Sehr geehrter Herr Marx

Text

von  GiraffeFolle

Sehr geehrter Herr Marx,
ich schreibe entsetzlich ungern an Sie, weil alles, was ich beginne, in kitschige Liebesbriefe ausartet, in die ich mich dann selbst hineinsteigere. (Beides wundert mich, da es bekanntermaßen nichts gibt, das ich so wenig verstehe wie die Liebe, und deswegen sollte ich eigentlich weder darüber schreiben noch mich hineinsteigern können. Aber die Erfahrung hat einen ja gelehrt, dass man sehr viel mehr kann, als man gedacht hätte.) Trotzdem denke ich, ich sollte Ihnen etwas schreiben, was mich ebenfalls wundert, weil ich keinen bestimmten Anlass dazu habe. Vielleicht erzähle ich einfach zu gerne, und da ich nicht weiß, wem ich die ganzen Dinge, die mir im Kopf herumgehen, sonst erzählen soll, ohne auf dieses Verständnis zu stoßen, dass ich zumindest aus Ihren besseren Momenten von Ihnen gewohnt bin, schreibe ich sie Ihnen auf, noch nicht sicher seiend, ob meine Erzählung Sie je erreichen wird.
Wissen Sie eigentlich davon, dass mein Gehirn sich manchmal selbst gewisse Gedanken einpflanzt, und mein tatsächliches Bewusstsein weiß nicht, woher sie kommen und was sie bedeuten? Mit etwa 14 Jahren beispielsweise hatte ich regelmäßig, wenn ich zu Hause in meinem Zimmer saß, ganz abrupt den Gedanken „Ich will nach Hause.“ im Kopf, manchmal auch die längere Form „Ich will nach Hause und  einen Kaffee trinken.“ (Was beides fragwürdig ist, da ich erstens ja zu Hause war und zweitens gar keinen Kaffee mag.) Ich schüttelte dann meistens einfach den Kopf und tat es als Laune meiner kleinen grauen Zellen ab, aber der Gedanke wiederholte sich, kehrte hartnäckig immer wieder, über Wochen und Monate hinweg, und ich habe ihn bis heute nicht wirklich verstanden.
Als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe, sah ich Sie von der Seite an und dachte ganz plötzlich „Tu mir nicht weh.“ Ich habe das nicht mit Absicht gedacht, ich hatte mir nichts dergleichen zurechtgelegt, die Worte waren einfach ganz plötzlich in meinem Kopf. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht wusste mein kleines blaues Gehirn damals schon, dass Sie dazu in der Lage sein könnten, vielleicht hat es auch einfach überhaupt nichts zu bedeuten gehabt, wer weiß. Jedenfalls hat sich auch dieser spontane kleine Satz beachtlich lange gehalten, in der ganzen langen Zeit, die seitdem vergangen ist. Manchmal wird er verschüttet, kurzzeitig ausgeblendet, doch er ist immer irgendwie da. „Tu mir nicht weh.“ Was für eine anmaßende kleine Bitte. Vielleicht ist sie daraus entsprungen, dass ich damals, bei unserer ersten Begegnung das unabdingbare Gefühl hatte, ich könne weich und klein und zärtlich aussehen und es würde keinen Unterschied machen zu dem großen, holprigen und rückgratsvollen Bild, das ich sonst so meisterhaft darstelle – vielleicht bin? - , dass ich glaubte, ich hätte jemanden getroffen, bei dem ich mich wagen könnte, um so etwas zu bitten. Normalerweise fragt man andere Menschen nicht danach, von Schmerzen verschont zu bleiben. Aber ich glaube, ich habe damals diesen kleinen, weichen, zärtlichen Teil von mir in Ihre Hände gelegt, aus irgendeinem Grund, der mit allem Anderen, das sich in Worten sagen ließe, nichts zu tun hat. Mittlerweile glaube ich nicht mehr daran, dass sich das, was ich über Sie denke und empfinde mit irgendeinem konventionellen Begriff zusammenfassen oder beschreiben lässt und genau das macht es so schwer, Ihnen etwas zu erzählen, ohne wie ein jämmerlicher kleiner Idiot dazustehen, der händeringend Worte aus der Luft greift, die sich dann alle unpassend und dumm anhören. Solange ich versuche, es einzufangen, fühlt es sich immer falsch an, wenn Sie wissen, was ich meine, und deswegen drücke ich mich so penibel darum, mich konkret auszudrücken.
Aber manchmal, manchmal, wenn ich zum  Beispiel beim Einkaufen bin und etwas vollkommen Absurdes sehe (sauer eingelegte Sojasprossen zum Beispiel, oder längs gestreifte Socken mit Tiermustern für Kinder), etwas, von dem ich weiß, dass Sie es als genau so absurd empfinden würden, dann lache ich und muss daran denken, wie Sie mich ansehen würden, wenn Sie da wären, und ich glaube, dann vermisse ich Sie, aber gleichzeitig vermisse ich Sie auch nicht, weil ich weiß, dass Sie da sind (was eine lächerliche Metapher ist, denn natürlich sind Sie es nicht). Ich habe so oft darüber nachgedacht, ob wir uns diese Verbundenheit immer nur eingebildet haben, ob es ein lächerlicher Versuch war, etwas herzustellen, Beziehungs-weise herbeizuführen, das einfach nicht da ist. Aber dann wache ich am nächsten Morgen auf und sehe Ihren Schatten in meiner Küche mit seinen langen Klavierfingern Tee zubereiten (eine ganz billige Halbschlaf-Wahnvorstellung, ich weiß) und denke mir, dass man solche Dinge doch nicht sieht, wenn man sie nicht wirklich sehen will. Ich habe viel zu lange gezögert, mich auf diese Art von Gedanken einzulassen, aber dass Sie genau so lange zögern, würde ich gerne als Bestätigung dafür sehen, wie gut Sie mich verstehen.
Sehr geehrter Herr Marx, ich weiß, dass Sie mit diesem Brief nicht sehr viel anfangen können werden, aber ich bitte Sie, sich – sofern Sie mir einen Gefallen tun wollen – für fünf Minuten auf meinen Standpunkt zu stellen und nachzusehen, ob Sie auch irgendwelche komischen Gedanken im Kopf haben, die Sie so vollkommen unmöglich werden lassen, wie ich es vielleicht bin. Wenn Sie sich die Mühe nicht machen möchten, dann richten Sie bitte wenigstens Ihrer Mutter aus, dass ich sie liebe, geradezu vergöttere – einfach nur aus dem simplen Grund, dass sie Sie in die Welt gesetzt hat.
Mit Hochachtung,
Ihre Frau Giraffe


Anmerkung von GiraffeFolle:

6. Februar 2007

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Kommentare zu diesem Text

markkkk (28)
(08.08.07)
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Locklin (48)
(25.08.07)
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Graeculus (69)
(15.08.16)
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 Dieter_Rotmund meinte dazu am 20.12.19:
Das habe ich mich auch gefragt. Aber Giraffe scheint ausgestorben zu sein.

 GiraffeFolle antwortete darauf am 20.12.19:
Nein, Giraffe ist nicht gestorben. Und nein, es handelt sich nicht um Karl Marx, falls ihr den meintet. Marx heißen sehr viele Menschen!

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 23.12.19:
O.K., alles klar.
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