihren Dienst getan hatten.

Als wir die Wege entlang gingen, fiel mein Blick auf einen einfachen Quader aus Beton, der ein breit angelegtes Familiengrab „zierte“. Es war ein kurzes Gedicht hineingefräst, von dem ich aber nur einzelne Wörter entziffern konnte, da die anderen von Moos verdeckt waren. Ich las „amor“ und „tiempo“ und wurde neugierig, denn ich lerne gerade Spanisch. Mit dem Fuß entfernte ich das Moos. „El amor es oro y el tiempo es un ladrón“ las ich. „Die Liebe ist golden und die Zeit ist ein Dieb.“

Wer suchte sich hier in dieser Gegend einen Spruch auf Spanisch aus? Ein Spanier? Nun erst suchte mein Blick den zweiten Betonblock: „Paul Stuben – Generalstaatsanwalt – 1940 bis 2011“.

Ich kannte Paul Stuben. Dass er gestorben war, hatte ich nicht erfahren. Sollte ich behaupten, er wäre ein Kollege gewesen? Oder wäre das Hochstapelei, da ich ihm nur ein einziges Mal begegnet war?

Paul Stuben führte mit mir 1991 ein Einstellungsgespräch. Nach meinem zweiten juristischen Staatsexamen hatte ich mich bei der Staatsanwaltschaft beworben. Eigentlich wollte ich Richterin werden, aber ich hatte die dafür nötige Punktzahl im zweiten Examen knapp verfehlt. Die Hürden bei der Staatsanwaltschaft waren weniger hoch und ich wusste, dass ich ein Ass im Strafrecht war. Was mich störte war, dass ich als Beamtin versetzbar war. Ich war aber fast dreißig Jahre alt und seit neun Jahren mit einem zehn Jahre älteren Mann verheiratet. Wir hatten ein Haus, Kinder waren neben dem Berufseinstieg dringend geplant. Doch mein Mann hatte mich zur Bewerbung gedrängt: „Du kannst Dir keine lange Auszeit leisten. Wir kriegen das alles schon hin.“

So saß ich also im Vorzimmer von Paul Stuben, welches sich im 14 Stock des Oberlandesgerichts befand, schaute auf die Häuser der Stadt herunter und war nervös. Es war das zweite Gespräch an diesem Vormittag. Ein Oberstaatsanwalt hatte ein erstes geführt. Dann öffnete sich die Tür. Herr Stuben war nicht groß, aber breit. Er hatte nur noch wenige dunkle Haare, die er kunstvoll über die Glatze drapiert hatte und er trug als Brille ein schwarzes Kunststoffgestell. Dabei wirkte er ruhig und undurchsichtig, bot mir einen Platz an einem flachen Couchtisch an und ließ sich schwer in den modernen Ledersessel gegenüber fallen. „Sie möchten also zur Staatsanwaltschaft?“, fragte er und ich nickte. „Können Sie mir mal sagen, warum Sie sich gerade dazu entschieden haben?“ Was sollte ich sagen? Dass die Staatsanwaltschaft nicht dazu da ist, blind Leute zu verfolgen, sondern dass sie dazu da ist, das Gewaltmonopol des Staates im Bereich der Kriminalität durchzusetzen, um Mord und Totschlag unter den Bürgern zu verhindern? Dass die Staatsanwaltschaft aber neutral war, die Aufgabe hat, aufzuklären, nicht nur zu ermitteln, was gegen Beschuldigte spricht, sondern auch, was für sie spricht? Aber all das wusste Herr Stuben doch genauso gut wie ich. Ich entschied, dass es in diesem Gespräch nicht darum gehen konnte, herauszufinden, was ich über das Strafrechtssystem in unserem Land gelernt hatte, sondern um meine persönliche Motivation. Mein Problem war nur, dass diese sehr dünn war. Ich hatte mich im Grund durch das Jurastudium gequält. Angetreten war ich als Neunzehnjährige nicht, weil mich das Recht so interessierte, sondern weil die Hörsäle der Juristen jedes Jahr Platz für tausend Neuanfänger boten und weil meine Eltern sich gewünscht hatten, ich möge, Karriere machen. Eigentlich lag mir die Soziale Arbeit viel näher und noch lieber wäre ich Lehrerin geworden, am besten für das, was ich gut konnte: Philosophie und Deutsch. Aber ich war eine der letzten „Boomer“ und in den geisteswissenschaftlichen Fächern drängten sich die Studierenden auf den Sitzplätzen in den viel zu eng bemessenen Seminarräumen. Lehrerinnen und Lehrer wurden sowieso nicht mehr eingestellt. Die begehrten Stellen waren bereits mit den Boomern der früheren Jahrgänge besetzt und würden während meines Arbeitslebens nicht mehr frei werden. „Kind, studiere Jura, da hast du am Ende die Wahl, was du machen möchtest.“, hatte meine Mutter geraten. „Aber ich will gar nicht mehr studieren. Ich möchte Hebamme werden oder Tanzlehrerin.“, hatte ich geantwortet. „Das kommt gar nicht in die Tüte. Wir konnten nicht studieren, aber du hast die Möglichkeit.“, hatte sie gesagt und am Ende siegte die Tatsache, dass ich aus einer Familie kam, wo das Studium nicht der Bildung, sondern einem Brotberuf diente. So hatte ich mich erfolgreich durch Studium und Referendarzeit gequält, den Geist geformt, das Herz entleert und nun saß ich dem Generalstaatsanwalt gegenüber und horchte in mich hinein, um dort wenigstens den Fitzel einer Antwort darauf zu finden, warum ich hier war. Schließlich antwortete ich: „Ich stelle mir vor, dass es abenteuerlich ist, Staatsanwältin zu sein.“ Herr Stuben stutzte einen Moment und bemühte sich sichtlich, den Anflug eines Lächelns, der unverkennbar seine Mimik erhellte, schnell wieder zu vertreiben. Aber ich hatte es schon gesehen und schämte mich. Vermutlich antwortete sonst niemand derart unprofessionell. „Damit meine ich, es ist doch nicht alltäglich, sich mit Mord und Totschlag zu befassen.“, versuchte ich, die Situation zu retten, aber mir war klar, dass auch das nicht gerade eine realistische Erklärung war. Vermutlich hätte ich doch besser nicht „in mich“ gehorcht, sondern die Aussagen eines juristischen Lehrbuchs über die Staatsanwaltschaft bemüht. „Na, mit Mord und Totschlag werden Sie zu Beginn eher weniger zu tun haben, eher mit Trunkenheit im Straßenverkehr und Diebstahl.“, entgegnete er. „Das ist mir schon klar. Das ist auch okay.“, beeilte ich mich, hinterherzuschieben. Er öffnete mein Bewerbungsschreiben.

„Sie wohnen am Wermelsee?“, fragte er. „Ja, da bin ich aufgewachsen und da steht auch unser Haus. Ich bin schon seit neun Jahren verheiratet. Mein Mann arbeitet als Bauingenieur in Berg.“ „Eine schöne Gegend.“, entgegnete er, „ich habe da ein Haus am Wermeler Südufer gekauft.“

Klar, am Südufer standen einige Villen, zugezogene reiche Leute wohnten da, hohe Mauern, mit Alarmanlagen gesicherte Schiebetüren, breit genug, um dicke Autos hindurchfahren zu lassen. Was sein Wohnort war, war meine Heimat, aber trotzdem eine ganz andere Welt. Immerhin gab es einen Anknüpfungspunkt für mein Anliegen: „Es ist sehr schön dort und ich möchte dort auch nicht wegziehen.“ Er schüttelte den Kopf: „Wenn wir Sie hier einstellen, dann müssen Sie sich aber darauf einstellen, dass wir Sie versetzen. Ist Ihnen das klar?“ „Ja, schon. Das habe ich mit meinem Mann abgesprochen, ein Jahr ist das okay. Aber dann müsste ich wieder zurück.“ „Das kann ich Ihnen nicht versprechen.“, sage Herr Stuben. Was sollte ich sagen? Aufstehen und wieder gehen? Ob er das schon mal erlebt hatte, dass jemand, der sich beworben hatte, aufstand und ging, weil er es sich anders überlegt hatte?

Ich hatte mir irgendwann im Referendariat in den Kopf gesetzt, in die Justiz gehen zu wollen. Dies war die Chance. Da konnte ich nicht absagen, um in einem Dorf zu bleiben, von dem aus ich keinerlei berufliche Möglichkeiten haben würde. Wenn meine naive Antwort, ich wolle zur Staatsanwaltschaft, weil es „abenteuerlich“ sei, meiner Einstellung nicht entgegenstand, dann wollten sie mich haben, das war klar. „Dann freue ich mich, wenn Sie mich einstellen.“, sagte ich. „Sie hören von uns.“, antwortete er. Damit war das Gespräch beendet. Herr Generalstaatsanwalt Stuben reichte mir die Hand und geleitete mich zur Tür. Als ich draußen stand, fiel mir auf, dass er mich nicht nach dem Beruf meiner Eltern gefragt hatte und dafür war ich dankbar.

Am Nachmittag rief mich seine Mitarbeiterin an, um mir mitzuteilen, dass ich eingestellt werden würde. Die Unterlagen und der Termin zur amtsärztlichen Untersuchung seien schon in der Post. Dienstantritt sei am 1. September 1991 bei der Staatsanwaltschaft in D.. Ich erschrak. Das bedeutete Umzug. „Kann ich mir das noch überlegen?“, fragte ich. „Tut mir leid, Sie müssen sich jetzt entscheiden und Ihr Einsatzort steht nicht zur Disposition. Wir brauchen Sie in D..“ „Okay, aber kann ich damit rechnen, nach einem Jahr zurück nach Hause versetzt zu werden?“, sagte ich. „Das kann sein, aber versprechen werden wir Ihnen das nicht.“

Ich trat meinen Dienst am 1.September 1991 in D. an. Wir hatten eine Zweitwohnung gemietet und eine interne Absprache, es darauf ankommen zu lassen, ob man mich nach einem Jahr zurückversetzen würde. Die Familiengründung musste so lange warten und sie war, wie sich schon nach einer Woche im Dienst zeigte, auch zeitlich nicht möglich. In den kommenden Monaten gingen täglich achtzig Akten über meinen Tisch. Ich arbeitete von 8.00 Uhr bis 19.00 Uhr und nahm für den Abend und am Wochenende in Reisetaschen Akten mit nach Hause. Am Hl. Abend schafften wir es zum ersten Mal seit Dienstantritt nach Hause zu fahren. Am ersten Weihnachtstag reisten wir bereits gegen Mittag zurück und schon nachmittags saß ich wieder in der kahlen Zweitwohnung am Schreibtisch und bearbeitete eine große Sache mit fast zweihundert einzelnen Einbrüchen.

Ich blieb ein knappes Jahr. Dann bat ich um Versetzung in die Heimat und, als mir dies abgeschlagen wurde, um Entlassung aus dem Dienst. Die Entlassungsurkunde trug die Unterschrift von Herrn Stuben. Anders als man nun denken könnte, ging ich nicht gern. Ich hatte wunderbare Kollegen gefunden. Staatsanwaltschaften können nur existieren, wenn man im Dienst zusammenhielt. Ein Filmtitel aus jener Zeit erklärte es: „Staatsanwälte küsst man nicht.“ Man wurde nicht geliebt als Staatsanwalt, auch nicht gemocht. Jedenfalls im Allgemeinen nicht. Bei mir gab es vielleicht eine Ausnahme. Ein Amtsrichter hatte einen Narren an mir gefressen. Ich hatte erfahren, dass der Amtsrichter, der sich einen Sport daraus machte, junge Kollegen mit Verachtung zu strafen und ihnen auf der Klaviatur der Strafprozessordnung Misstöne zu entlocken, einen drogenabhängigen Sohn hatte. Ich bin bis heute stolz darauf, dass er einem meiner Kollegen im Sitzungsdienst erklärte, mit mir sei bei der Staatsanwaltschaft in D. ein echter Mensch erschienen und somit „ein Stern aufgegangen“. Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch bereits eine „Sternschnuppe“. Meinen letzten Tag als Staatsanwältin verbrachte ich damit, in Tränen aufgelöst durch die Büros der Kollegen zu wandern und mich zu verabschieden, von Thomas, der ein guter Kumpel war, aber kein Blut sehen konnte und dessen Anklageschriften sprachlich so holprig waren, dass es einem peinlich war, sie in einer Verhandlung vorzulesen. Von Ulla, die ihr Leben der Arbeit widmete, weil sie so spröde und sachlich wirkte, dass man sich nicht vorstellen konnte, es gäbe daneben noch etwas anderes. Von Jürgen, der die Akten bündelweise erledigte und dabei im Hinblick auf oberflächliche Rechtsanwendung keine Skrupel zeigte. Von der freundlichen Oberstaatsanwältin, die so adipös war, dass ihr Auftritt in der Kantine an die Titanic gemahnte, an Klaus, den smarten Oberstaatsanwalt, der gar nicht so übel nach einem herben Rasierwasser duftete und der mir immer unter die Arme gegriffen hatte. Es war ein verschworener Haufen, ein Kollegenkreis, so fair, so untereinander hilfreich wie ich ihn später nie wieder gefunden habe. Aber das wusste ich an diesem Tag noch nicht. Ich erhielt die Entlassungsurkunde mit der Unterschrift von Herrn Stuben per Post und fragte mich, ob er sich dabei an unser Einstellungsgespräch erinnert hatte.

Und nun stand ich über dreißig Jahre später, unversehens an Grab des damaligen Generalsstaatsanwalt, welches von nichts geziert wurde als drei Betonblöcken, einem mit Namen und Dienstbezeichnung, einem mit Gedicht und einem ohne alles, der wohl nur das dekorative Gleichgewicht herstellen sollte.

Was sagt es über einen Menschen, wenn er ein Gedicht in einer fremden Sprache als Grabinschrift auswählt? Nach meiner Erfahrung tut man das, wenn man sich zeigen und zugleich verbergen möchte. Jedenfalls kratzte ich mit dem Fuß sorgfältig das Moos aus den Inschriften, nicht nur des Gedichtes, auch des Namens und dabei fühlte ich eine seltsame Mischung aus Verbundenheit und Genugtuung. Damals hatte er Macht über mich gehabt, jetzt hatte ich sie über ihn. Aber zugleich tat er mir leid, denn es war offensichtlich, dass er nicht oft „Besuch“ bekam. Das war wohl vorhersehbar gewesen, denn niemand hatte hier auch nur versucht, Blumen zu pflanzen. Die Erde zwischen den Betonblöcken war von verdrecktem, ausgedünntem Kies bedeckt, der wiederum unter einer Schicht aus Laub, Holzsplittern und verfaulten Eicheln verborgen lag. „Ich habe den Eindruck, nach seiner Beerdigung vor dreizehn Jahren ist niemand mehr hier gewesen.“, meinte ich und musterte das Unkraut, das hier und da zwischen den Kieseln ums Überleben kämpfte. „Wahrscheinlich hat er keine Frau oder die hat sich bei der vielen Arbeit von ihm getrennt.“, meinte mein Mann. „Ja, oder er hatte eine und die ist weggezogen und woanders beerdigt. Oder sie ist alt und krank und kann sich nicht kümmern. Und falls er doch Kinder hatte, dann sind die vermutlich auch mit ihrer Arbeit verheiratet und kommen hier nicht mehr hin.“ –

Wir gingen weiter. „Irgendwie passt das Grab zu einem Generalstaatsanwalt. Reduziert, kein Firlefanz, kein Platz für Blumen, streng, pflichtbewusst, einsam.“

„Ich ruf mal bei der Gemeindeverwaltung an, ob es noch jemanden gibt, der sich um das Grab kümmert.“, sagte ich. „Ja, so einfach da was machen, kann man nicht.“, bestätigte er.

„Ich könnte mir zum Anliegen machen, das Grab zu pflegen. Ich meine, er liegt da jetzt seit dreizehn Jahren. Aber es ist doch traurig.“ Er schwieg.

„Ich erinnere mich noch, dass er gelächelt hat, als ich gesagt habe, ich wolle Staatsanwältin werden, weil das so abenteuerlich sei.“ Pause. „Und er hat nicht gefragt, was meine Eltern von Beruf machen. Es gab auch nirgendwo so einen kollegialen Zusammenhalt wie bei der Staatsanwaltschaft. Weißt Du?“

Ich schaute ihn an; „Oder hältst du das für übertrieben. Ich meine, er hat damals andererseits nichts für mich getan. Und er hatte bestimmt Kollegen, Oberstaatsanwälte oder Leitende Oberstaatsanwälte, mit denen er wirklich Jahrzehnte zusammengearbeitet hat. Die könnten doch auch mal schauen, oder?“ Wir gingen nachdenklich weiter.

„Weißt Du, was Menschen, die sterben müssen, am meisten bereuen?“ „Dass sie nicht so viel gereist sind?“ „Nein, dass sie zu wenig geliebt haben.“ Pause.

„Irgendetwas, das wir nicht wissen, muss da gewesen sein. Sonst schreibt man doch nicht auf so einen nackten Betonblock „Die Liebe ist golden.“ Aber das steht da nicht allein: „Die Zeit ist ein Dieb.“  - Warum er das gewählt hat? Weil die Zeit die Liebe stiehlt? Oder das Leben?  Immer? Und wann genau? Mit dem Tod? Oder hat die Zeit ihm das Leben und die Liebe vorher schon geklaut?“ Ich spüre, dass ich eine Antwort finden möchte, die meine damalige Entscheidung gegen die Staatsanwaltschaft rechtfertigt und beschließe, nicht zu viel darüber nachzudenken.

„Du findest aber schon, dass es übertrieben wäre, das Grab eines wildfremden Menschen zu pflegen, nur, weil er vermutlich sein ganzes Leben mit Akten verbracht hat und dabei treu dem Grundgesetz gedient und weil er beim Einstellungsgespräch gelächelt und einen nicht gefragt hat, was denn die Eltern von Beruf machen, oder?“ „Ja, das finde ich.“ „Nun,  eine Ausrede findet man immer, nicht wahr?“



Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram