Immer wenn Sie mir seine Briefe vorliest

Erzählung zum Thema Leben

von  Secretgardener

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Flüchten mußte Sie. 1957 überquerte Sie mit Ihrem Bruder Pavel den Ural und die Tundra, während Chuck Berry seine „Rock and Roll Music“ auf die Jugend los ließ. Sie will mir nicht sagen, warum Sie von den Komi flüchten mußte, doch manchmal erzählt Sie mir Geschichten über diese Ihre Flucht - wobei ich mit zunehmendem Alter merke, daß Sie mir nicht alles erzählt, und Manches beschönigt. Ihr Bruder blieb unterwegs im tschechischen Teil von Schlesien stecken. Er brach sich auf einer Brücke  ein Bein und kam in einer Familie unter die ihn pflegte, doch sie hatten nur Platz für einen, also zog meine Oma von da an alleine weiter; Sie war ohnehin die Stärkere und Ältere der Zwei. Er wollte später zu Ihr zurückkehren, doch verliebte sich in ein Mädchen aus dem Dorf. Ich kenne meinen Onkel Pavel nur von Photos und den Briefen, die er manchmal schreibt. Meine Oma übersetzt sie immer für mich, aber sein Kauderwelsch aus verschiedenen Sprachen zu einer gemischt ist schwer zu verstehen, und viele Ausdrücke gibt es nicht im Deutschen. Doch ich merke, wie glücklich er dort ist.
Bei ihm ist alles so viel einfacher, seine Sorgen sind ursprünglicher. Letzten Sommer bekam auch er Enkelkinder, 2 Jungs. „Jungs sind gut, arbeiten gut“ wie man bei ihnen sagt. Dann bin ich wieder froh nicht dort zu leben. Ich fühle mich hier schon nicht integriert, aber als schwaches Mädchen, das ich bin, hätte ich bei meinem Onkel Pavel im Ort noch viel weniger zu lachen. Seine Briefe sind immer Wochen unterwegs und riechen seltsam.
Wenn Sie mir seine Briefe vorliest essen wir immer russische, gekochte, gezuckerte Kondensmilch. Meist bestreichen wir einfach nur Waffeln damit. Früher setzte meine Oma 2, 3 Stunden bevor ich da war die Dose in ein Wasserbad, damit der Zucker karamellisiert. Wenn ich bei Ihr übernachtete, kochten und backten wir gemeinsam, nur Kondensmilch mußte es enthalten. Heimlich trank ich sie so; ich bin mir sicher meine Oma bemerkte es, sagte aber nie etwas. Wir haben zusammen viele Versuche mit Blintschiki, das sind russische Pfannkuchen, unternommen. Konfitüre, Honig, Quark (was man dann Blintschiki s tworogom nennt), Ahornsirup, Erdnussbutter und natürlich Kondensmilch. Es gab auch einen mißlungenen Versuch mit Leberwurst. Als Kind schlief ich oft bei meiner Oma; ich wärmte auch immer das Bett für Sie vor. Bei Ihr fühlte ich mich immer wohl. Sie war für mich da und verstand mich. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie machen soll.
Noch immer liebe ich es bei Ihr zu sein. Doch Sie ist schon alt, es strengt Sie an Besuch zu haben, darum schlafe ich nicht mehr dort. Aber so oft es geht besuche ich Sie und helfe Ihr im Haushalt. Jetzt bin ich es, die für Sie die Kondensmilch in das Wasser stellt.
Auch, wenn Ihr Körper jetzt schwach ist, in Ihren Augen sehe ich noch immer die Wärme, wenn Sie mich ansieht.
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Anmerkung von Secretgardener:

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 russische Kondensmilch
Als Geburtstagsgeschenk für Lizzy.

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Kommentare zu diesem Text

shadowhunter (28)
(06.09.08)
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 Secretgardener meinte dazu am 06.09.08:
Ich mach mich - war ich denn SO schlecht? ;)
Danke für das Kompliment; freut mich, wenn es bewegend rüberkommt. Ich hatte zuerst einen Zeit- und einen daraus resultierenden Logikfehler drin, mit den Kommata muss ich nochmal schauen.
Die Kondensmilch war ein Wunsch von Lizzy und die Oma sollte etwas wie Ihre Oma rüberkommen. Und ich habe früher bei meiner Oma das Bett vorgewärmt. ^^
Viele Grüße.
shadowhunter (28) antwortete darauf am 07.09.08:
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 Secretgardener schrieb daraufhin am 07.09.08:
Das klingt schön. =)
(Und mit Stufen höher kenne ich mich als Ableser aus ;) )
shadowhunter (28) äußerte darauf am 03.12.08:
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 Secretgardener ergänzte dazu am 03.12.08:
Ja, die Hörversion hat Sie toll hinbekommen, ganz alleine.
Ja, ihr Akzent ist toll, nur leider nur dann wirklich da, wenn sie vorliest. ^^

 Unbegabt (08.09.08)
ja, gelungen.

 Secretgardener meinte dazu am 08.09.08:
Danke.
:)
Fabiwesen (18)
(08.09.08)
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 Secretgardener meinte dazu am 08.09.08:
Vielen Dank auch.
:)
The_black_Death (31)
(14.09.08)
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 Secretgardener meinte dazu am 14.09.08:
Danke, freut mich, wenn es so persönlich rüberkommt, wie es gedacht war.
Viele Grüße zurück,
a..
Pfauenauge (49)
(07.10.08)
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 Secretgardener meinte dazu am 07.10.08:
Erstmal danke für das Lob und die beiden Empfehlungen.
Kommt es Dir denn bekannt vor wegen dem Stil, oder weil es Ähnliches bei Dir gab? Ich habe den Text auch in einem anderen Forum veröffentlicht, und da gab es nur einen Kommentar, wo drin stand, daß derjenige nicht mehr schreiben will, da es wohl ein sehr persönlicher Text ist. - Was ja nicht stimmt. Ich frug Liz, welches Thema der Text haben sollte, und sie sagte diese russische Kondensmilch. Das einzig Persönliche ist, daß die Oma (über den Onkel wollte ich eigentlich gar nicht soviel schreiben, aber es floß raus) an Lizzys angelehnt ist vom Charakter, und daß ich bei meiner Oma früher das Bett vorwärmte, der Rest ist Fiktion (die "Komi" gibt es aber).
Wie auch immer,
viele Grüße zurück, Angelo.

 Jorge (17.01.09)
man hört und spürt die russische Seele sprechen

 Secretgardener meinte dazu am 17.01.09:
Joa, danke. =)
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