Das Erwachen

Erzählung zum Thema Fantasie(n)

von  Mondsichel

„Warum sollte ich Ihnen mehr davon erzählen? Sie glauben mir doch sowieso nicht. Niemand glaubt mir. Warum auch? Es ist doch immer viel schöner die Dinge zu ignorieren die man nicht versteht. Oder sie zu zerstören.“ Sie schaute ihrem Gegenüber mit kaltem und festem Blick in die Augen.
„Oh, aber dafür bin ich doch da. Um Ihnen zuzuhören, um Sie zu verstehen.“ Der junge Mann fixierte sie prüfend. Sie lachte abfällig.
„Ihr Psychologengesäusel können Sie sich sparen. Sie sehen doch auch nur das in Ihrem Gegenüber, was Sie sehen wollen. So wie alle Menschen.“ Innerlich verspürte er einen Stich im Herzen, doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
„Sie scheren jeden Einzelnen auf dieser Welt über einen Kamm, eine sehr einseitige Sicht, meinen Sie nicht?“ Die junge Frau schüttelte den dunkelhaarigen Schopf.
„Meinen Sie denn wirklich, ich würde nicht verstehen was in dieser Welt geschieht? Was die Menschen formt und ihr Wesen, ihr Handeln beeinflusst? Es ist im Grunde alles nur ein Kreislauf, ein ewiges Gebären, Erfahren und Sterben. Dem sind wir alle unterworfen, immer und immer wieder.“ Nun legte sich ein wissendes Lächeln auf sein Gesicht. Ein provozierendes Funkeln lang in seinen dunkelblauen Augen.
„Sie glauben also an Wiedergeburt? An das ewige Leben?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Wollen Sie mich nicht verstehen, oder können Sie nicht? Ich habe gesehen, wie die Seelen zurückkehrten in diese Welt. Ich habe gesehen wie das Leben neu erblühte. Ich sah sie scheitern und erneut zurückkehren. Doch egal wie oft sie eine neue Chance erhalten haben, sie haben niemals gelernt ihre Fehler zu vermeiden.“ Seufzend schloss der dunkelhaarige Psychologe die Akte, die vor ihm lag.
„Was haben all diese Erkenntnisse mit Ihnen und dem was Sie sind zu tun?“
„Wie gesagt, Sie würden es nicht verstehen, wenn ich es Ihnen erzählen würde.“
„Ach kommen Sie, das sind doch nur Ausreden.“
„Ich habe die Spielregeln nicht gemacht. Die formt das Leben.“

Einen Moment lang schauten sie sich schweigend in die Augen. In ihren dunklen Augen funkelte eine Überzeugung, die sich seinem Gefühl nach nicht mit irgendeiner bekannten Geisteskrankheit in Verbindung bringen ließ.
Er rückte seine Brille zurecht und sagte: „So bringt das nichts. Sie müssen schon ein wenig kooperativer sein und sich mehr öffnen, wenn ich Ihnen helfen soll.“ Das Mädchen stöhnte leicht entnervt auf.
„Ich brauche keine Hilfe, warum wollen Sie das nicht verstehen verdammt noch mal?“ Sein Blick verfinsterte sich.
„Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Sie sollten diese Sitzung nicht als Spaß ansehen, oder als Versuch die philosophischen Erkenntnisse auszutauschen.
Sie sind hier, weil andere Menschen sich Sorgen machen, dass sie nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden können. Sie ziehen sich immer mehr zurück, sind kaum ansprechbar und vergessen den Bezug zu dem, was um Sie herum geschieht. Sie schweben nur in wirren Ideen und Hoffnungen, die einzig und allein auf ihren Träumen aufgebaut sind, die Sie für ihre Wahrheit halten.“
„Ach, sind Träume jetzt schon eine Krankheit die man behandeln muss? Wie weit ist es nur in dieser Welt gekommen, wenn schon Träume verboten sind?“
„Träume sind so lange in Ordnung, wie sie nicht überhand über ihr Leben bekommen. Denn wenn es ihnen nicht gelingt auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen, dann werden Sie zukünftig scheitern und am Ende vielleicht tot in irgendeinem Hinterhof landen!“ Nun verfinsterte sich ihr Blick ebenfalls.
„All die Dinge die ich fühle und denke sind Realität. Ich weiß was bald geschehen wird, ich glaube fest daran. Es sind keine Träume! Auch wenn ich es nicht erklären kann, warum ich es so genau weiß. Aber das ist auch nicht so wichtig.
Mein Leben auf dieser Welt wird sich schon sehr bald wandeln. Ich verlasse diesen verfluchten Planeten und dann wird es niemanden mehr jucken, ob ich zwischen Realität und Traum unterscheiden kann!“ In den Augen des Mannes blitzte es auf...

„Ist das ein angedrohter Suizid?“
„Wie?“ Sie starrte ihn fassungslos an.
„Ob das ein angedrohter Suizid ist!? Wenn dem so ist, dann werde ich Sie in Sicherheitsverwahrung bringen lassen müssen.“
„Sie haben doch wohl ein Rad ab! Das lass ich mir nicht länger bieten“, kreischte die junge Frau und wand sich zur Tür. Im nächsten Moment packte sie der Psychologe kraftvoll an ihrem Arm, um sie zurückzuhalten.
Sie starrte ihn mit einem vernichtenden Blick an, der ihm regelrecht Angst einflößte. In ihren dunklen Augen schien weit entfernt etwas aufzuglühen. Ein unangenehmer Schauer legte sich über seinen Rücken und er lockerte seinen Griff.
„Hören Sie, ich werde jetzt durch diese Tür gehen und wir werden uns niemals wiedersehen. Sonst kann ich für nichts mehr garantieren!“ Sein Griff um Ihren Arm wurde wieder fester. Sie riss sich von ihm los, doch der Ärmel ihres langen schwarzen Kleides zerriss dabei. Überrascht hielt er die Fetzen in der Hand.
„Na toll. Ich hoffe Sie sind zufrieden.“ Sie riss ihm den Rest von ihrem Ärmel aus der Hand und murmelte fluchend vor sich hin.
Der Psychologe blickte wie erstarrt auf eine Tätowierung, die auf ihrem linken Oberarm sichtbar geworden war. Es handelte sich um ein Kreuz, in dessen Mitte ein Viertelmond und eine Sonne leuchteten. Umrankt war das Ganze mit blühenden Rosenranken, deren spitze Dornen von Blut nur so zu leuchten schienen. Darunter war in ihm fremden Symbolen ein Name geschrieben, den er nicht entziffern konnte.
Wie paralysiert stand er noch immer an der Tür, als sie schon längst seine Praxis verlassen hatte. Er hatte sie nicht mehr zurückgehalten, er war nicht einmal mehr fähig dazu gewesen noch ein einziges Wort von sich zu geben.
Als er wieder an seinem Schreibtisch saß stützte er den Kopf auf seine Hände und dachte nach. Vollkommen abwesend strich er sich selbst über seinen linken Oberarm. Als er realisierte was er da tat, entschloss er sich alle weiteren Termine von seiner Sekretärin absagen zu lassen und die Praxis für diesen Tag zu schließen...

Der sonst so konzentrierte Mann war vollkommen abwesend, als er durch den Stadtpark ging. Er hatte gehofft, die frische Herbstluft würde seinen Kopf frei machen. Doch stattdessen füllte er sich mit unendlich vielen Gedankengängen.
Die Begegnung mit diesem Mädchen hatte ihn sehr aufgeregt, dabei war er eigentlich jemand gewesen der sich nicht so leicht provozieren ließ. Immer wieder musste er an ihre Worte denken. Immer wieder schallte ihre Stimme in seinen Ohren.
„Sie sehen doch auch nur das in Ihrem Gegenüber, was Sie sehen wollen. So wie alle Menschen.“ Er versuchte die aufsteigenden Zweifel abzuschütteln, doch es wollte ihm nicht gelingen. Vor allem aber hatte ihn diese Tätowierung auf ihrem Arm vollkommen verwirrt. Er hatte dieses Symbol irgendwann schon einmal gesehen, das spürte er, doch er wusste nicht mehr wo.
Auf einer Parkbank setzte er sich schließlich nieder. Und fast schien es ihm, als würde das Leben im Zeitraffer an ihm vorbeilaufen. Für einen Moment schloss er die Augen, die brennend zu schmerzen begannen.
Für einen kurzen Moment malten sich Bilder vor seinen Augen ab, die ihm bekannt vorkamen, die er jedoch nicht deuten konnte. Ein riesiger Fluss mit hellen Lichtern schien vor ihm hinzufließen, direkt durch ein Tor hindurch, in dem eine grelle Sonne erstrahlte. Und plötzlich entschwand ihm das Bild. Wie ein Schatten, der im leuchtenden Mondschein die Straßen flüchtig berührt hatte...

„Ist alles in Ordnung?“ Eine Stimme riss ihn aus seinem paralysierten Zustand. Zunächst war alles verschwommen, doch dann wurde der Blick klarer. Er schaute direkt in zwei tiefe Augen, die zwar nun etwas freundlicher schienen, aber immer noch zu der jungen Frau gehörten, die vorhin wütend aus seiner Praxis gestürmt war.
Doch sie war nun in ein dunkles T-Shirt mit Spitze und eine schwarze Jeans gekleidet. Auch hatte sie ihre langen Haare mit zwei Spangen am Scheitel hochgesteckt.
„Sie sehen ja fürchterlich aus. Was haben Sie nur gemacht?“ Er blickte sie fragend an. Wenn er sich selbst gesehen hätte, wäre er wahrscheinlich sehr erschrocken gewesen.
Seine zuletzt kurzen dunklen Haare waren inzwischen schulterlang und total verfilzt. Sein Bart war ebenfalls gewachsen und machte ihn älter als er eigentlich war.
Seine schwarzen Jeans hatten aufgeschlitzte Stellen und schon Verwitterungsansätze. Die Schuhe waren heruntergelaufen und in der Sohle waren Löcher. Außerdem war das Leder oben gerissen. Sein blaues T-Shirt hing teilweise zerfetzt herab...

„Ich habe noch einmal bei Ihnen in der Praxis angerufen um den nächsten Termin abzusagen. Da teilte mir Ihre Sekretärin mit, dass Sie seit zwei Wochen verschwunden sind. Und dann sehe ich Sie hier auf der Parkbank sitzen. Da musste ich doch mal fragen was los ist.“ Er zuckte zusammen.
„Was? Zwei Wochen? Aber... ich...“ Nun war er vollkommen verwirrt. „Aber ich bin doch gerade erst von der Arbeit weggegangen. Das kann gar nicht sein.“ Die junge Frau konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Es ist aber so. Die Realität hat Sie scheinbar wieder eingeholt, wo immer Sie auch die letzten zwei Wochen verbracht haben mögen. Haben Sie vielleicht zu viel geträumt?“, sagte sie verschmitzt. Er konnte darüber irgendwie überhaupt nicht lachen.
Gerade als er ihr etwas entgegnen wollte, verspürte er einen stechenden Schmerz durch seinen Körper fahren. Sein Atem stockte und seine Augen weiteten sich.
Reflexartig fasste er sich auf seinen linken Oberarm, von dem der Schmerz auszugehen schien. Doch im selben Moment zuckte er wieder zurück, denn es wurde noch schlimmer, als er seine Haut berührte. Sein Herz krampfte zusammen.
„Sind Sie verletzt? Sie haben sich doch nicht etwa mit irgendwelchen Schlägern eingelassen?“ Nun schaute sie ihn doch etwas besorgt an.
Er atmete schwer und ein beklemmendes Gefühl legte sich über ihn.
„Ich... ich weiß es nicht... Ich kann mich an rein gar nichts erinnern. Ich verstehe das nicht. Und dieser Schmerz... ich... ich bin vollkommen verwirrt...“
„Warten Sie, vielleicht kann ich Ihnen helfen.“ Vorsichtig hob sie die Fetzen des T-Shirt am Oberarm an. In Ihren Augen malte sich Überraschung ab. Als wollte sie nicht glauben was sie sah, blickte sie unentwegt auf seine Haut.
„Ich habe es immer gewusst. Die Schöpfung ist wahrlich ein Komiker.“ Sie musste lachen. Er hingegen verstand nun gar nichts mehr.
„Wie meinen Sie das?“ Die junge Frau setzte sich und beugte sich zu ihm herüber.
„Das Erwachen, es hat begonnen“, flüsterte sie ihm zu. In seinem Innersten gab es ihm einen neuen Stich. Doch begreifen tat er immer noch nicht. Fragend blickte er das junge Mädchen an, das nachdenklich in seine Augen sah.
„Erinnern Sie sich noch, als ich Ihnen sagte, dass Sie mir nicht glauben werden, wenn ich Ihnen erzähle, was ich bin?“ Er nickte. Sie blickte in die Ferne.
„Nun. Ich bin die Grenze zwischen Realität und Traum. Ich bin die Grenze zwischen Leben und Tod. Ich bin Einer der Torwächter des ewigen Kreislaufes.“ Mit großen Augen schaute er sie von der Seite an. Dann lachte er lauthals.
„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“ Ihre dunklen Haare hingen ihr wirr im Gesicht, welches mit vollkommen ernsten Zügen gezeichnet war.
„Doch, das ist mein vollkommener Ernst.“
„Sie wissen, das ich ein Gutachten erstellen muss?“
„Ich glaube kaum, dass Sie dazu kommen werden in nächster Zeit.“
„Was soll das heißen? Drohen Sie mir?“ Sie schüttelte lächelnd den Kopf...

„Wissen Sie, ich bin gekommen um den zweiten Torwächter zu suchen, der vor langer Zeit selbst in den Kreislauf des ewigen Lebens einging und verschlungen wurde.
Er hatte den Wunsch seinem ewigen Leben eine neue Sicht zu schenken, er suchte das Abenteuer. Doch dieses Abenteuer dauert schon viel zu lange.“ Er hustete laut auf, ein komisches Gefühl machte sich in seinem Innersten breit.
„Wir Torwächter sorgen für das Gleichgewicht in dieser trostlosen Welt. Wir erfüllen die Seelen mit Energie und dem Feuer, dass sie stets zurückführte in ein neues Leben. Aber als ich ganz alleine an den Grenzen wachte, fehlte jedem neuen Leben ein Stück von dem Feuer, das diese Welt erhellte und erwärmte.
Die Menschen wurden kalt, sie lernten nicht aus ihren Fehlern, sie fielen zurück in die Gewohnheiten und Tragödien ihrer Vorleben. Die Dinge wiederholten sich, die Seelen verloren ihren Glanz. Allmählich froren sie ein und malten die Welt in eisigen Farben. Nur wenige suchten sich ihr Licht in den Träumen. Eine Flucht in die Dunkelheit.“ Er wollte etwas sagen, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
„Deshalb machte ich mich auf den Weg den zweiten Torwächter zu finden. Der Kreislauf, er ist nicht unterbrochen. Doch die Seelen werden schon kalt in diese Welt geboren und niemand ist da, ihnen die Wärme zu geben. Eine neue Eiszeit hat sich angekündigt, doch ich habe nicht viel Zeit die Dinge zu richten.
Ich muss wieder zurückkehren, dorthin wo ich glücklich bin und wo ich meine Aufgabe habe. Langsam erwachen die Kräfte in mir, langsam kündigt sich der Tag an, an dem ich zurückkehren muss. Sonst nimmt mir der Lauf der Zeit meine Erinnerung und das Schicksal dieser Welt ist für immer verloren.“ Sie schaute den vollkommen entsetzten Mann mit festem Blick an.

„Sagen Sie mir, warum sind Sie eigentlich nicht verheiratet?“ Diese Frage überraschte ihn jetzt total, denn damit hatte er nicht gerechnet.
„Ähm... wie bitte?“
„Ich fragte warum Sie nicht verheiratet sind!? Sie scheinen ja nicht mal verliebt zu sein.“ Mit bohrendem Blick musterte sie ihn.
„Jetzt haben Sie mich völlig überrumpelt.“ Er fasste sich verlegen an den Kopf.
„Ich weiß gar nicht... ich meine...“ Sprachlos schaute er sie an.
„Soll ich Ihnen sagen warum?“ Er bekam einen trockenen Hals.
„Weil die Welt an Ihnen vorbeistürmt, ohne dass Sie die Chance haben, das Leben zu genießen. Sie haben niemals die Frau gefunden, nach denen Sie sich in ihren verdrängten Träumen schon immer gesehnt haben“
„Jetzt fangen Sie schon wieder mit ihren Träumen an! Das scheint bei Ihnen zum echten Problem zu werden. Sie können doch Ihre Lebensphilosophie nicht auf dem aufbauen, was Sie gerne hätten und das Leben da draußen vergessen!
Mal davon abgesehen bin ich der Psychologe. Also reißen Sie sich gefälligst ein wenig zusammen. Mein Privatleben ist für Sie tabu.“ Sie lächelte in sich hinein.
„Hören Sie, Ihr psychologisches Wissen wird Ihnen bei der Wahrheit auch nicht weiterhelfen. Denn dafür bedarf es schon einer weitreichenderen Vorstellung, die Sie nicht haben. Zumindest jetzt noch nicht.“
„Sie sprechen in Rätseln. Ist das schon wieder Eine ihrer Traumvorstellungen?“
„Es gibt einen schönen Gedanken, den ich beherzige und nach dem ich lebe.“
„Der da wäre?“
„Glaube fest an Deine Träume und verlier sie niemals aus den Augen. Je fester Du daran glaubst und je mehr Du für die Realisierung Deiner Träume tust, desto höher steigt die Chance, dass sie sich eines Tages doch erfüllen.“
„Das mag teilweise richtig sein, aber es sollte nicht zum absoluten Wege werden. Sie müssen sich in dieser Welt zurechtfinden. Sie müssen realisieren, dass nicht alles immer so geschehen kann, wie sie es wünschen.“ Sie schaute ihm tief in die Augen. Ein Kribbeln ging durch seinen Körper und er musste schlucken.
„Ich werde nicht mehr lang genug hier sein, um ihren Rat zu befolgen.“
„Was haben sie vor?“
„Ich werde zurückkehren. Dorthin, wo das Leben endet und beginnt.“
„Sie sind doch noch so jung...“, weiter kam er nicht, denn sie legte ihm einen Finger auf den Mund um ihn zum Schweigen zu bringen. Dann stand sie auf und blickte von oben auf ihn herab, der noch immer auf der Parkbank saß.
„Ich werde nicht alleine zurückkehren. Denn ich habe endlich gefunden wonach ich suchte“, flüsterte sie und in ihren Augen funkelte es auf. Der Psychologe erhob sich ebenfalls und schaute sie ernst an...

„Was haben Sie gefunden?“ Sie lächelte.
Anstatt ihm zu antworten, umarmte sie den jungen Mann, der im selben Moment zusammenzuckte. Ein heißes Gefühl durchfuhr seinen Körper und der Schmerz, der die ganze Zeit vergessen schien, erfüllte erneut seinen Leib.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, da er größer war, umfasste mit beiden Händen sein Gesicht und küsste ihn. Der junge Mann war völlig wehrlos in dem Feuer gefangen, das sich nun durch seine Adern zu brennen schien. Er wollte mehr von diesem Gefühl und vergaß schließlich sogar, dass sie seine Patientin war.
Seine zögerliche Zurückhaltung wandelte sich in leidenschaftliches Verlangen und alles um sie herum wurde bedeutungslos. Als sich ihre Lippen schließlich wieder voneinander lösten, schien die Zeit erneut geflohen zu sein. Denn die Natur war nun weiß verschneit und die eisige Kälte zog ihnen in die Knochen.
„Was geschieht hier?“ Jetzt war er vollkommen verwirrt.
„Wir sind die Wächter des ewigen Kreislaufes. Für uns ist die Zeit belanglos. Manchmal ist ein Atemzug so lang wie eine Jahreszeit auf dieser Welt.“ Er starrte sie fassungslos an. Ihre Lippen zogen ihn magisch an. Doch er zwang sich diesem Schauspiel der Verwirrung nicht noch einmal zu erliegen.
„Du hast lange geträumt, auch wenn Du es jetzt wahrscheinlich noch nicht verstehen kannst. Sie alle hier träumen, sie alle hier leben. Jeder in seiner eigenen Welt, die kälter und kälter wird. Diese Erkenntnis ist Deine Realität. So wie sie die Meine ist.“
„Welche Realität? Ich komme mir vor, als wäre ich in einem Alptraum gefangen.“
„Dies ist kein Traum! Soll ich es Dir beweisen?“ Zögerlich nickte der junge Mann...

„Schau, die junge Frau dort drüben.“ Ihre Blicke wendeten sich zu einem jungen Mädchen, mit langen blonden Locken, das unsicher über die vereiste Straße trippelte. „Sie wird gleich in diesen Laden dort drüben gehen und sich ein paar Pullover kaufen. Sie wird den Einkauf mit ihrer Bankkarte bezahlen.
Wenn sie das Geschäft verlässt, wird sie von einem jungen braunhaarigen Mann angesprochen, der früher mit ihr zur Schule gegangen ist. Sie werden im Café dort drüben Kuchen essen und Tee trinken. Und sie werden die Adressen austauschen.“ Skeptisch sah er sie an, doch sie nickte nur. Aufmerksam beobachteten die Beiden nun das Geschehen und es geschah alles so, wie die junge Frau es vorausgesagt hatte.
„Was meinst Du, wie geht die Geschichte aus?“, fragte sie scheinbar nebenläufig.
„Och... Die beiden werden sich verloben, heiraten, zwei Jungs und ein Mädchen bekommen. Sie werden in ein großes Haus ziehen und verschwenderisch leben. Sie verliert ihren Job als Schaufenstergestalterin und er geht mit seiner Sekretärin fremd.
Nach 15 Jahren Ehe werden sie sich scheiden lassen und anschließend ihr Leben mit flüchtigen Affären verbringen, wo es nur um Sex geht. Ein unglückliches Ende, für eine unglückliche Seele. Das Übliche eben“, sagte er wie aus der Pistole geschossen. Erschrocken schlug er die Hand vor seinen Mund. Sie grinste ihn an.
„Das kann nicht sein! Nein...“
„Na schön. Dann erkläre mir das hier!“ Mit einem Ruck riss sie die letzten Fetzen von seinem Ärmel an der linken Schulter ab. Er zuckte zusammen, doch der erwartete Schmerz, der zuletzt so fürchterlich durch seinen Körper gezogen war, blieb aus.
Erst wollte er gar nicht schauen, doch ein inneres Verlangen lenkte dann doch seinen Blick auf die eigene Schulter. Seine Augen weiteten sich, als er die Tätowierung erblickte. Es war dieselbe, die er damals auf der Schulter des jungen Mädchens gesehen hatte. Nur der Name war ein anderer. Allerdings konnte er nun die Schrift entziffern, was ihm zuvor unmöglich gewesen war.
„Lesdion“, sagte er laut. Sie nickte.
„Marlani“, spukte es in seinen Gedanken.
„Willkommen in der Wirklichkeit“, klang ihre Stimme in seinem Kopf.
Durch seinen Körper zuckten Erinnerungen, die er lange Zeit vergessen hatte. Und er spürte eine unendliche Kraft aus ihrem Schlafe erwachen, die seinen Leib erglühen ließ. Er schloss die Augen. Sein Äußeres veränderte sich und schenkte ihm die Gestalt, die sein menschliches Ich vor ihm verborgen hatte...

Schulterlange Haare umrahmten Lesdions rasiertes, aber leicht bärtiges Gesicht, aus dem zwei schwarze Augen leuchteten. Seine sinnlichen Lippen lächelten ihr Entgegen und schienen zu flüstern, obwohl sie schwiegen. Er war in schwarze Lederkleidung gekleidet und seine Gestalt war von einem langen Umhang eingehüllt.
„Das Erwachen muss nicht immer ein böses Erwachen sein. Manchmal ist es eine Befreiung von Ketten, die uns an strikte Lebensabläufe fesseln“, sagte sie.
Er schaute das Mädchen liebevoll an.
„Manchmal ist es auch der Beginn einer wundervollen Zeit“, antworte er.
„Was ist schon Zeit? Wir haben doch die Unendlichkeit“, sagte Marlani.
„Wobei die Unendlichkeit doch manchmal recht langweilig sein kann.“
„Ich merk schon, Du bist wieder vollkommen wach.“ Sie lachte.
„Ich weiß gar nicht was Du meinst“, entgegnete Lesdion grinsend.
„Das glaub ich Dir aufs Wort“, antwortete sie prustend.
„Wie lange mag ich wohl geschlafen haben?“, dachte er bei sich.
„Es war wohl mehrere Leben lang“, flüsterte Marlani.
„Dabei wollte ich doch Abenteuer erleben. So wie die Seelen es mir einst erzählten.“
„Die Abenteuer findet man nicht im Fluss des Lebens. Sondern in der Welt selbst. Es war ganz schön dumm im Seelenstrom Schwimmübungen zu machen.“
„Verzeih mir. Ich werde es niemals wieder tun.“ Sie lächelte und seufzte doch innerlich. Denn sie wusste, er würde immer nach dem Abenteuer suchen...

„Es wird Zeit zurückzukehren. Ich werde jetzt mein verborgenes Selbst erwecken, das ich sicher in einem Traum eingeschlossen habe. Nur zur Sicherheit.“ Sie zwinkerte ihm zu, als sie die Macht in ihrem Innersten erweckte.
Die Energien erfüllten und erfrischten sie. Jegliche Grenzen, die ihr als Mensch gesetzt waren, lösten sich auf und gab Marlani das Gefühl endlich frei zu sein.
Lange rotbraune Haare streichelten das weiche Gesicht mit den dunklen Augen und den Rosenblütenlippen, die ihre süßen Küsse in die Atmosphäre hauchten. Ihr langes rotes Spitzenkleid, mit dem dunklen Umhang, hatte sie so sehr vermisst. Freudestrahlend drehte sie sich wie zum Tanze und umarmte den zweiten Wächter.
Gemeinsam tanzten sie auf Nebelwolken der Zwischenwelt und vergaßen für einen kleinen Augenblick alles, was in der letzten Zeit mit ihnen geschehen war. Die Welt war schön, doch es war eben nicht ihr Zuhause...

Die Nebel um sie herum begannen zu fallen. Der Sommer war bereits erblüht. Süße Düfte benebelten ihre Sinne, doch sie wussten, jedes Zögern würde eine Farbe des Eises mehr in dieser Welt bedeuten.
„Hier wird uns keiner mehr vermissen. Es wird sein, als hätten wir niemals existiert.“ Lesdion nickte ihr zu. Dann blickte sie ihn nochmals ernst an.
„Aber tu mir einen Gefallen. Wenn Du das nächste Mal ein Abenteuer erleben willst, weil Dir so langweilig ist, dann rede mit mir und wir finden eine bessere Lösung. Auch wenn ich manchmal ein wenig abwesend und verloren wirke, ich bin immer für Dich da. Du bist doch alles was ich habe.“ Er küsste sanft ihre Stirn.
Passanten beobachteten das merkwürdige Paar, dass dort in edler Kleidung stand, als wären sie gerade einem Märchenfilm entsprungen. Lachend drehten sich die Beiden nochmals, als würden sie zum nächsten Tanze auf das Parkett gehen.
Und noch einmal verweilten sie, um sich so tief in die Augen zu sehen, dass sie die Seelen im Fluss des Lebens dort funkeln sehen konnten.
Marlani flüsterte ihm zu: „Ich weiß, es ist nicht immer leicht mit mir. Wir alle haben unsere Fehler, aber Fehler sind dazu da, um aus ihnen zu lernen und sie beim nächsten Mal zu vermeiden. Auch wenn die Erfahrung bei den Menschen nur ein einziges Leben lang anhält. Deshalb wird diese Welt auch niemals die Unsere sein. Denn in der Unendlichkeit muss man sich eben stetig weiterentwickeln um nicht zu resignieren.“ Lesdion umarmte sie und küsste sie noch einmal mit flammender Leidenschaft.
„Ach und für die Psychiaternummer bist Du einfach nicht geeignet.“ Sie zwinkerte ihm zu. Lauthals lachend drehten sie sich im Kreise und wurden immer durchsichtiger und durchsichtiger. Schließlich waren sie der Welt für immer entschwunden.
Nur in der Grenzwelt, dort wo das Leben endet und beginnt, dort begegneten die Seelen ihnen immer wieder. Doch konnten sie es niemandem erzählen. Denn jeder Neubeginn lässt die Erinnerung eines jeden Lebensfunkens sterben...

(c)by Arcana Moon


Anmerkung von Mondsichel:

Nach langer Zeit nun der vorletzte Teil für "Als die Welt zu Eis wurde..." Diesmal wieder etwas mehr in die Fantasy-Richtung. Ich hoffe es gefällt Euch... :)

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