Warum es laut Umberto Eco keine Vergessenskunst geben kann, was er dabei übersah und inwiefern absichtliches Vergessen doch möglich ist.

Kritik zum Thema Vergessen

von  kaltric

1. Einleitung

Umberto Eco (*1932) ist ein bekannter Semiotiker, Philosoph und Schriftsteller. Einmal erfand er eines Abends zusammen mit Freunden zum Zeitvertreib und des Spaßes halber Künste und Wissenschaften, die es aus verschiedenen Gründen nicht geben könne. Sie kamen hierbei auf die ars oblivionalis, die Vergessenskunst, als Gegenstück zur ars memoriae, der Mnemotechnik, der Gedächtniskunst. 1966 präsentierte er erstmals in einem Vortrag, warum es die ars oblivionalis nicht geben könne. Im Mai 1988 erschien dieser Vortrag als Essay, übersetzt von Marylin Migiel, im PMLA, dem Journal der Modern Language Association of America, Band 103, Nr. 3. Auf diesem Essay basierend möchte dieser Artikel Ecos Beweisführung verkürzt und auf Deutsch wiedergeben.

2. Einleitung zum Essay. 1

Eco meint, Vergessen aus Versehen ist möglich, als angewandte Technik zum schnellen und absichtlichen Vergessen jedoch nicht. Für ihn ist eigentlich nur die Frage, ob eine ars oblivionalis ein Adynata (etwas historisch nicht mögliches) oder ein Oxymononica (etwas selbst-kontradiktorisch und analytisch unmögliches) ist. Weiterhin möchte er dem Leser nur zeigen, warum die ars oblivionalis als Gegenspielerin der Mnemotechnik nicht möglich wäre. Seine Begründung für diese Vorgehensweise ist, dass eine Vergessenstechnik das Gegenteil einer Gedächtnistechnik sein müsste. Bei der Mnemotechnik verknüpft man gedanklich an ein Bild einen Inhalt, an den man sich erinnern will. Bei der ars oblivionalis könnte man sich also z.B. ein Bild vorstellen, in dem ein Mann etwas wegwirft. Doch dann würde man sich ja daran erinnern, dass man etwas vergessen will. Bei der Mnemotechnik würde x als Bild mit y als Inhalt verbunden werden und der Gedanke an x ruft dann y hervor. Wie könnte es schon möglich sein, dass der Gedanke an x y auslöscht? Neuriophysiologie kann zwar sagen, wie man vergesslich wird, doch nicht, wie man vergisst.

Die Problemstellung für Eco in diesem Artikel ist nun: 1. Inwiefern ist die Mnemotechnik Semiotik (Zeichenlehre)? 2. Warum ist Semiotik nicht geeignet, um absichtliches Vergessen zu schaffen?

3. Mnemotechnik als Semiotik2

Mnemotechnik beschreibt Eco als konnotative Semiotik, sich hierbei auf Hjelmslev berufend. X ist Symbol für y, ein mentales Ikon und damit ein Zeichen. Und Semiotik ist ja die Zeichenlehre. Mnemotechnik sei eine Art ‘kosmisches Schriftsystem’ und das Gedächtnis die ‘Syntax des Universums’. Die Mnemotechnik ist ein Apparat, der ordnet: er verknüpft Bedeutungen als ein syntaktisches System von Loci (Orten), welche Bilder enthalten, die mit einem Inhalt verknüpft sind, der intuitiv verständlich sein muss. Die Bilder können hierbei für alles mögliche stehen, die Verknüpfung zwischen x und y kann sogar völlig arbiträr (willkürlich) sein.

Die Verbindung zwischen Bild und Inhalt kann vielfältig sein. Sich auf Rossi (1960) und Rossellinus (1575) berufend, listet Eco deren mögliche Verknüpfungsarten auf. Nach Ähnlichkeit der Form (etwas rundes für etwas rundes) oder Aktion (etwas kämpfendes für einen Kampf), als Metonym für Mythe (Vulkan als Kunst des Feuers), Effekt, Ursache (Seidenraupen für Kleidung), Agens und Aktion, Agens und Ende, Autonomasia, etc. Ebenso können die Bilder selber vielfältig sein. Z.B. eine Probe (Eisen für Eisen), Metonym, Ähnlichkeit, Homonym, Autonomasia, Ironie, Kontrast, Namensähnlichkeit, Genus, Spezies, Symbol, Attribut, Hieroglyphe etc. Es kann also alles für alles stehen, die Verknüpfung und die Wahl des Symboles unterliegen lediglich persönlichen Präferenzen.

4. Semiotik als das, was etwas in die Gegenwart ruft3

Die ars oblivionalis kann keine Gedächtniskunst sein, da sie dann auch Semiotik wäre, aber sie soll ja etwas wegnehmen, wie schon gesagt. Wenn die Sprache (ein System von Zeichen) etwas erwähnt, ruft es in jeder Person, die es versteht, sofort ein Bild hervor, eine Assoziation, selbst dann, wenn die Aussage nicht wahr ist oder der besprochene Gegenstand gar nicht existiert oder existieren kann. Eco nennt dies psychische Fakten, selbst wenn es keine physischen Fakten sind. Also kann man nichts durch ein Zeichen vergessen, wenn ein Zeichen doch etwas hervorruft.

5. Möglichkeiten Vergessen zu verursachen4

Mit der Mnemotechnik bzw. Semiotik kann man höchstens den Geist verwirren, ihn letztlich sogar vergessen lassen. Der Grund hierzu ist aber nicht Subtraktion, also eine Erinnerung wegnehmen, sondern Addition. Vergessen ist nicht möglich durch einen Defekt sondern durch einen Exzess. Wenn man sich an zuviel erinnert, das ähnlich ist (z.B. ähnlich klingende Namen), kann es irgendwann zuviel sein, so dass der Geist durcheinander kommt, die Verknüpfungen sich verwirren und man am Ende nicht mehr weiß, was korrekt ist. Man erinnert sich auf diese Weise immer schlechter, bis man nicht mehr unterscheiden kann. Vergessen ist also kein Fehle, sondern eine Vervielfachung, keine Auslöschung sondern Übertreibung. Schon Agrippa (1600) warnte deshalb auch, dass die Mnemotechnik die Menschen nur wahnsinnig lassen würde.

6. Ecos Schluss5

Die ars oblivionalis ist ein Adynata, weil nicht realisierbar. Die ars oblivionalis ist auch ein Oxymoronica, weil auch eine ’semiotica oblivionalis’, ein semiotisches Vergessen, nicht möglich ist.

7. Kritik und Ergänzung

Eco scheint den Begriff ars oblivionalis sehr eng gefasst zu haben. Vermutlich zu eng. Gut, er hat gezeigt, dass sie keine Semiotik sein kann. Doch muss man sich so daran festmachen, die ars oblivionalis als Gegenspielerin der Mnemotechnik zu sehen, welche die gleichen Techniken benutzt? Ich glaube nicht. Es gibt viele Möglichkeiten zu vergessen, und wenn man den Begriff weiter fasst, findet sich auch eine Möglichkeit, ihn zu realisieren.

Harald Weinrich schilderte z.B., dass Drogen wie die der Lotophagen oder Alkohol vergessen lassen und wie Ovid zur Zeit Christi davon schrieb, wie man eine Liebe vergessen könne: sich neu verlieben. Dies würde wohl die Erinnerung an die alte Liebe überschreiben oder zumindest an damit verbundene Gefühle. Doch bot Ovid damit auch nur eine langfristige und keine kurzfristige Methode zum Vergessen.6

Für Paul Ricœur war das Verzeihen und Vergeben eine aktive Form des Vergessens, die jeder selbst ausüben kann. Doch dazu müsse man geben und nehmen und Konflikte auflösen können.7

Sigmund Freud zeigte auf, dass man zumindest unbewusst ‘absichtlich’ sehr wohl vergessen kann, so z.B. Namen, Vorsätze oder Eindrücke aus z.B. Nachsicht der betroffenen Person gegenüber.8

Sich an Freud anlehnend fragte sich auch Manfred Osten, ob nicht das Gegenteil des Vergessens ein solches auch erzeugen könne: ein verordnetes Erinnern, das zu Unlustmotiven und damit zum Vergessen führt.9 Erinnerungen, die an Orte gebunden sind, kann man vergessen, indem man diese Orte zerstört10 Letztlich zeigte er auch, dass die Neurobiologie kurz davor sei, das Gedächtnis völlig zu verstehen und es dann nur eine Frage der Zeit sei, bis es auch eine Pille für das Vergessen gäbe.11 Zwar kann man das nicht ars oblivionalis nennen, die sich auf einer Ebene mit der Mnemotechnik befindet, nämlich ohne die Zuhilfenahme von außerkörperlichen Hilfsmitteln, doch im weniger strengen Sinne ist auch dies eine Art von ‘Vergessenskunst’, und so wäre eine ars oblivionalis vielleicht doch möglich.

8. Literatur

    *      Eco, Umberto: An Ars oblivionalis? Forget it!. In: PMLA, Vol. 103, No.3, May 1988, S. 254-260
    *      Freud, Sigmund: Psychopathologie des Alltagslebens. Über Versprechen, Vergessen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. Wien 1901.
    *      Osten, Manfred: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 2004.
    *      Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen. Göttingen: Wallstein-Verlag 1998.
    *      Weinrich, Harald: Lethe - Kunst und Kritik des Vergessens. München: C.H. Beck 2000³.


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Fußnoten:

1vgl. Eco, Umberto: An Ars oblivionalis? Forget it!. In: PMLA, Vol. 103, No.3, May 1988, S. 254.

2vgl. ebd., S. 255ff.

3vgl. ebd., S. 258f.

4vgl. ebd., S. 259f.

5vgl. ebd., S. 260.

6vgl. Weinrich, Harald: Lethe - Kunst und Kritik des Vergessens. München: C.H. Beck 2000³, S. 30ff.

7vgl. Ricœur, Paul: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen. Göttingen: Wallstein-Verlag 1998.

8vgl. Freud, Sigmund: Psychopathologie des Alltagslebens. Über Versprechen, Vergessen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. Wien 1901.

9vgl. Osten, Manfred: Das geraubte Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag 2004, S. 39ff.

10vgl. ebd., S. 45ff.

11vgl. ebd., S. 92ff.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(24.05.16)
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